POESIE AUS WASSER – KLEINER ZYKLUS
Poesie im Sturm
An manchen Orten
liegen Wörter neben angeschwemmtem Holz
Ganz schiffgebrochen, brüchig, schillern
Bei Einfall von Licht wie aus Scherben
Prismaartig gestreut auf die Betrachter
Wörter liegen wie Robbenleiber am Strand
Werden von der Sonne beschienen
Gerben sich, verwittern sandig
Was bellen die Robben
Über den Sturm
Poesie in der Flaute
Lau hängt die Luft um unsere Knie
Die sich im Wasser spiegeln, fast flächig
Meine Hand, ein Wanderer zwischen Dimensionen
Das Segel ruht, zittert nicht, bläht sich in einem Traum
Der Dichter steht am Ufer, sieht Fahnen, meint
Eine Ankunft stünde bevor
Die Fische bestaunen den Bauch des Bootes
Die eingekehrte Langsamkeit, so ist der Mensch
Dem Fisch so fremd
Poesie im Wind
Man irrt, wenn Wasser in sandigem Mund endet
In der eigenen Vorstellung
Wasser endet in menschlichem Mund, nicht geographisch
Fast auf den Zungen die Wörter für Flüssiges
Auf den Lippen die Küsse aus Salz
Mit einem Liebsten irrt man sich beim Schlaf
aaaaaauf grüner Düne
Dort hat er seine Auswahl getroffen, die Liebe
In Wind gesprochen, die Wörter an Drachenschnüre
aaaaagehängt
Hier liebt man die Sprache, die ein Wind aus der
aaaaaHalsmitte ist
Ein Hauch von Denken getragen auf einem Strom
Vorwort
Sie ist furchtlos, kennt aber viele Schmerzen. Nora Gomringer gehört zu einer Generation, die mit ihren Vorgängern in einem entspannten Verhältnis lebt. Die klassische Moderne führte einen erbitterten Kampf gegen die Tradition, die sich zu einem Kanon des angeblich Richtigen und Musterhaften verfestigt hatte. Diesen galt es aufzubrechen, zu sabotieren, zu verhöhnen. Ihm musste das ganz andere entgegengehalten werden. Deshalb umschrieb sich die klassische Moderne mit militärischen Begriffen. „Avantgarde“ ist ein Wort aus der Kriegsführung. Als die Nachkriegsmoderne, zu deren markanten Vertretern Nora Gomringers Vater gehörte, nach dem kulturellen Sumpf der Hitlerzeit den Anschluß an die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wieder knüpfte, tat auch sie es kombattant – im Streit gegen den restaurativen Literaturbegriff der Adenauerzeit. Diese ästhetische Militanz, die gelegentlich selbst doktrinär werden konnte, ist Nora Gomringer fremd. Sie mag ihre Vorgänger, kennt weder vater- noch muttermörderische Reflexe. Ihre Modernität ist heiter, beweglich, ohne Verbissenheit. Zeichenhaft steht dafür ihr Verhältnis zu Friederike Mayröcker, auf die sie ein langes ergreifendes Gedicht geschrieben hat: „M alleine“.
Klänge und Formen, die ihrem Spiel entgegenkommen, greift sie auf. Sie verwandelt sich an, was sie brauchen kann aus dem großen Arsenal der Moderne, und es wird zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Kunst, gewinnt das unverwechselbare Timbre ihrer eigenen Stimme.
Talentlose Dichter schreiben von Herz und Rosen. Mittlere Talente vermeiden es sorgfältig, von Herz und Rosen zu schreiben. Starke Talente haben keine Bedenken, trotz allem von Herz und Rosen zu schreiben. wie Nora Gomringer das Herz in ihr poetisches Reden holt! Warum gelingt ihr das so leichthin? Es verdankt sich ihrer bilderschaffenden Kraft. Diese könnte man über dem Reichtum der Klänge und Rhythmen leicht übersehen. Ihre visuelle Sinnlichkeit ist aber der akustischen ebenbürtig. Das lässt sich studieren an den drei Gedichten „Das Herz“, „Brandstifter“ und „Erklärung“. Wie sie hier das unmögliche Motiv allein durch die berückende Anschaulichkeit der Metaphern zurückholt in den lyrischen Diskurs der Gegenwart, ist verblüffend. Dabei hilft ihr ein erzählerischer Zug, der sie die gefundene Metapher – das Herz als Artischocke, das Herz als Wollknäuel Ariadnes, das von schweren Verbrennungen blasige Herz – weiterführen und ausbauen lässt zu je einer kleinen, witzig-traurigen Geschichte. Allegorie nannte man das einst. Bei Nora Gomringer hat die Allegorie alle Betulichkeit abgelegt und erscheint wieder als naturhafte Möglichkeit der Poesie.
