Nikolai Sabolozki: Gesicht im buckligen Spiegel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Nikolai Sabolozki: Gesicht im buckligen Spiegel

Sabolozki-Gesicht im buckligen Spiegel

ABSCHIED VON DEN FREUNDEN

In breitrandigen Hüten, langen Jacken
Mit den Schreibheften voller Reime
Seid ihr schon lange zu Staub zerfallen
Wie abgerissene Fliederzweige.

Ihr seid im Lande der freien Form
Wo alles getrennt ist, vermengt, zerkleinert
Wo der Himmel sich wölbt: grabhügelhoch
Der Mond auf der Stelle tretend scheint.

In einer anderen, unhörbaren Sprache
Singt dort ein Sowjet stummer Insekten.
Und es begrüßt, in der Hand die Laterne
Der Käfermensch die geladenen Gäste.

Habt ihr nun Ruhe, meine Kameraden?
Habt ihr es leicht? Und alles vergessen?
Seufzer und Wurzeln sind jetzt eure Kumpane
Ameisen, Grashalme, zerstiebende Fetzen.

Nelkenblüten sind jetzt eure Schwestern
Küken, Späne, Brustwarzen des Flieders.
Vergeßliche Zungen, könnt nicht mehr flüstern
Den Namen des oben gebliebenen Bruders.

Er wohnt noch nicht in jenen Landen
In die ihr entschwandet, schattenleichte
In breitrandigen Hüten, langen Jacken
Mit den Schreibheften voller Reime.

1952

Übersetzung Richard Pietraß

 

 

 

Dichterische Biographie

In seinem Gedicht „Metamorphosen“ schreibt Nikolai Sabolozki:

O wieviel verendete Körper
Stieß ab ich vom eigenen Leib!

Diese Zeilen treffen einen Wesenszug des Dichters. Zu Recht hat man sie als Selbstaussage über Sabolozkis Wandlungsfähigkeit gedeutet. Der Dichter leibt und lebt in seiner Dichtung immer wieder auf andere Weise. Das gilt für die dichterische Vielfalt, vor allem aber für die Kraft, seinen Hauptgegenstand immer wieder neu zu durchdenken, einmal Gedachtes zu verwerfen, neu anzusetzen und wieder sorgfältig zu prüfen. Sabolozkis Schaffen hat verschiedene Ausprägung – Grotesken über menschliches Verhalten zur NÖP-Zeit in den zwanziger Jahren, psychologische Dichtung über den Menschen des Alltags in den fünfziger Jahren, historische Poeme bzw. Entwürfe zu solchen zur gleichen Zeit und – Naturlyrik, angefangen von Sabolozkis erstem Gedichtband (1929) bis zum Jahre seines Todes 1958. Jedesmal meisterte Sabolozki die Gesetze der jeweiligen Dichtungsart. Im ganzen Schaffen durchdringt jedoch ein poetischer „Körper“ den anderen:

Die Welt, wie sie sich wandelt! wie ich mich ändre!

Dank Sabolozkis Entwicklung hat sich in der sowjetischen Literaturgeschichte die Ansicht durchgesetzt, daß der Dichter ein Naturlyriker war. Diese Meinung ergibt sich vor allem bei der Suche nach den ideell-poetischen Zusammenhängen aller Teile seines Werkes. Die Naturlyrik Sabolozkis ist Dichtung mit philosophischer Problematik. In dieser Weise ist sie mit der Geschichte verbunden und mit dem Bild vom Menschen in einer Zeit der Wissenschaft und Technik. Denn in dieser Zeit tritt auch im Sozialismus bei zunehmender Leistungssteigerung eine Fülle von Problemen im Verhältnis Mensch – Natur auf.
Von „zwei Welten“, die den Menschen formen und die er formt, spricht der Dichter kurz vor seinem Tode in dem Gedicht „Abenddämmerung“. Aber ungeachtet dessen, daß Sabolozki den Gedanken von der Zugehörigkeit des Menschen zur Welt der Natur und der der Kultur sowie deren Unterscheidung erst gegen Lebensende in Worte faßt, durchdringt dieser Gedanke sein dichterisches Schaffen im Prinzip bereits von den zwanziger Jahren an. „Metamorphosen“ des Menschen mit der Natur in diesem philosophischen Sinne und die Auseinandersetzung mit früheren philosophischen Ansichten dazu sind ein Leitfaden in Sabolozkis Dichtung. Das Metamorphosenmotiv dient nicht nur persönlichem Bekenntnis, sondern auch ideengeschichtlichen Reflexionen. Mit seiner philosophischen Betrachtung des Verhältnisses Mensch – Natur nimmt Sabolozki Stellung zur revolutionären Umgestaltung der Wirklichkeit. Er tritt in seiner Lyrik als Denker hervor, der, rückschauend auf vergangene Zeiträume, Erkenntnisse dieses 20. Jahrhunderts in ihrer Bedeutung für die Menschheit wertet. Er wurde mit seiner Dichtung zu einem Anwalt der Menschheit bei ihrer Erkenntnissuche. Weniamin Kawerin legt Wert auf diesen Charakter des Dichters als Geistesschaffenden, wenn er über Nikolai Sabolozki schreibt:

Die Zeit, das Volk erheben die Forderung, daß der Dichter ein Antlitz hat, einen Charakter als Dichter, erwarten seine Stellungnahme im Leben und in der Literatur, jene Stellungnahme, die auf keine andere Weise ersetzt werden kann und die ebenso stark und eigen sein muß wie die dichterische Stimme selbst. Die Lektüre eines echten, tiefen Poeten vermittelt immer die Empfindung seiner Persönlichkeit, seiner Biographie als Dichter.

