Vaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
MIT DER FACKEL des Sterns X schritt ich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadem Himmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaentgegen
In den Tau der Wiesen X zur einzigen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKüste der Welt
Finde ich wo meine Seele X die
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavierblättrige Träne!
Myrten, durchwirkt von Trauer X versilbert mit Schlaf
Besprengten mein Antlitz X hauch ich und schwebe
Finde ich wo meine Seele X die vierblättrige Träne!
Magier, Lenker des Strahls X Führer des Traumgemachs
Gaukler, der du kennst X die Zukunft, sprich, mir und sag
Finde ich wo meine Seele X die vierblättrige Träne!
Mädchen in Trauer X Trauer um die Jahrhunderte
Burschen, die Hand am Gewehr X begreifen es nicht
Finde ich wo meine Seele X die vierblättrige Träne!
Hundertfingrige Nächte X am ganzen Himmelsgewölbe
Zermartern den Leib X DIES ist der Schmerz
Finde ich wo meine Seele X die vierblättrige Träne!
Mit der Fackel des Sterns X geh ich dem Himmel entgegen
In den Tau der Wiesen X zur einzigen Küste der Welt
Finde ich wo meine Seele X die vierblättrige Träne!
Die heftige Diskussion um den diesjährigen Nobelpreis begann schon im Sommer 1979. Als ein Mitglied der Schwedischen Akademie Odysseus Elytis in seinem Athener Heim besuchte, witterten griechische Zeitungen bereits einen „heißen Nobelpreiskandidaten“. Prompt meldeten sich aber auch Literaturexperten in Griechenland und Schweden, die den auch schon seit Jahren auf der Kandidatenliste stehenden Lyriker Jannis Ritsos als ebenso „preiswürdig“ beurteilten. Ein geteilter Preis für zwei in der modernen griechischen Lyrik gleichermaßen hervorragende Dichter, so meinten sie, wäre die einzige gerechte Lösung. Die meisten Physik-, Chemie- und Medizinpreise werden ja nunmehr an mehrere Laureaten verteilt, warum nicht auch der Literaturpreis? Präzedenzfälle gäbe es. Zuletzt etwa der 1974 geteilte Preis für die beiden schwedischen Autoren Eyvind Johnson und Harry Martinson, 1966 für Shmuel Yosef Agnon und Nelly Sachs, 1917 für die Dänen Karl Adolph Gjellerup und Henrik Pontoppidan und auch schon 1904 für den Franzosen Frédéric Mistral und den Spanier José Echegaray.
Sonstwo in der Welt nahm man offenbar keine Notiz von diesen Erwägungen. Andere Namen tauchten im Brennpunkt der üblichen Spekulationen auf. Wiederum Doris Lessing, Nadine Gordimer, Yasar Kemal und auch der greise Jorge Luis Borges, der schon mehr als zwanzig Jahre lang als einer der meist verdienten Anwärter gilt, auch ein paar ungarische und polnische Autoren. Darum die allgemeine Überraschung, als ein über die griechischen Landesgrenzen hinweg kaum bekannter Name auftauchte. Das schwedische Fernsehen hatte den mutmaßlichen Preisträger trotz der traditionellen Geheimnistuerei schon am Vorabend der offiziellen Verlautbarung angekündigt. Ob etwa ein Mitglied der Schwedischen Akademie aus der Schule geplaudert hätte, wollten die im Vorzimmer der Schwedischen Akademie versammelten Journalisten wissen. „Keineswegs“, erklärte Lars Gyllensten, der Ständige Sekretär der Akademie, „Odysseus Elytis ist gewiß kein unbekannter Name für den, der etwas von moderner Literatur weiß – und auch nicht für einen smarten Journalisten.“ Und wie man den Namen richtig buchstabiert? Manche behaupten, es sollte „Odisséas Elítis“ heißen, wie es im Handbuch für Neugriechische Literatur von Jannis Ambatsis steht. Lars Gyllensten hatte aber den Dichter selbst telephonisch um Auskunft gebeten: „Odysseus Elýtis“ war der authentische Bescheid. Schließlich hat der Dichter diesen Namen selbst geschaffen.