Dazu trägt bei, dass es um die Liebe geht. Sie veraltet bekanntlich so wenig wie die Sonne oder das Meer, wie Durst und Hunger. Zu den vielen Schmerzen, die diese Autorin kennt, scheint die Liebe nicht wenig beigetragen zu haben. Wann immer sie ihr die Zunge löst, tauchen auch die starken Bilder auf. Sie treten in Verbindung zu Mythen und Märchen, zum ältesten Traummaterial, das in uns allen abgelagert ist. Dass Nora Gomringer den Kontakt zu den Urgeschichten der kulturellen Überlieferung nicht scheut, steigert den Reichtum ihrer Gedichte. Bildung allein macht gewiss keinen Dichter, aber Bildungsfeindlichkeit noch weniger. Bildungsfeindlichkeit macht überall nur Spießer.
Und dann die Stimme. Natürlich hätte man mit der Stimme beginnen müssen. Die Gedichte sind zum Sprechen geschrieben, sind wohl auch beim Schreiben schon gesprochen worden. Diese Autorin will nicht nur gelesen, sondern auch gehört werden. Dennoch ist ihre akustische Sinnlichkeit in den Texten selbst bereits voll gegenwärtig. Deren rhythmische Vielfalt, die gemessenen Litaneien, das Rhapsodische, das Stakkato, der lange Atem der gestreckten Verse, die raschen Tanzschritte dazwischen – alles ist ein Abenteuer des inneren Ohrs für den lautlosen Leser. Die Rezitation, insbesondere wenn Nora Gomringer damit leibhaftig auftritt, rückt die Gedichte in neue Perspektiven und setzt überraschende Akzente. Unabdingbar ist sie aber nicht.
Peter von Matt, Juli 2011, Vorwort
Trailer Nora Gomringer: Mein Gedicht fragt nicht lange reloaded
sind viel herumgekommen. Daher haben sie Sieben-Meilen-Stiefel an den Versfüßen und manchmal einen recht breitbeinigen Gang. Dazu eine laute Stimme und manchmal ganz schön viel Attitüde. Doch manche von ihnen haben Katzensohlen, zarte, bebende Haut, sind verweht, fast noch bevor sie ausgesprochen wurden, sind zum Still-für-sich-Lesen statt zum Deklamieren geeignet.
Die in diesem Band versammelten Sprechtexte und Gedichte sind zwischen 2002 und 2010 entstanden. Enthalten sind die Gedichtbände Silbentrennung, Sag doch mal was zur Nacht, Klimaforschung und Nachrichten aus der Luft.
Verlag Voland & Quist, Klappentext, 2015
– Sammelband von Nora Gomringer. –
Dieses Buch ist verschwenderisch und schön. Verschwenderisch, weil es bei 332 Seiten gleich vier Gedichtbände des Shootingstars Nora Gomringer und eine Audio-CD enthält. Schön, weil sich hier Gestaltung, Typographie, Satz und Druck in bemerkenswerter Einheit zeigen. Nora Gomringer, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, Tochter des Doyens Konkreter Poesie Eugen Gomringer, studierte Anglistik und Germanistik, entwickelt aus der Slam-Poetry-Ecke heraus einen ganz eigenen Stil sinnlich humoriger Wortperformances, hält Poetikvorlesungen, wurde jüngst mit dem Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache und dem Joachim-Ringelnatz-Preis der Stadt Cuxhaven ausgezeichnet und fungiert derzeit als Leiterin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Für alle, die Nora Gomringers Anfänge verpaßt haben, gibt es jetzt diesen Sammelband: Gedichte (2000 noch im Eigenverlag), Silbentrennung (2002), Sag doch mal was zur Nacht (2006) und Klimaforschung (2008).