Die Komponente „Zeit“ in der „dichterischen Biographie“ Sabolozkis war die sowjetische Wirklichkeit der ersten Jahre nach der Revolution bis fast an die sechziger Jahre heran. Sabolozkis Lebensdaten umspannen etwa ein halbes Jahrhundert – 1903 bis 1958. Literarisch gesehen, war es die Zeit der Avantgarde und der Herausbildung des sozialistischen Realismus. Geboren auf einer Landwirtschaftsfarm bei Kasan, beteiligte sich Sabolozki als Leningrader Philologiestudent (1921–1925) an den literarischen Debatten. Er war Mitglied einer „linken“ Gruppe, die nach 1927 OBEREU genannt wurde – „Vereinigung der realen Kunst“. Vor diesem Hintergrund vollzog sich Nikolai Sabolozkis literarische Entwicklung. Eine Verhaftung aufgrund einer Denunziation 1938 bedeutete einen Einschnitt in seinem Schaffen. Das Urteil wurde 1951 gerichtlich aufgehoben. Seine dichterische Arbeit hat Sabolozki nie abgebrochen. Er betrachtete sein Leben als Dienst an der Poesie, ob als Nachdichter oder im originären Schaffen. Außer seinem eigenen Werk hat Sabolozki ein umfangreiches Übersetzungsschaffen hinterlassen – Rabelais, De Coster, das Igorlied, den Recken im Tigerfell und viele Bände georgischer Poesie.
Seine ästhetische Position charakterisiert Sabolozki im Jahre 1958 folgendermaßen:

Ein Gedicht ähnelt einem Menschen – es hat ein Gesicht, einen Verstand und ein Herz. Ist ein Mensch kein Unzivilisierter und kein Dummer, dann ist sein Gesicht immer mehr oder minder ruhig. So muß auch das Gesicht eines Gedichts sein. Ein kluger Leser sieht unter der Hautschicht äußerer Ruhe sehr genau das Wechselspiel von Verstand und Herz. Ich rechne mit einem klugen Leser. Familiär mit ihm umgehen mag ich nicht.

Sabolozki war nie der „Held seiner Lyrik“, wie es manchmal von Dichtern heißt, deren Schaffen als Ausdruck des Ich angelegt ist. Sein Inneres hat dieser Dichter nie in seinen Versen zur Schau gestellt. Sabolozki war weder Tribünenorator, noch beschränkte er sich darauf, Geschautes unreflektiert zu besingen. Seine Gedichte haben ein verhaltenes und nichtsdestoweniger energisches Temperament. Der Dichter zeigt die Widersprüche von Lebenserscheinungen im Prozeß ihrer Entstehung, ihrer Zuspitzung und ihres Kampfes. Die Schlachten der Gräser und auf anderer Ebene die Tragik Larissas in „Lodejnikow“ oder der Todeskampf des Flusses in „Winters Anfang“ sind inhaltlich genauso dramatisch wie der Kampf des Menschen mit dem ungebändigten Steppenwind in „Stadt in der Steppe“ oder die Welt der menschlichen Gefühle in „Wacholderstrauch“. In den Gedichten Sabolozkis pulsieren Lebenserscheinungen voller Dynamik, brechen tragische Abgründe auf, triumphiert aber auch heller Jubel. Sabolozkis Gedichte bleiben bei jeder Gefühlsäußerung konkret, bei jedem Gedanken plastisch. 

