Michael Braun: Zu Johann Lippets Gedicht „Vorkommnisse (8)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johann Lippets Gedicht „Vorkommnisse (8)“ aus Johann Lippet: Kopfzeile, Fußzeile –

 

 

 

 

JOHANN LIPPET

Vorkommnisse (8)

Gestern, als ich vor dem Schlafengehen, kurz vor Mitternacht,
noch einmal in mein Arbeitszimmer ging, um nachzuschlagen,
ich kriegte Eichendorffs Mondnacht nicht mehr auf die Reihe,
als flöge sie nach Haus oder als fliege sie nach Haus,
war ich mir nicht mehr sicher, stieg mir jener Geruch
in die Nase, der noch tagelang zu Hause in dem Zimmer
in der Luft lag, in dem Vater aufgebahrt gewesen war,
45 Jahre ist das her.
An Geister glaubte ich nicht, feite mich aber gegen Alpträume:
sagte mir in Bett in Gedanken so oft Mondnacht auf,
bis ich hinüberdämmerte, flog nach Haus.

 

Der romantische Traum,

dass sich Himmel und Erde in einem Kuss vereinigen könnten, als Auftakt zum freien Flug der Seele in ein imaginäres Zuhause, hat in den jüngsten Gedichten des rumäniendeutschen Dichters Johann Lippet keinen Ort mehr. Eichendorffs „Mondnacht“ ist in der Bildwelt des Schlaflosen keine Dauer mehr beschieden, sie ist endgültig erloschen und nicht mehr restaurierbar. Lippets lyrisches Ich versteht sich meist als Protokollant der Erinnerungen an eine untergegangene Herkunftswelt – und selbst diese Erinnerung ist nun gefährdet. 1951 im österreichischen Wels geboren, ist Johann Lippet im Banat aufgewachsen, wo er einige Jahre auch als Dramaturg arbeitete, bis er 1987 unter dem Repressionsdruck des Ceauşescu- Regimes in die Bundesrepublik übersiedelte. In seinen Romanen und Gedichten kartografierte er die Lebens- und Geschichtsräume einer Banater Heimat und entwarf eine kollektive Biografie einer entwurzelten Generation. Das Ich des achtzehnteiligen Gedichtzyklus „Vorkommnisse“ hat nun jeglichen Halt verloren; selbst die vertrauten Zeilen Eichendorffs drohen zu entgleiten. Einzig das ständige Memorieren der „Mondnacht“ scheint zu helfen, ermöglicht dann doch den Flug der Seele in ein fernes Zuhause, wo einst der Großvater starb. Es ist eine große Einsamkeit in diesen Gedichten, ein melancholischer Traum vom Verdämmern in einer Stille, die kein Erwachen mehr vorsieht.

Michael Braun, Volltext, Heft 1/2017

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