Was den Leser sofort mit der Autorin sympathisieren läßt, sie unterschlägt ihre Anfänge nicht und zeigt in beeindruckender Weise, auch sie kocht mit Wasser. Viele ihrer frühen Gedichte sind schlicht wie Laternenpfähle. Unter dem Titel „Brauch“ klingt ihre Lebenserkenntnis z.B. so:
Immer und immer wieder
sammeln wir die Zweige
und stellen sie ins Wasser.
Immer und immer wieder
warten wir,
warten wir
auf den Tag,
an dem sie blühen.
Dann aber, nach einem englischsprachigen Intermezzo mit 29 „Poems“ und dem durchaus selbstkritisch gemeinten „Output: So much poetry / so many lines / to print. / Too much poetry / too much lines / to print“, legt die Autorin los, nimmt ihre Wort- und Sprachakrobatik immer mehr Fahrt auf. Ihre Sprechgedichte entwickeln mitunter einen rhythmisierten Druck, der jeden Weltschmerz schulternden Leierkastenlyriker an die Wand nageln dürfte. Und die Quasselstrippen unter den Knalldichtern werden sich wundern, wie viel Gehirnschmalz den Gomringer-Texten Kontur verleiht.
Ein Hörbild von der wandelbaren Gomringer-Stimme gibt die beiliegende CD, die zwischen überraschenden Konfektionsartikeln und konfektionierten Überraschungen changiert und 48 Einzelstücke bringt. Die Nummern, womit sich Nora Gomringer vor allem einen Namen gemacht hat, sind selbstredend abrufbar: „Du baust einen Tisch“, „Sag doch mal was zur Nacht“, „Ich werde etwas mit der Sprache machen“, „Lion turnt“, „Warum ich da nicht hingehe?“, „Family Thing“, „How to love dog“. Sogar ein Hidden Track läßt sich finden. Es lohnt also, nachdem der „Epilog“ verklungen ist, einige Sekunden zu warten. Dieses Buch lohnt sich überhaupt.
– Über Eugen und Nora Gomringer. –
Daß ein Mitglied der Sektion Bildende Kunst in eine Veranstaltung der Sektion Literatur einführt, mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. Aber im Falle des Dichtergesprächs zwischen Eugen und Nora Gomringer gibt es dafür zwei Gründe, einen persönlichen und einen objektiven. Der Dichter Eugen Gomringer ist zu Beginn der sechziger Jahre, als ich – ungefähr in der Mitte des „konkreten“ Dreiecks Ulm, Zürich, Stuttgart lebend – Kunstkritiken zu schreiben anfing, eine Art Säulenheiliger meiner jugendlichen Schreibversuche gewesen. Ein halbes Jahrhundert später habe ihn in der Akademie zum ersten Mal als Person, ohne Säule, getroffen. Die Möglichkeit solcher Begegnungen mit Mitgliedern anderer Generationen und anderer Disziplinen ist das große Privileg der Akademie. Vor allem deswegen kommen manche von uns immer wieder gern hierher.
Objektiv gesehen, hätte freilich auch ein anderes Mitglied meiner Sektion diese Einführung übernehmen können. Denn die bildende Kunst in Gestalt der Konkreten Kunst von Max Bill, Richard Paul Lohse, Camille Graeser und Verena Loewensberg ist Mitte der vierziger Jahre der Auslöser jener Entwicklung gewesen, die Gomringer 1953 zur Veröffentlichung der konstellationen und 1955 zur Prägung des Begriffs Konkrete Poesie geführt hat. „Konkret“ heißt in diesem Zusammenhang, mit den abstrakten Elementen der Kunst beginnen, anstatt von der Erfahrungswirklichkeit zu abstrahieren. Bei diesem ersten, entscheidenden Anstoß ist es jedoch keineswegs geblieben. Neben der dichterischen Tätigkeit ist die Beschäftigung mit der bildenden Kunst zu einer Konstante von Gomringers Arbeit geworden: als Sekretär von Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, als Kulturbeauftragter der Firma Rosenthal, als Kollege auf dem Lehrstuhl für Ästhetische Theorie an der Kunstakademie Düsseldorf, als Museumsgründer in Ingolstadt und Rehau und Kurator zahlreicher Ausstellungen. Der im Jahr 2000 erschienene Sammelband Zur Sache der Konkreten, der eine Auswahl der Texte und Reden zu Künstlern und Gestaltungsfragen seit 1958 umfaßt, übertraf schon damals mit mehr als fünfhundert Seiten das schmale, konzentrierte Œuvre des Dichters. Aus gegebenem Anlaß sei der Hinweis erlaubt, daß in diesen Tagen unter dem Titel nichts für schnell-betrachter und bücher-blätterer der von Anette Gilbert erarbeitete Catalogue raisonné der Gemeinschaftsarbeiten mit bildenden Künstlern erscheint.