Natur des Menschen – Natur für den Menschen
Sabolozkis Gesamtschaffen ist der Suche nach dem Wesen des Menschen und dem Wert alles Lebenden gewidmet. Innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit beschäftigt ihn vor allem die umfassende Problematik des Gesellschaftsfortschritts. In seinem Werk vollzieht Sabolozki ständig gedankliche Wandlungen, „Metamorphosen“. Im Zentrum stehen die seiner Ansichten zum Verhältnis Natur – Mensch.
Zur Einsicht in gesellschaftliche Lebensäußerungen des Menschen gelangt Sabolozki von der Sicht der Natur her, über die Betrachtung allgemeiner dialektischer Zusammenhänge. Den Menschen, selbst ein Naturprodukt, sieht er immer in Beziehung zur Naturgeschichte als Ganzem. Der Natur erkennt er vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren Gedanklichkeit und Beseeltheit zu. Das ist aber nicht mit der herkömmlichen Vermenschlichung der Natur in Kunstdichtung und Folklore oder totemistischen Vorstellungen identisch. Sabolozkis Darstellung ist auch gegen pantheistische Ansichten abgegrenzt, denn die Natur gilt ihm als Partner des Menschen. Auf dieser Grundlage poetisiert er sie.
Als sein Wertkriterium für die soziale Bewährung des Menschen und für sein Verhältnis zur Naturgeschichte als Ganzem betrachtet der Dichter seit Beginn seines Schaffens die Revolution. Sie ist für ihn das sozialökonomische, ganz konkrete Ereignis, das den Lebensalltag um und um wendet. Er begreift die Revolution aber auch philosophisch als Umwälzung in der Menschheitsgeschichte. Durch sie wird die Aufgabe der Gattung Mensch im naturgeschichtlichen Prozeß neu bestimmt. Dank der Revolution werden die verschiedenen Arten der Entfremdung des Menschen im Prinzip aufgehoben, also auch die des Menschen von der Natur. Die Grundtendenz von Sabolozkis Schaffen berührt sich mit der marxistischen Philosophie. In seinen „Philosophisch-ökonomischen Manuskripten“ nennt Marx die Geschichte mit ihren Gesellschaftsformationen einen „wirklichen Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen“. In dieser Richtung betrachtet auch Sabolozki die Entwicklung im Universum. Die soziale Problematik bleibt für ihn immer mit der Naturgeschichte verbunden. Er faßt die Beziehung zur Natur in erster Linie als Erkenntnisproblematik auf.
Allerdings verwendet Sabolozki gegen Ende seines Schaffens Naturbilder anders als zu Beginn. In den Jahren um 1950 dient ihm die Natur vorwiegend als Hilfsmittel bei der Menschengestaltung („Die Kraniche“, 1948, „Einsame Eiche“, 1957, „Die Schwalbe“, 1958). Diesen Verlust in einzelnen Gedichten scheint Sabolozki selbst bemerkt zu haben, denn in dem Gedicht „Abenddämmerung“ räumt er den „zwei Welten“ des Menschen wieder gleiches Recht ein. Der Geschichte nähert sich Sabolozki in den zwanziger Jahren von der Natur her. Er schaut auf sie von der Warte allgemeiner Bewegungs- und Entwicklungsgesetze, obwohl die Revolution unbestreitbar gesellschaftliche Ursachen hat. In den zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre erscheint ihm die Revolution wie eine „Metamorphose“ des Menschen vom Arbeitstier zum schöpferischen Menschen. Auch die „ausgebeutete“ Natur wird dank der Revolution zum Partner des Menschen. Besonders kommt das im Parallelismus Mensch – Tier des Poems „Triumph des Ackerbaus“ zum Ausdruck. In Sabolozkis Dichtung vollzieht die denkende Materie Mensch einen qualitativen Sprung und schafft sich neue Lebensbedingungen. Sein Poem „Triumph des Ackerbaus“ widmet der Dichter vor allem der Frage, welche Rolle die Gattung Mensch bei der Machtergreifung über ihre naturhafte Existenzgrundlage spielt. W. Kawerin vergleicht dieses Poem seiner dichterischen Gestaltung nach mit Goethes Faust. In dem Sammelband Spalten zeigt Sabolozki, daß der „Spießer“ der NÖP-Zeit hinter den Erfordernissen der Revolution zurücksteht und gesellschaftliches Fehlverhalten an den Tag legt. Er sucht nur physisch zu überleben in der neuen gesellschaftlichen Situation, die ihm wie ein Naturereignis erscheint, dem man sich anpassen muß. Aber es fehlt ihm jede Bewußtheit. Das Tierische im Menschen überwiegt in Sabolozkis Darstellung. Indem der Dichter das negative gesellschaftliche Verhalten zeigt, erkennt der Leser