In dem von Odisséas Alepoudhélis gewählten Pseudonym Odysseus Elytis sieht die Schwedische Akademie eine „komprimierte Programmerklärung“ des Autors. Die Komponenten des Namens, so heißt es in dem Kommentar zur Laudatio, erinnern an Ellas (Griechenland) elpida (Hoffnung), eleftheria (Freiheit) und an die „sowohl Schönheit, erotische Sinnlichkeit und komplexe weibliche Zauberkraft verkörpernde mythische Frau Eléni (Helena), an die enge Verbundenheit von Eros und Heros in Elytis’ dichterischer Welt“.
Griechenland, Lebensfreude, Optimismus und Sinnlichkeit sind die Leitsterne dieses Dichters, dessen Werk die strengen Juroren der Schwedischen Akademie – vor mehr als 140 für diesen Preis vorgeschlagenen Namen – ins Rampenlicht rücken wollte. In seiner Heimat ist er breiten Volksschichten wohlvertraut, auf den Flügeln des Gesanges volkstümlich geworden, als Mikis Theodorakis seinen dem Leser an sich schwer verständlichen Gedichtzyklus „To Áxion Esti“ mit seinen mitreißenden Oratorienklängen eher zugänglich gemacht hatte. In ganz Griechenland, von Präsident Tsatsos und Premierminister Karamanlis ebenso wie der Mann auf der Straße, faßte man den Nopelpreis für Elytis als eine Würdigung der modernen griechischen Literatur überhaupt auf. Elytis selbst meinte dazu, bescheiden und zugleich sehr selbstbewußt:
In meiner Person wollte die Schwedische Akademie offenbar die gesamte griechische Lyrik ehren und die Aufmerksamkeit der Welt auf eine Sprache und eine Tradition richten, die seit Homeros Zeiten ununterbrochen in der westlichen Kultur fortgelebt hat.
In diesem Sinne äußerte sich auch sein Rivale Jannis Ritsos, den konservative Athener Zeitungen als „moskautreuen Kommunisten“ angeprangert hatten:
Dieser Nobelpreis für unseren großen Poeten Odysseus Elytis neutralisiert in gewissem Grade die vielen Fehler und Ungerechtigkeiten früherer Entscheidungen der Nobeljury. Auch ohne den Nobelpreis ist Elytis ein bedeutender Dichter, den schon das griechische Volk ausgezeichnet hat. Der Nobelpreis für diesen Dichter ist ganz einfach eine Ehre für Nobel.
Ungeachtet dieser kollegialen Ehrenbezeugung des Rivalen flammte die Debatte um einen „geteilten Preis“ neuerlich auf. Kaum verheilte Wunden aus dem griechischen Bürgerkrieg bluteten wieder. Ritsos hatte auf seiten der Linken gekämpft, Elytis stand damals über den Parteien. Beide repräsentieren in ihren Werken den hohen Stand der zeitgenössischen griechischen Poesie, die zum Teil von ihrem gemeinsamen Freund Mikis Theodorakis vertont wurden und in allen politischen Parteilagern begeisterte Leser haben. Die Laudatio, mit der die Schwedische Akademie die Wahl von Elytis kennzeichnet, hätte ebensogut für beide Dichter gelten können:
Für seine Poesie, die in der griechischen Tradition fußend mit sinnlicher Vitalität und intellektuellem Scharfblick den Kampf eines modernen Menschen für Freiheit und Kreativität gestaltet.
Der Verdacht linksstehender Kreise, daß Ritsos seiner kommunistischen Sympathien wegen von der Schwedischen Akademie als „nicht salonfähig“ betrachtet worden sei, wird durch die Tatsache dementiert, daß Salvatore Quasimodo, Halldor Laxness und Pablo Neruda seinerzeit den Nobelpreis erhielten. Stichhaltiger mag die Annahme sein, daß Elytis in seinem englischen Interpreten Kimon Friar einen einsichtsvolleren und gewandteren Dolmetscher gefunden hatte als die weitaus umfangreichere Dichtung von Jannis Ritsos. Die der griechischen Originalsprache nicht mächtigen Mitglieder der Schwedischen Akademie waren eben auf die zugänglichen Übersetzungen und auf die Aussagen der Literaturexperten angewiesen. Schwedische Verleger hatten sich bis dahin nicht entschließen können, die wenigen bereits existierenden schwedischen Übersetzungen von Elytis’ Lyrik zu veröffentlichen.