Trotz dieser zweiten Spur ist Eugen Gomringer jedoch zuallererst Dichter. Das Manifest „vom vers zur konstellation“, erschienen zwei Jahre nach den konstellationen, unterstreicht diese Gewichtung, indem es die literarische Herkunft der Konkreten Poesie hervorhebt. Bekanntlich ist seit Mallarmé das Erscheinungsbild von Gedichten zunehmend wichtiger geworden. Selbst ein so gar nicht „konkreter“ Dichter wie Gottfried Benn hat in seinem Marburger Vortrag von 1951 den Vorrang des Schriftbilds vor der Rezitation bestätigt. Dazu kam ein aktuelles Argument: Die Vorstellung von der abstrakt/konkreten Kunst als einer „Weltsprache“ war ein gängiger Topos der fünfziger Jahre. Knappheit und Versachlichung der Kommunikation schienen im Zeichen moderner „Interkulturalität“ angesagt. Dichtung sollte „aus dem Wort“ – aus den konkreten Worten der jeweiligen Sprachen – hervorgehen, mit der Alltagssprache als Maßstab. Das war eine deutliche Absage an Expressionismus, Hermetik, Stimmungslyrik. Vielleicht trifft Max Bills Konzeption des Kunstwerks als „ästhetischer Gebrauchsgegenstand“ diese Tendenz am deutlichsten. Das weiße Blatt ist die Grundlage, definiert Zwischenräume und dient als Resonanzboden – Wiederholung, Umstellung, Inversion sind die hauptsächlichen Gestaltungsmittel. Schlüssige Sätze und Aussagen werden vermieden. Lesen wird so zu einem Betrachten mit dem Gehör: nicht Zeile um Zeile auf ein Ende zu, sondern kreuz und quer, eher kreisend als linear, erschließt sich die Konstellation. Statt einer Verheißung von Sinn eine Einladung zum „Sinnen“. Die „konstellation“, heißt es im letzten Abschnitt des Manifests, „ist eine Aufforderung, kein Rezept“.
Seit diesem Aufbruch sind sechs Jahrzehnte vergangen. Ursprünglich von vielen mißtrauisch als ein randständiges, eher ephemeres Phänomen beäugt, hat die Konkrete Poesie die Zweifler eines Besseren belehrt. Sie hat eine enorme Ausbreitung erfahren, vor allem in Südamerika, noch ehe die Rede von der Globalisierung in aller Munde war; und Gomringers „konstellationen“ erscheinen heute so zeitgemäß und frisch wie eh und je. Die sprachlichen „Gebrauchsgegenstände“ haben den Alltag mitzugestalten begonnen, wie zweideutig dieser Erfolg manchmal auch sein mag. Die albernen Sprachspiele der Werbung mögen einen gelegentlich verdrießen; aber Künstler können für die Appropriation ihrer Erfindungen nicht verantwortlich gemacht werden. Die Verunglimpfung wird bei weitem aufgewogen durch den Einzug der Konkreten Poesie in die Schulbücher. Das Gedicht „schweigen“ ist 2004 sogar in eine Anthologie der berühmtesten Gedichte deutscher Sprache aufgenommen worden. Ungeachtet der gewachsenen Erfahrung erscheint Eugen Gomringer selbst beinahe so wenig gealtert wie seine Kunst. Daß wir im kommenden Januar seinen neunzigsten Geburtstag zu erwarten haben, nährt bei mir eher einen Zweifel an der „Konkretheit“ von Zahlen. 2008 hat er uns alle mit dem schmalen Bändchen Eines Sommers Sonette überrascht. Ganz so aus der Welt war diese Wendung freilich nicht. Mit Sonetten hatte der junge Dichter einmal angefangen und eine Auswahl davon an Hermann Hesse geschickt, der darauf, liebevoll ermutigend, antwortete:
Da lebt etwas weiter, was vielleicht von weither kommt.