heute, daß Sabolozki damit die Veränderung der geistigen Natur des Menschen, seiner Ideologie forderte. Aber nicht er, sondern andere Dichter haben in den zwanziger Jahren den neuen Menschen und die neue Organisation des menschlichen Lebens durch die Revolution zum Hauptinhalt ihrer Dichtung gemacht. Sabolozki betrachtete die Bewältigung des Alltags der ersten Revolutionsjahre und ökonomische und soziale Zusammenhänge als ethischer Maximalist. Da er sich der grotesken Darstellung mit großer Meisterschaft, aber auch mit allen Konsequenzen der geißelnden Übertreibung bediente, nahm die Literaturkritik der zwanziger Jahre den Abstand zwischen dieser Darstellung und dem Ernst der konkreten ökonomischen Tagesaufgaben verschärft wahr. Die Spalten und das Poem „Triumph des Ackerbaus“ (1929–1930) wurden nicht entsprechend ihrer Spezifik bewertet, sondern im Hinblick auf die Wirkung der Dichtung zur Entstehungszeit verurteilt. Die Naturdichtung der dreißiger und vierziger Jahre kehrt das Wesen Sabolozkis als Denker hervor. Aber in bezug auf die poetische Entwicklung nahm mit diesem Gedichtband Spalten Sabolozkis analytische Sicht auf die Dinge und Erscheinungen des Lebens genauso ihren Anfang wie seine plastische Gestaltungsweise. In den Spalten liegt die Beziehung Sabolozkis zu Methoden der Malerei offen zutage. Zu Filonow und Chagall, Rousseau und Pirosmanaschwili, in seinem späteren Schaffen zu Breughel und Rokotow. W. Alfonsow hat darauf aufmerksam gemacht. Sabolozki nimmt in den Spalten das Recht eines Künstlers auf die Veränderung der wirklichen Größenordnungen von Menschen und Dingen in Anspruch – zum Zweck seiner grotesken Übertreibung. Zwar distanziert er sich vom Geschehen im Gedicht nicht dadurch, daß er ein lyrisches Ich einschaltet. Aber schon der Rhythmus und der Reim mit ihrer Regelmäßigkeit und Schein-Ernsthaftigkeit verhöhnen die dargestellte Lust des Spießers der NÖP-Zeit am Mißbrauch geschaffener Werte. Die Bildhaftigkeit, die zum Rhythmus in Widerspruch steht, ist so brillant-üppig, daß auch sie karikierend wirkt.
Seit der Wende zu den dreißiger Jahren erörtert Sabolozki in seinen Gedichten das Verhältnis des Menschen zur Natur als Materie. Er beleuchtet die emotionale und geistige Beziehung des Menschen seiner gesellschaftlichen Epoche zu den Erscheinungsformen der Natur und zu sich selbst, dem „Subjekt“ der Naturveränderung. In dieser Zeit ist der Dichter vom Enthusiasmus sogenannter „Naturbezwingung“ erfüllt. Im Zusammenhang mit der Aufhebung jeglicher Art von Entfremdung inspiriert ihn Engels’ Gedanke: die „widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib“ müsse aufgehoben werden. Sabolozki orientiert sich auf die menschheitsgeschichtliche Perspektive. Er gestaltet seine Poeme als Lehrgedichte. In „Schule der Käfer“, „Die Bäume“ und „Triumph des Ackerbaus“ setzt er den Akzent auf die Bedeutung der Natur für die menschliche Kultur. Diese Poeme haben philosophisch-utopischen Charakter. Die Natur ist Gegenstand zur Selbsterkenntnis der Gattung Mensch und ist es wert, daß der Mensch ihr Opfer bringt. Sie erscheint als weise, erfahrene Einrichtung voller Verstand. So gewinnt sie den Rang, Muster für die Menschenwelt zu sein. Der Dichter beschäftigt sich mit der Frage, wie Erfahrungen, die die Natur in sich anreichert, in die menschliche Lebensweise einbezogen werden können. Später nimmt Sabolozkis Darstellung des Partners Natur andere Schattierungen an, denn der Mensch wird seit der Mitte der dreißiger Jahre zum einzigen Schöpfer erklärt. Ähnlich Ziolkowski, mit dem Sabolozki korrespondierte, spricht auch er von Vervollkommnung der Natur. Diese Vervollkommnung sei sowohl durch Selbstentwicklung möglich als auch durch das Eingreifen des Menschen. Für Sabolozki ist es keine Pflichtübung, sondern Angelegenheit innerer Überzeugung, in den dreißiger Jahren die Veränderung der Natur durch den Menschen zu preisen. Er gestaltet den Vorgang in der Weise, daß die Natur kultiviert wird, so in „Bekränzung mit Früchten“ (1932), „Norden“ (1936) oder „Sedow“ (1936) und „Ural“ (1936). Der überschäumende Optimismus von „Bekränzung mit Früchten“, einer Dichtung, in der ein Zeitsprung von der biblischen Menschheitsdarstellung bis in die Gegenwart vorgenommen wird, tritt jedoch später zurück. Die sowjetische Wirklichkeit der Naturveränderung offenbart im Laufe der Jahrzehnte ihre Kompliziertheit, und Sabolozki übersieht das nicht. Nicht mehr „Bezwingung“, nicht mehr ein Eigentümerverhältnis, sondern „Anpassung“ ist gemeint.