Die Akademie hätte auch solche Expertise einholen müssen, die „nicht von einem politischen Abscheu gegen Ritsos blockiert ist“, meinte der Literaturkritiker von Dagens Nyheter (lib.).
Es wäre unverzeihlich naiv, wenn man sich einbilden würde, daß man im Zusammenhang mit dem Nobelpreis rein „literarische Werte“ isolieren und pflegen könnte. Alles was da getan und unterlassen wird, hat immer einen kulturpolitischen Aspekt. Mitunter hat die Schwedische Akademie nach dieser Richtlinie gehandelt, was ihr zur Ehre gereichte. Diesmal ist es umgekehrt. Ein geteilter Preis wäre vom literarischen Gesichtspunkt plausibel und angemessen gewesen. Zudem auch ein Beitrag zur griechischen Aussöhnung, die einmal kommen muß…
Ohne die Bedeutung von Elytis anzuzweifeln, plädierte auch ein Leitartikel im Svenska Dagbladet (kons.) für einen geteilten Preis:
Es ist unsinnig, den literarischen Nobelpreisträger als eine Art „Weltmeister“ in der Literatur zu betrachten. Die Wahl scheint ja oft auf ganz gutdünklichen Gründen zu beruhen. Warum er und nicht sie? Warum ein Poet und nicht ein Prosaverfasser? Warum Griechenland und nicht Kolumbien? Fragen, auf die es keine absolute Antwort gibt… Warum nicht ein geteilter Preis, damit auch der an sich ehrenswerte (und sogar schon auf Schwedisch herausgegebene) Jannis Ritsos erhalten hätte, was er verdient. Das wäre eine erhabene Wahl gewesen…
Auf der Kulturseite der gleichen Zeitung gab Artur Lundkvist, als Autor, Übersetzer und Kritiker eines der einflußreichsten Mitglieder der Schwedischen Akademie, die Erklärung für die Entscheidung seiner Kollegen. In einer ausführlichen Würdigung des diesjährigen Nobelpreisträgers bezeichnet er den „Mitbewerber“ Jannis Ritsos als einen „sehr produktiven und darum verständlicherweise auch unebenen Poeten, zum Unterschied von dem spärlicher schaffenden Elytis, der sich durchwegs auf einem hohen künstlerischen Niveau hält. (Daß Ritsos ein kommunistischer Widerstandsmann ist und dafür unter der Diktatur leiden mußte, ist bei der Beurteilung seiner Dichtung belanglos.)“
Lundkvist charakteristiert Elytis als einen Propheten und Weissager „im bewußten Gegensatz zu einer falschen demokratisierenden und alltäglich abhobelnden Dichtung“ und schätzt die aus Elytis’ Lebenswerk strahlende optimistische Lebensfreude. Dieses „Lob des Daseins, des Menschen und seiner Möglichkeiten und seines Lebens in Gemeinschaft mit der übrigen Schöpfung“ in Elytis’ Poesie hat die Schwedische Akademie in einem Kommentar zur Preisverleihung besonders hervorgehoben. Die optimistische Vision seiner Dichtung wollte man nicht als „idyllisierden Eskapismus“ sehen, sondern als „eine moralische Tat und eine Beschwörung derselben Art, wie man sie so oft in der griechischen Geschichte finden kann… in den Freiheitskämpfen gegen die Faschisten in unserer Zeit oder gegen andere Unterdrücker in den heroischen Epochen des klassischen Zeitalters“.
Die „18 Unsterblichen“ der Schwedischen Akademie haben da bewußt Standort bezogen, eine Lanze für die „reine Poesie“ gebrochen, als sie das Werk von Elytis ausdrücklich „nicht als politische Dichtung im begrenzten Sinne des Wortes“ bezeichneten, sondern „als eine Art von ,Bereitschaftsdichtung‘, die darauf abzielt, die moralische Integrität und den Stolz zu gewährleisten, die Voraussetzung dafür sind, daß man überhaupt Widerstand leisten und die Strapazen und Gefahren, Schmach und Not, ertragen kann“.
