STEFAN GEORGE
Sieh mein kind ich gehe.
Denn du darfst nicht kennen
Nicht einmal durch nennen
Menschen müh und wehe.
Mir ist um dich bange.
Sieh mein kind ich gehe
Dass auf deiner wange
Nicht der duft verwehe.
Würde dich belehren ·
Müsste dich versehren
Und das macht mir wehe.
mein kind ich gebe
1895
In dem Aufzeichnungsband Tage und Taten (1903) hat Stefan George (1868–1933) einmal seine Poetik bündig resümiert: „Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich und Du, Hier und Dort, Einst und Jetzt nebeneinander bestehen und eines und dasselbe werden.“ Es geht ihm um die Aufhebung der Distanzen zwischen Subjekt und Objekt, die Verschmelzung der Zeiten und Räume, das Ineinanderfallen von Gegenwart und Vergangenheit. Das absolute Gedicht, das die Kunst von allen Zwecken befreit und sie allein seinen eigenen inneren Gesetzen unterwirft – es vermag dort zu überzeugen, wo auch die Sprache allein der Evokation sinnlicher Präsenz dient.
Das faszinierend Schwerelose dieser Zeilen aus dem schmalen Zyklus „Sänge eines fahrenden Spielmanns“ (in den Hirten- und Preisgedichten von 1895) hat George später nur noch selten erreicht. Das Gedicht mit seiner einfachen liedhaften Form ist wohl zu der Zeit entstanden, als George von seiner Muse Ida Coblentz abgewiesen wurde. Das einer kindhaften Frau gewidmete Lied handelt von den großen Themen, die in Georges Lyrik immer wiederkehren: Abschied, Trennung, Einsamkeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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