In den vierziger Jahren spricht der Dichter von den unaufhörlichen Widersprüchen zwischen Mensch und Natur bei dem Bemühen um die Naturveränderung nach menschlichem Ermessen. So gestaltet er in „Stadt in der Steppe“ (1947) die Nutzung der Naturreichtümer als große Errungenschaft, getragen von weitsichtigem menschlichem Geist, symbolisiert in Lenin. Mitten in diesem Triumph erscheint die Natur als tragisches Element. Das Tragische wird verkörpert in dem Kamel, das Jahrtausende Naturgeschichte in sich trägt, und in dem Steppenwind, der keine Normen kennt, der dem Menschen die Eigengesetzlichkeit der Natur signalisiert. Bis an sein Lebensende hält Sabolozki diese Ansicht von der Eigengesetzlichkeit der Natur gegenüber dem Menschen – selbst einem Naturwesen – wach.
Sabolozkis Beziehung zu den Nachbarkünsten hat sich auch im Laufe der Zeit gewandelt. Die Musik spielt in seinem Leben und in seiner Kunst eine immer größere Rolle. Außer Methoden der Malerei ist seinen Gedichten ein symphonischer Aufbau eigen. Auch das ist in der Literatur über den Dichter bereits bemerkt worden.
Die Gedichte der vierziger Jahre werten die Kultivierung der Natur auch als Geschichtsleistung der Menschheit. Der Mensch löst ständig den dialektischen Widerspruch zwischen der Natur und sich selbst zu seinen Gunsten. Diese Sicht wird in „Schöpfer der Wege“ (1947), „Ural“ (1947), „Chramges“ (1947) und anderen offenbar. Eine programmatische Rolle dabei nimmt das Gedicht ein „Ich such nicht Harmonie in der Natur“ (1947). Sabolozki hat es seiner Gedichtsammlung von 1947 vorangestellt. Entscheidende Bedeutung hat hier, daß der Unterschied zwischen der ursprünglichen und der umgewandelten Natur, mehr noch zwischen dem Menschen und der Natur hervorgehoben wird. Das markiert in Sabolozkis Schaffen eine Wende gegenüber früheren Jahren. Zwar braucht er frühere Positionen nicht zurückzunehmen, gewinnt jetzt aber neue Möglichkeiten, die „Natur“ des Menschen unter einer umfassenden humanistischen Konzeption zu betrachten.
In der Literatur über Sabolozki wird seine ethische Haltung oft mit der Platonows und Prischwins verglichen. Er legt den Akzent darauf, welche Rolle die Ethik für die Arbeit des Menschen spielt, wenn er seine Ordnung in die Ordnung der Natur hineinträgt und wenn er seine eigenen Gesetze hervorbringt. Bezeichnend dafür ist das Gedicht „Beethoven“.
Das Wesen des Menschen als „menschlichen“ Menschen (im Unterschied zu den Spalten) beschäftigt Sabolozki seit den vierziger Jahren. In seiner Dichtung vom Verhältnis Natur – Mensch hat nun der sterbliche, Freuden wie Leiden ausgesetzte Mensch Oberhand gewonnen. Dies ist eine Dichtung mit historischer Thematik. Auch diesmal gibt Sabolozki – wie in den zwanziger Jahren – kein umfassendes Epochenbild. Aber der Mensch in seinem Gedicht ist ein starker, „erdgebundener“ Charakter aus dem historischen Alltag. In „Die Boten“ und „Große Wäsche“ zeigt der Dichter die moralische Größe des Volkes. Zahlreiche Porträts wie „Die Gattin“ (1948), „Im Kino“ (1954), „Die alte Schauspielerin“ (1956) und andere sind feinsinnig psychologisch gestaltet. Pawel Antokolski spricht vom „bewegten Porträt, das in sich die Biographie des dargestellten Helden einschließt, nicht nur ihre Vergangenheit, sondern auch ihre Zukunft“. Besonders hervorzuheben ist der Zyklus „Letzte Liebe“ (1956–1957), in dem Tragik und Größe mit Lebensbejahung und Schönheit gepaart sind. „Die Feinsinnigkeit, mit der Sabolozki georgische Dichter übertrug“, äußert W. Kawerin, „die Genauigkeit, die er in den Gedichten über die Natur erlangte, das gierige, unbezähmbare Streben nach Wahrheit, das seinen gesamten Weg als Dichter überstrahlt – alles das verflocht sich im Zyklus ,Letzte Liebe‘. Fast jedes Gedicht bedeutet eine Entdeckung für die Lyrik Sabolozkis, und solche wie ,Die Disteln‘ und ,Der Wacholderstrauch‘ für die russische Lyrik des 20. Jahrhunderts.“