Mehr denn je schien die Nobeljury diesmal darauf bedacht, Alfred Nobels Intentionen, wie sie im Wortlaut seines handgeschriebenen Testaments zum Ausdruck kamen, zu erfüllen und wie er es wünschte, einen Dichter zu ehren, der „in der Literatur das vorzüglichste Werk in idealischer Richtung produzierte…“ „Idealisch“ also, wie es der Duden „als einem Ideal entsprechend oder angenähert“ und das schwedische Wörterbuch als „nach höheren, geistigen Werten strebend“ verdeutlichen.
Der Widerhall in aller Welt war diesmal weniger enthusiastisch als im Vorjahre, als Isaac Bashevis Singer einstimmig als ein „Volltreffer“ begrüßt wurde. Abgesehen von den Reservationen bezüglich der versäumten Teilung des Preises, kamen aber nur wenige kritische Stimmen zur Wahl dieses „aus westlichen Sprachen so wenig bekannten Poeten“ auf, wie englische, deutsche und französische Blätter es angemerkt hatten.
Dem Vorwurf, daß wieder ein der breiten Öffentlichkeit kaum bekannter Name ins Rampenlicht gerückt und eine dem Durchschnittsleser nur schwer zugängliche, exklusive Dichtung belohnt wurde, entgegnete Artur Lundkvist in seinem Artikel über Elytis mit der Gegenfrage:
Auch wenn es so viele Bestselleridole geben mag, die manchen Herzen nahestehen, kann es da nicht auch motiviert sein, etwas Neues zu entdecken und die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, das möglicherweise der Bekanntschaft wert sein mag? Derlei Entdeckungen könnten vielleicht als eine Pflicht der Preisverteiler angesehen werden, ohne daß sie deshalb als hochmütige Elitisten gestempelt werden, die sich in der verdünnten Luft hoch über den Häuptern des „Volkes“ bewegen.
Anschließend gab er seinen schwedischen Lesern einen Seitenhieb. „Denkt euch mal“, schrieb er in seinem Plädoyer für die reine Poesie, „daß dieser ,unbekannte‘ griechische Dichter doch etwas zu sagen hätte, das etwas oberhalb unserer Ententeichpolitik und unserer egozentrischen Selbstbemitleidung wegen unserer Wohlfahrts sorgen liegt!“
Es war da sicherlich kein Zufall, daß das optimistische Credo des Literaturpreisträgers in der Einführungsrede zur feierlichen Preisverleihung im Stockholmer Konzerthaus gewissermaßen als Leitmotiv für die von der Nobelstiftung so intensiv geförderte internationale Zusammenarbeit zum Wohle der Menschheit zitiert wurde. Professor Sune Bergström beendete seinen Appell an die verantwortlichen Politiker der Entwicklungsländer, den Aufbau höherer Ausbildung und Forschung zu unterstützen, mit einem Zitat aus einem Essay von Odysseus Elytis:
Wenn Menschen in Zusammenarbeit vereint wirken, können so potente und unerwartete Kräfte entstehen, daß alles, was bisher als unveränderlich angesehen wurde, verändert oder aufgelöst werden kann. Die Kraft der wissenschaftlichen Entwicklung ist so groß, daß man optimistisch daran glauben muß, daß schließlich auch alle Kräfte des Guten in unserer problemerfüllten Welt triumphieren müssen.
Elytis, die englische Übersetzung der Rede in der Hand, nickte zustimmend, als er mit seinen Preisträgerkollegen vom blumengeschmückten Podium ins festlich gekleidete Publikum blickte. Er schien sich seiner Rolle in dieser von den Fernsehkameras direkt und über Satelliten in alle Welt gestrahlten Zeremonie durchaus bewußt. Zum Unterschied von den übrigen Preisträgern, die vom Prunk und Glanz dieses an sich einzigartigen Ereignisses überwältigt schienen und meist nervös auf ihren Stühlen herumrückten, nahm Elytis die auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit als einen durchaus verdienten Tribut hin. Stramm stand er dann vor dem König und nahm Diplom und Goldmedaille mit einer leichten Verbeugung entgegen, dankte dem rauschenden Beifall der zweitausend Festgäste mit der Grandezza eines routinierten Schauspielers.