Nun ist er also „von weither“ zur strengen Form seiner Anfänge zurückgekehrt, wenn auch vorwiegend für autobiographische Themen und Erinnerungen, für die ihm die Prosasprache zu vage erscheint. Dafür hat er 2009 den Rilke-Preis erhalten – eine gar nicht so abwegige Verbindung des Begründers der Konkreten Poesie mit dem Verfasser der Ding-Gedichte.
Aber die Marke Gomringer gibt es mittlerweile zweimal. Im Unterschied zu sieben älteren Brüdern, die keinerlei poetischen Ehrgeiz zeigen, ist die eine Tochter, Nora Eugenie mit vollem Taufnamen, doch wieder in die Art geschlagen – und das über die Distanz von vier Generationen, wenn man für eine Generation üblicherweise zwölf bis fünfzehn Jahre annimmt.
Da liegen die Anwürfe freilich auf der Hand. Vor ein paar Jahren hat sie das Geständnis eines Journalisten, der sie zu Beginn eines Interviews mit der Offenbarung „Ich liebe ihren Vater!“ konfrontierte, glatt gekontert: „Ich tu’s auch“. Aber die Frage bleibt: Wie geht das – als „Kind einer dichterischen Legende“, so ihre Selbstbeschreibung, selber Gedichte machen? Constantin Brancusi hat einmal über seinen verehrten Meister Rodin gesagt:
Unter großen Bäumen wächst nichts.
Doch diese Bauernweisheit, mit Verlaub gesagt, ist nur auf den ersten, oberflächlichen Blick richtig. „Die Pflanze Gomringer“, schreibt die Tochter Nora, „ist ein Pilz mit einem weit ausgebildeten, unterirdischen Flechtwerk.“ Und nennt auch gleich die vielfältigen Verzweigungen dieses Mycels:
Konkrete Poesie, die Konstruktive Kunst, amerikanisch-minimalistische Lyrik der achtziger Jahre und die Raptexte der Neunziger.
Der letzte Faden des Geflechts scheint ausschlaggebend gewesen zu sein. Nach zwei frühen Gedichtbänden – wovon der erste, wie es sich gehört, im Selbstverlag erschien – hat Nora Gomringer von 2001 bis 2006 die deutschsprachige Poetry-Slam-Szene aktiv mitgestaltet. Dort hat sie offenbar ihre Stimme gefunden, auch wenn sie seither alle ihre Texte schriftlich ausarbeitet. „Nora Gomringer liest ihre Texte gern vor“, heißt es in ihrer Selbstauskunft, „weil sie auch so entstehen: in einem Laut-Lese-Flüster-Murmel-Prozeß. Sie besitzt eben (…) statt eines Schreibtisches einen Schrei-Tisch (und der kann überall stehen).“ Nora Gomringer, wage ich zu behaupten, ist das größte Ereignis gesprochener Dichtung in der deutschen Sprache seit Ernst Jandl. Die zeitige Anerkennung ihres Ranges zeigt sich in der Anzahl der Preise, die sie im letzten Jahrzehnt erhalten hat, darunter 2011 den renommierten Jacob-Grimm-Preis.
Dem ist jedoch umgehend hinzuzufügen, daß ihre Texte – ähnlich wie diejenigen Jandls – nicht ausdrücklich gesprochen werden müssen. Es sei ihr Wunsch, „immerfort klingende Lyrik zu lesen und schreiben zu können“, hat sie einmal geäußert. Die Orientierung an der Alltagssprache und die Mittel der Wiederholung und Umkehrung bestimmen unverkennbar auch ihre Dichtung, wenngleich in verwandelter Form. Während der Vater fein abgemessene Sternbilder auf das Firmament der weißen Buchseite zeichnet, ist sie ganz Atem und Stimme, von der mitreißenden Litanei bis zur leise dahingeklimperten Bagatelle. Wer diese Stimme noch nie vernommen hat, im Stillen oder im leibhaftigen Vortrag, dem sei der 2011 im Leipziger Verlag Voland & Quist erschienene Sammelband Mein Gedicht fragt nicht lange empfohlen, dem eine Audio-CD beiliegt. Die Skala der Tonlagen und Tempi und ihr oft abrupter Wechsel ist einzigartig: fauchend und flüsternd, lakonisch und furios, derb, ernst und dann wieder fast zärtlich, auf kürzestem Wege von Tristesse in Komik umschlagend, und wieder zurück. Als „emotopographisch“ hat sie ihr Verfahren bezeichnet:
die Welt in Begriffen des Fühlens erfahren und befestigen
„Ich mache also etwas ganz Außergewöhnliches mit dieser Ihnen so bekannten / von Ihnen genutzten Sprache“, heißt es in Nora Gomringers Gedicht „Ich werde etwas mit der Sprache machen“. Diese freundliche Androhung könnte ihr Vater wohl unterschreiben, auch wenn er selber lieber vom „schweigen“, aus dem „die worte des dichters“ kommen, gesprochen hat. Außergewöhnliche Erneuerer der Poesie sind beide allemal.