Metamorphosen
Das Metamorphosenmotiv spielt eine spezifische Rolle bei Sabolozkis Suche nach dem Wesen des Menschen und dem Wert alles Lebenden.
Was bedeutet der sterbliche Mensch in Anbetracht der ewigen, unvergänglichen Materie? Läuft solch eine Frage auf eine ästhetisch-weltanschauliche Wertung hinaus, so meint der Dichter doch auch die ganz persönliche Sorge: Was wird mit mir nach meinem Tod? Die erkenntnissuchende Ergänzung wird hörbar: Wie entwickelt sich das Leben in Jahrtausenden nach meinem Tod? Was war vor mir, was wird nach mir sein?
Im engeren Sinne stellt der Dichter die Frage nach der Unsterblichkeit. „Unsterblichkeit“ war der ursprüngliche Titel des Gedichts „Metamorphosen“. Im weiteren Sinne zeigt Sabolozki mit Hilfe der Darstellung ewiger Wandlungen die Beziehung zwischen „Lebendem“ und „Totem“. Darauf hat W. Ognew hingewiesen. Das Metamorphosenmotiv ist der zentrale „Nerv“ von Sabolozkis Wahrnehmung der dialektischen Widersprüche des Seins. Gedichte aus allen Schaffenszeiträumen offenbaren dieses zutiefst individuelle Gespür des Dichters für die Widersprüchlichkeit und gleichzeitige Bewegung alles Existierenden: „Die Vögel“, „Winters Anfang“ und „Lodejnikow“ nicht weniger als all jene, in denen das Motiv als zentrales Bild auftritt: „Versuchung“, „Vermächtnis“, „Gestern, über den Tod reflektierend“ und ganz besonders „Metamorphosen“.
Sabolozki bedient sich für das Metamorphosenmotiv mythologischer und folkloristischer Traditionen. Vor allem aber setzt er sich vom Standpunkt des 20. Jahrhunderts mit philosophischen und literarischen Ideen vergangener Zeiträume auseinander. Von modernen wissenschaftlichen Positionen aus verarbeitet er materialistisches und pantheistisches Gedankengut des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Schriften Skoworodas, Tjutschews Lyrik und die Dichtung wie auch die Philosophie Goethes bilden den vergangenheitsgeschichtlichen Hintergrund für Sabolozkis Motiv. Engels’ Überzeugung, daß der Mensch in seiner physischen Gestalt untergehen, aber Leben im All wiederentstehen wird, bedeutet für Sabolozkis Erörterungen einen wesentlichen Impuls. Genauso wichtig war für ihn auch Ziolkowskis Gedanke, daß die Erde nur die Wiege der Menschheit sei, die Zukunft des Menschen aber auf anderen Planeten liege. In bezug auf die Unsterblichkeit sprach Ziolkowski davon, daß ein lebendes Wesen nach seinem Ableben zwar in die unbelebte Materie eingehe, daß es aber nach Billionen Jahren neu aufleben werde. Auch aus Einsteins und Wernadskis Schaffen bezog Sabolozki für seine Überlegungen Unterstützung. Sabolozki war von den Problemen der sowjetischen Naturumgestaltung gedanklich und emotional zutiefst berührt. Damit hängt zusammen, daß Naturwissenschaft und philosophische Reflexionen darüber einen wesentlichen Teil seiner Lebens- und ästhetischen Werte ausmachen. Sie fallen bei ihm auf den fruchtbaren Boden eigener Überlegungen.
Besonders das Gedicht „Ich such nicht Harmonie in der Natur“ belegt die geistige Auseinandersetzung. Im Unterschied zu eigenem früherem Schaffen und in Abgrenzung gegen Tjutschew nennt Sabolozki die Natur jetzt eine unfruchtbare Schöpfungskraft, die nutzlose Mühen vollbringt. Zwar bleibt die Natur die liebende Mutter, aber ohne ihren Menschensohn ist sie blind. Sie ist ohne Bewußtheit – Gut und Böse vermag sie nicht zu scheiden. Und dieser ganze hirnlose Klump ist das „Urbild“ für die Schattenseiten des Menschseins. Sabolozki verabschiedet in diesem Gedicht von 1947 geistig den Glauben an ein Urbild des Menschseins in der Natur, wie es der Pantheismus kannte. Tjutschews „Abgrund“-Motiv (russisch: besdna) greift er bewußt auf, verbannt es aber aus dem Reich „vernünftiger“ Arbeit. Der Natur läßt er die Möglichkeit zur Vervollkommnung offen, „um einst das Licht zu sehen mit dem Sohn“ – dem vernunftbegabten Menschen. Unausgesprochen wirkt hier der Mensch gegenüber seiner „Mutter“ Natur als ihr „Hirn“. In dem Gedicht „Beethoven“ betont der Dichter dann das ethische Vermögen des Menschen, „Gut“ und „Böse“ zu scheiden. Sabolozkis Metamorphosenmotiv besagt, daß der Mensch wohl eingeschlossen ist in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, Schöpfung und Tötung, Leben und Tod. Aber schon in dem Gedicht „Beethoven“ urteilt der Dichter, daß „Schöpfung“ für den Menschen nicht „Tötung“ voraussetzt. In Sabolozkis Metamorphosenmotiv stehen die Herkunft des Menschen aus der Natur und seine Eigenständigkeit ihr gegenüber in Wechselbeziehung. Aber auf soziale Weise und damit anders als in den pantheistischen Metamorphosen vergangener Jahrhunderte.
Das Bild der Metamorphosen ist bei Sabolozki ein ganz individueller Ausdruck für die Darstellung der Welt in der dynamischen Einheit ihrer widersprüchlichen Seiten. Indem der Dichter das Prinzip erfaßt, kann er sich über die Einzelheiten wirklicher Naturvorgänge hinwegsetzen. Er gestaltet das Wesentliche – den Kreislauf des Werdens und Vergehens der Formen von belebter und unbelebter Materie. So kann er die Zuversicht bekunden, daß das Leben, aber auch der Mensch selbst im All unsterblich ist. Wirklichkeit ersteht in der Poesie Sabolozkis wieder, aber in der Qualität von „Poesie der Wirklichkeit“. In seiner Dichtung gibt Sabolozki dem Spiel der Gedanken freien Raum. Er errichtet einen Schwebezustand zwischen wissenschaftlich orientiertem Erkenntnisstreben und weltbildentwerfender Phantasie, der spezifisch poetisch ist. Sein Gedicht „Metamorphosen“ (1956) besitzt den Charakter eines kulturoptimistischen Programms. Das Nachdenken über Leben und Tod hat hier eine nur Sabolozki eigene Gestalt gewonnen. Andere Dichter haben anders auf dieses Problem reagiert – etwa durch die Forderung nach Gedenken an die Toten eines Krieges oder die Idee vom Weiterleben der Toten im Bewußtsein der Lebenden. Sabolozki wandelt seinen Gram um den Verlust eines menschlichen Lebens in eine trostspendende Vision um. Er verheißt das Leben überdauernde Existenz – dem einzelnen und der Menschheit. Unsterblichkeit ermöglicht ein Erleben der Welt auch nach dem Tode des Menschen mit immer anderen Augen und Organen der Wahrnehmung. Das Grauen vor Zersetzung, Zerfall, Erlöschen zu einem Nichts wird umgewandelt in eine von Wissen gespeiste Vision.