Ganz im Gegensatz zu dem vorjährigen Literaturpreisträger, der von alldem Nobelfestwirbel erregt und verwirrt war, jede Gelegenheit benutzte, um Bewunderern die Hand zu schütteln und sich mit ihnen angeregt zu unterhalten, verhielt sich Elytis eher reserviert, stets höflich, aber Distanz haltend. Die meisten Preisträger kamen mit großem Gefolge, um alle in der Familie und im Freundeskreis der großartigen Feststimmung teilhaftig werden zu lassen. Elytis kam nur mit seiner Nichte Myrzina und einem jungen Sekretär aus seiner sonnigen Heimat ins ungastlich kalte Stockholm. Mit ihnen besuchte der zünftige Kunstkritiker Museen und Galerien. Nur in Gesellschaft seiner griechischen Landsleute taute er einigermaßen auf, summte lächelnd mit, als der Chor im griechischen Klub seinen von Mikis Theodorakis vertonten „To Axion Esti“ sang.
Er bedauerte, daß Theodorakis um diese Zeit nicht nach Stockholm kommen konnte und gab unumwunden zu, daß dessen Musik sein Werk im griechischen Volke verankert und in „glücklicher Vermählung von Musik und Lyrik“ weitgehend verständlich und populär gemacht hat. „Unsere Musik hat den Rhythmus unseres Alltagslebens geprägt“, stellte er fest, „ist wie ein Echo der Stürme und der Meeresbrandung.“
Ursprünglich stand „Zorbas Tanz“ zur Ehrung des griechischen Ehrengastes auf dem Musikprogramm der Preisverleihungszeremonie, bei der zwischen den Festreden für die Preisträger Melodien aus ihren Heimatländern gespielt werden. Vergeblich hatte sich aber Sixten Ehrling, der Dirigent der Stockholmer Philharmoniker, bemüht, eine Orchesterpartitur von „Zorba“ aufzutreiben. So spielte man statt dessen einen griechischen Tanz von Niko Skalkottas.
Ob er erreicht habe, was er sich am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn vorgenommen hatte, fragte man Elytis. „Ich war und bin niemals mit meinem Werk und mir selbst zufrieden“, antwortete er. „Wenn ein Maler oder Bildhauer sein Werk vollendet hat, kann er feststellen, ob er erfolgreich war oder nicht. Ein Dichtwerk aber ist ein viel komplizierterer Prozeß, eine nukleare Formation. Ich glaube, daß kein Dichter von sich sagen kann, daß er erzielt hat, was ihm vorgeschwebt war. Er strebt immer darüber hinaus…“
In Aquarellen und Collagen versucht er das jeweilige Vakuum zwischen Absicht und Ergebnis seiner Dichtkunst auszufüllen. „Ich begann als Maler, wollte meine Visionen in Farben gestalten“, sagte er mir, als wir seine in der Schwedischen Akademie zum ersten Male öffentlich ausgestellten Collagen betrachteten. „Farben reichten aber nicht aus – ohne Worte.“
Als Jurastudent debütierte er 1935 in einer internationalen Surrealistenausstellung in Athen. Seither malt er in freien Stunden, illustriert mitunter seine Gedichtbände mit eigenen Collagen. Die intime Freundschaft mit vielen Künstlern, vor allem während seiner Pariser Jahre mit Picasso, Matisse, Giacometti und anderen, überzeugten ihn von seinen künstlerischen Begrenzungen. „Jetzt male ich vor allem mit der Feder, nebenbei auch mit Pinsel und Schere“, erklärte er, „Collagen faszinieren mich, weil man in solchen Mosaiken Träume versinnbildlichen kann.“ Das Material dafür holt er sich aus Zeitschriften, Katalogen und Touristenbroschüren. „In diesen finde ich die für mich so wichtigen griechischen Elemente – Olivenhaine, blühende Berghalden, sonnige Sandstrände, Klippen und Tempelsäulen…“
Beim Galabankett im Stockholmer Schloß unterhielt er sich angeregt mit seiner Tischnachbarin, der gleichfalls perfekt französisch sprechenden jungen Königin Silvia, über die mystische Atmosphäre seiner heimatlichen Inseln und erbot sich galant als Cicerone, falls das Königspaar einmal Griechenland besuchen sollte. Ohne falsche Bescheidenheit akzeptiert er es gerne, wenn man ihn als den „Inselpoeten“ apostrophiert, der seine Inspiration aus der kargen und zugleich üppigen ägäischen Inselwelt holt, in der er zur Erkenntnis kam, daß „Poesie der Natur selbst gleicht, die weder gut noch böse ist, weder schön noch häßlich – die einfach da ist“, für ihn der Inbegriff von Licht und Sonne, Zuversicht, sich ständig erneuernder Lebenskraft und Freiheit.
