YVAN GOLL
Schlaf krankes Kind:
Ich will die Drehung der Erde aufhalten
Des Monds Zahnräder ölen
Die rostig sind von deinen Tränen
Ich will den asthmatischen Wind erwürgen
Der ganz Europa aufweckt…
Damit du schlafen kannst
Will ich die Trambahnschienen wattieren
Den Regen in Schnee verwandeln
Und jeden Morgen die Amseln morden
Deren Gesang dein Rehherz ritzen könnte:
Damit du schlafen kannst
1925
aus: Yvan Goll: Die Lyrik. 4 Bände. Hrsg. v. B. Glauert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 1996
Über den literaturhistorischen Rang des deutsch-französischen Dichters Yvan Goll (1891–1950) darf gestritten werden. In der berühmten expressionistischen Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) firmiert er noch als Erfinder des „Überrealismus“, der dann in Frankreich als „Surrealismus“ reüssierte. Einigen unserer Gegenwartsdichter gilt er dagegen lediglich als Sekundär-Dichter, der immer nur zu spät kam und die revolutionären Impulse anderer adoptierte: als verspäteter Expressionist, Surrealist und Endzeitdandy.
Wie auch immer Golls avantgardistisches Selbstbild bewertet werden mag: Einige seiner Gedichte sind beflügelt von einem metaphorischem Übermut und einer kühnen Bildphantasie, die das konventionelle Repertoire seiner lyrischen Zeitgenossen weit übersteigt. Sein modernes Wiegenlied, in der das Ich die physikalischen Gesetze der Erde außer Kraft setzen will, um das kranke Kind zu schützen, ist dem gemeinsam mit seiner Frau Claire Goll verfassten (und von ihm selbst übersetzten) Band Poèmes d’Amour (1925) entnommen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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