Analyse und Belehrung
Von den Spalten sagte Sabolozki 1936: Sie lehrten ihn, „die äußere Welt genau zu beobachten“, weckten in ihm „das Interesse für die Dinge“ und entwickelten seine „Fähigkeit, die Erscheinungen plastisch darzustellen“. In den Naturgedichten wie in den Gedichten über Menschen geht Sabolozki von der Wahrnehmung der Widersprüche aus, die sein dichterischer Gegenstand hat, und schreitet dann fort zur Reflexion darüber. W. Alfonsow formuliert treffend die Eigenart des künstlerischen Weges Sabolozkis. Dabei geht er in bezug auf die Naturlyrik von Tjutschew, ihrem ausgeprägtesten Vertreter, aus:

Zum Rätsel des Seins im All dringt der Dichter häufig nicht vom Selbstbewußtsein eines ausgeprägten menschlichen ,Ich‘ (Prinzip Tjutschews) vor, sondern vom Bild der Welt, das durch analytische, in gewissem Grade durch wissenschaftliche Kenntnisse charakterisiert ist.

In den zwanziger Jahren nennt Sabolozki sein Vorgehen eine Methode der materialistischen Wahrnehmung des Gegenstandes und spricht dabei für die Gruppe OBEREU, der er angehörte. Er erklärte:

Mensch der konkreten Welt, des Gegenstandes und des Wortes sein – in dieser Richtung sehen wir unsere gesellschaftliche Bedeutung.

Er forderte, die Welt mit der Arbeitsbewegung der Hände zu reinigen, den Gegenstand vom Schmutz althergebrachter verfallener Kulturen zu säubern. Als Gegner der naturalistischen Kunst und der Kunst des Kunstwortes (Sa-um) bestimmte er die Position:

In unserem Schaffen erweitern und vertiefen wir den Sinn des Gegenstandes und des Wortes, zerstören ihn aber keinesfalls. Der konkrete Gegenstand, der von der Hülle des literarischen und des Alltagsgebrauchs abgeschält ist, wird zur Fundgrube der Kunst.

Im Zusammenhang mit Sabolozkis Beziehung zur naiven Malerei gesehen, entspricht diese Forderung des Dichters einer Beobachtung von W. Kawerin an Sabolozkis Schaffen. Nicht Infantilismus oder Primitivität, sondern der „Blick des Kindes“ sei dem Dichter eigen – die Fähigkeit, die Welt wie neugeschaffen im Vers zu entdecken. Von den zwanziger Jahren an fordert Sabolozki entsprechend seinem Programm dem Wort Körperlichkeit ab. In seinem reifen Schaffen nennt er einen Künstler nur den, der „von den Dingen und Erscheinungen die Maske alltäglicher Gewöhnung entfernen und die Jungfräulichkeit der Welt und deren geheimnisvolle Bedeutung zeigen“ kann. Die Anforderungen an Kunst und Künstler ähneln einander in beiden Schaffensphasen. Doch betont Sabolozki in seinem Aufsatz von 1957, daß er den größten Wert auf den Gehalt von Poesie legt. Er revidiert damit die Tendenz, die seinen Auffassungen der zwanziger Jahre eigen war – daß der Inhalt des Wortes mit dem Inhalt der Dichtung verwechselt, die Funktion der Sprache mit der der Kunst identifiziert wird. Allerdings bleibt Sabolozki bis an sein Lebensende der Devise treu, die Wortbedeutungen nach der Formel „Logik dank Unlogik“ zu verbinden. Auf diese Weise baut er vom Sprachstil her seine Gestaltung von Widersprüchen des Seins aus. Aber im Laufe seines Schaffens ordnet er alle seine poetischen Mittel und Verfahren immer mehr dem Inhalt seiner Darstellung unter. Im Unterschied zu den Spalten drückt er seine dichterische Stellungnahme auch gestalterisch zunehmend durch ein lyrisches Ich aus.
In Verbindung mit Sabolozkis analytischer Methode und mit seiner Auffassung vom Menschen als Pädagoge der äußeren Naturkräfte wie auch der menschlichen Natur selbst steht eine Eigenschaft seiner Poesie, die oft kritisiert worden ist. Von den einen wurde seine Dichtung didaktisch genannt, andere wandten sich gegen diese Bezeichnung und nannten seine Lyrik Lehrgedichte. Eine scharfe Trennung zwischen beiden Arten ist kaum möglich. W. Kawerin macht jedenfalls auf die zweite Bezeichnung aufmerksam: Sabolozkis „Dichtung ist belehrend, weil sie auf den Forderungen höchster Vernunft errichtet ist, und in dieser Belehrung sind deutlich die Traditionen der russischen Dichtung zu erkennen, die uns von Shukowski (sein Einfluß taucht mitunter auch in den Versen Sabolozkis auf) bis Mandelstam führen.“
Die Belehrung als poetische Qualität hat ihre Ursachen nicht nur in dem literarischen Traditionsbewußtsein Sabolozkis, Sie ist auch aufs engste mit seinem dichterischen Missionsbewußtsein verbunden. Sabolozki identifizierte sein Menschsein mit der Aufgabe, Dichter zu sein. W. Kawerin charakterisiert ihn in dieser Weise:

… was mit ihm geschah, um ihn herum, in seinem Beisein oder unabhängig von ihm, war für ihn immer und unabänderlich mit dem Bewußtsein verbunden, daß er Dichter war. Das war keineswegs ein Drang zu belehren, ein Streben, sich über die anderen zu stellen. Es war ein Zug, der moralisch, ethisch alles prüfte, was er dachte und was er tat. Die Empfindung einer hohen Berufung war für ihn ein Etalon im Leben. Er war ehrlich, weil er Dichter war. Er log nie, weil er Dichter war. Er verriet nie Freunde, weil er Dichter war. Alle Normen seiner Existenz, seines Verhaltens, seiner Beziehung zu Mitmenschen waren davon bestimmt, daß er als Dichter nicht gleichzeitig Betrüger, Verräter, Schmeichler, Karrierist sein konnte. Da er ausgezeichnet verstand, daß Lüge und Dichtung „zwei unvereinbare Dinge“ sind, konnte er nicht schreiben, was er nicht dachte.

Die „Belehrung“ in Sabolozkis Werk kann als ein Zug von ausgeprägter gesellschaftlicher Verantwortung angesehen werden. Sie entspricht seinem Ethos als Dichter. Erkenntnissuche und Erkenntnisvermittlung im Namen der Menschheit heben seine Dichtung über den Tag und über die Epoche hinaus. 

Gerlind Wegener, November 1978, Nachwort

 

Nikolai Sabolozki (1903–1958)

Die ersten Gedichte dieses bedeutenden sowjet-russischen Dichters wurden 1929 teils begeistert aufgenommen, teils erbittert abgelehnt. Sie waren Signal eines neuen Realitätsbewußtseins, das sich berufen fühlte, den schöpferischen Geist der neuen Gesellschaft vor dem Geist des Kleinbürgers, seinen überkommenen fetischistischen Lebens- und Wertvorstellungen zu hüten.
Sabolozkis künstlerische Methode, die der primitiven Malerei nicht fernsteht, sei so benannt: schlaues Sehen und naives Zeigen. Sie provoziert ihn zunächst zu einem scharf sozialkritischen Vorstoß. In dem Gedicht „Hochzeit“ zum Beispiel, einer grotesken Festtagsszenerie („der neue Spießbürger bei festlich-martialischer Völlerei“), gibt er kommentarlos, allein im Bild, seine Haltung zu verstehen:

Ein Fleischgebirge: Haufe Weiber
Sitzt da, die bunten Federn spreizend
Ein Hermelinchen übers Leibchen
Die fettgelebte Brust gelegt…
Und ihre Männer, kahl und gerade
Sitzen da wie durchgeladene
Gewehre…

Doch nur mit dem Begriff „Sozialkritik“ wäre Sabolozkis Werk bei weitem nicht ausgeschöpft. Neu wie sein Blick auf den Menschen ist auch sein Blick auf die Welt der Natur, als das „Milieu aller Kreatur“. Seine Naturbilder zählen zu den größten stilistischen Errungenschaften der russischen Poesie des 20. Jahrhunders; sie werden demjenigen Leser ihre Faszination nicht versagen, der bereit ist, am Faden einer metaphorisch üppigen Phantasie, die die Welt des schöpferischen Menschen und die Welt der Natur spielerisch vereint, sich zu originellen philosophischen Verallgemeinerungen führen zu lassen.

Verlag Volk und Welt, Beipackzettel, 1979

 

Svetlana Cheloukhina: Den Tod abschaffen: Nikolai Sabolozkis naturphilosophische Dichtung und der Russische Kosmismus. Svetlana Cheloukhina spricht im Haus der Kulturen der Welt am 2.9.2017 über Nikolai Sabolozki und dessen Naturphilosophie, in deren Zentrum der Begriff der Metamorphosen steht: unendliche Verwandlung auf atomarer Ebene vom Stofflichen zum Seelischen (Geistigen) – und umgekehrt.

 

Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

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