Ganz sinngemäß erbot er seinen schwedischen Gastgebern in seiner kurzen und prägnanten Tischrede beim festlichen Nobelbankett im Stadthaus als Dank:
Das einzige Kapital in meinen Händen, ein paar griechische Wörter. Sie sind bescheiden, aber lebendig, weil sie ständig auf den Lippen eines ganzen Volkes sind. Sie sind dreitausend Jahre alt, aber ebenso frisch, als kämen sie eben aus dem Meer. Zwischen den Klippen und Algen der ägäischen Strände. In der Bläue und absoluten Durchsichtigkeit des Äthers. Das ist das Wort „Himmel“, das ist das Wort „Meer“, das ist das Wort „Sonne“, das ist das Wort „Freiheit“. Ich lege sie respektvoll vor Eure Füße. Um Euch zu danken…
E. Michael Salzer
anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Odysseas Elytis
Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
Als Giorgos Seferis, Landsmann des diesjährigen Literatur-Nobelpreisträgers, im Winter 1963 hierher kam, um denselben Preis in Empfang zu nehmen, überreichte er auf dem Flugplatz als Begrüßung an die Frauen des damaligen Sekretärs der Schwedischen Akademie, sowie dessen amtierenden Direktor, einen Strauß Hyazinthen. Er selbst hatte diese auf Hymettus gepflückt, dem Berg, der wenige Meilen östlich von Athen liegt und wo Aphrodite ihren wundersamen Frühling erlebte. Immer schon, seit der Antike, wachsen dort Hyazinthen wild und im Überfluß, die den ganzen Berg mit einer Honigwolke umhüllen.
Diese Episode kommt in Erinnerung, da wir heute das Vergnügen haben, Odysseus Elytis zu begrüßen, den griechischen Schriftsteller, der in seiner Jugend mit seiner Gedichtsammlung Das Konzert der Hyazinthen bekannt wurde, in welcher er seiner Geliebten zuruft: „Nimm mit dir das Licht der Hyazinthen und taufe es in der Quelle des Tages.“ Er versichert ihr weiter: „Wenn du in der Sonne glitzerst, daß dir Wassertropfen gleiten, unsterbliche Hyazinthen und das Schweigen, so nenne ich dich die einzige Wahrheit.“
Heute gibt es einen unmittelbaren Grund, der symbolischen Geste in der ungastlichen Kälte des Flughafens zu gedenken. Die uns von Seferis überreichten Hyazinthen waren in keiner Weise jene, die wir zu sehen gewohnt sind. Denn, frisch gepflückt wie sie waren, wurden sie auch zu Symbolen des klimatischen Unterschiedes zwischen dem sonnigen Süden des Überbringers und unserem eingeschneiten Norden.
Wenn Odysseus Elytis, der Autor von Das Konzert der Hyazinthen, beabsichtigt hätte, jene Blume als eine der Analogien zwischen Umwelt und der sinnlichen Wahrnehmung zu benützen, die einen wesentlichen Teil seines kulturellen Lebensgefühls ausmachen, so hätte er behaupten können, daß unsere Topfpflanzen nichts anderes sind als eine westeuropäische Rationalisierung von etwas, das in seinem Land wild wächst und dadurch seine immerwährende Schönheit erwirbt. Dieser Schönheit hat er den größten Teil seiner Dichtkunst gewidmet. Ein in ihr wiederkehrendes Thema ist die vorherrschende westeuropäische Fehlauffassung von allem, was die vielschichtige Welt der Ideen ausmacht, deren legitimer Erbe er ist.