Robert Kudielka, Sinn und Form, Heft 2, März/April 2015
Man könnte (und sollte) immer wieder neu in die Texte von Nora Gomringer einsteigen und es passiert dann das, was auch beim Hören von guter Musik in einem geschieht: Man ist bei sich, beim Dichter, hier bei der Poetin.
So mag das Einsteigen in die Materie immer wieder ein Beginn sein, oder eine Wiederholung und Weiterführung eines Weges in die Realität der schönen Welt, der grausamen Welt, unserer Welt eben.
Wie wird das nicht oft bemäkelt. Ach, die Dichter sind doch nicht von dieser Welt! Doch, sie sind es, wie man es in den Texten von Nora Gomringer hier immer wieder spüren kann.
Nora Gomringer wurde unlängst, kurz nach ihrem Bachmann-Preis gefragt, ob sie nicht mal einen Roman schreiben wolle. Sie möchte es, das spürt man direkt und so warten wir nun.
Auf einen Roman könnten wir wirklich gespannt sein, denn es sind Textbeispiele da in diesem Buch der Vielfalt, Texte, die sehr viel in sich tragen, sehr viel ausbreiten würden.
Hier aber kommt erst einmal die Poetin von Format zu Wort, auch auf der beiliegenden Scheibe in anzuhörender Wirklichkeit. Gewaltige Texte in Teil II („Sag noch mal was zur Nacht“) in der Mitte des Buches haben mich besonders berührt, woraus ich auch die Gewissheit nehme, dass die Dichterin einen großen Roman schreiben könnte. Und nun mein Lieblingsgedicht:
NORDSEE
Dich entgräten
Die Kleider vom Körper
Essen mit Reis
Die Augen ausstechen
Mit der Gabel
Die Bäckchen
Kenneressen.
Wasser dazu
Lustig im Magen
Wieder in deinem Element
Kenner essen natürlich die Bäckchen, Herzchen! Das war schön versteckt und lustig dazu. Dies hier ist ein Buch, das Kenner begeistert und das wartet auf weitere Entdeckung. Im Vorwort meint Peter von Matt, dass die Dichterin wie auch ihr Vater Eugen Gomringer wieder an die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen. Dazu möchte ich anfügen, dass gerade auch Mitglieder dieser Avantgarde (Stefan George oder Ezra Pound) in pathetischer Weise (und mehr!) die Zukunft gepriesen haben. Aber der Zukunft sind wir alle verpflichtet.
Martin A. Hainz: „Lücke / Zwischen Gesagtem“
fixpoetry.com, 23.7.2015
Katja Auer und Olaf Przybilla im Gespräch mit Nora Gomringer: „Die Kennedys von Wurlitz“
Nora Gomringer im Gespräch mit Franziska Wotzinger: Ohne Körper keine Stimme
Nora Gomringer im E-Mail-Interview mit Isabel Bogdan
Georg Langenhorst: Quecksilbrig, kraftstrotzend, katholisch: Nora Gomringer, eine Schriftstellerin im Zeitalter der Postmoderne
Jana Wagner spricht mit Nora Gomringer: „Ich habe kein Talent für Alltag“
Literarische Spiele mit Normalität. Mit Nora Gomringer und Holger Schulze, Moderation: Katja Kullmann im Literaturforum im Brecht-Haus am 21.4.2021
Nora Gomringer – One Day – Ein Tag Spurensuche in der Lyrik-Bibliothek
Nora Gomringer slamt ihr „Ursprungsalphabet“.
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