Seine ganz persönliche Vertrautheit mit westeuropäischer Dichtung, Kunst und Denkart hat dazu geführt, daß er seine kritische Ansicht über unser allzu vernünftiges Bild von Griechenland über die Ideale der Renaissance bis in die Antike zurückverfolgt. Es mag paradox erscheinen – worauf er selbst hinwies – daß dieses Westeuropa, das er wegen seines sterilen Rationalismus brandmarkte, ihm den Antrieb zum Schreiben gab, also plötzlich seinen persönlichen Stil freisetzte: einen Surrealismus, von dem nicht gesagt werden kann, er übertreibe die Vernunft.
Das ist, wenn auch nicht offensichtlich, nicht ungewöhnlich. Wie ein rebellisches Pulsieren von überschwenglichem Leben durchbrach der Surrealismus die verhärteten Arterien von verkalkten Formen.
Die Poesie wurde auch außerhalb Frankreichs von einer neuen Schule, „Die Parnassiens“ genannt, dominiert. Teilen wir jedoch die Meinung Elytis’ über das damalige und heutige Griechenland, so können wir sehen, daß diese Bewegung überhaupt nichts mit dem damaligen Parnassus zu tun hatte. Aber auch Griechenland blieb von dieser Bewegung nicht verschont. Die Anhänger dieser Schule teilten in ihrer blumigen Sprache ihre pessimistische Überzeugung mit, daß es nichts in dieser Welt von Wichtigkeit gäbe als ihr Talent, diese Ideen klar auszudrücken. Wenn aber ihr Einfluß als Fessel betrachtet wird, so war der Beginn des Surrealismus wie eine Befreiung, eine religiöse Wiedergeburt, auch wenn sie nur darin bestand, daß man die Sprache wiedergefunden hatte.
Die Vorteile einer Kunstreform sind meistens nicht das Resultat eines bestimmten Programms, sondern das Ergebnis einer unvorhergesehenen Kreuzung. Die griechische Poesie blühte in dieser Zeit auf und erlebte in den letzten fünfzig Jahren ihren zweiten Höhepunkt. Elytis ist der einzige Poet dieser Zeit, der deutlich die Folgen des Zusammentreffens der bahnbrechenden Modernisierung und das geerbte Mythos zeigt.
Will man einen Poeten dieser Zeit, der für viele schwer verständlich ist, interpretieren, so sollte man zuerst seine Beziehung zum Surrealismus und Mythos klar darstellen. Dies ist allerdings nicht so einfach. Elytis erklärt sogar selber: „Ich betrachte Surrealismus als den letzten verfügbaren Sauerstoff in einer sterbenden Welt, sterbend zumindest in Europa.“ Andererseits stellt er eindeutig fest: „Ich war nie ein Jünger der Schule des Surrealismus.“ Was er auch nicht war. Elytis will nichts zu tun haben mit dieser grundlegenden Poesie, diesem automatischen Schreiben mit seinem unkontrollierten Strom zufälliger Assoziationen. Sein Erproben der poetischen Ausdrucksmittel führte ihn zum Widersprüchlichen des Surrealismus. Selbst wenn dessen ungezähmte Entfaltung von unbewiesenen Kombinationen sein eigenes Schreiben freisetzte, ist er ein Mann mit strengen Formen, der Herr der überlegenen Schöpfung geblieben.
Lesen Sie sein Werk „To Axion Esti“, das viele als seine bedeutendste Arbeit betrachten. Mit seiner überaus sorgfältigen Komposition und erhabener Rhetorik überläßt er dem Zufall keine einzige Silbe. Oder nehmen wir sein Liebesgedicht „Monogram“ mit seiner kunstvollen mathematischen Grundlage; es gibt nichts Vergleichbares in der Literatur von heute. Dieses Gedicht besteht aus sieben Lieder mit jeweils sieben Zeilen oder sieben Multiplikatoren, die in einer siebener Stufenleiter – also 7 – 21 – 35 – bis zum Höhepunkt von 49 führen, um darauf wieder mit der gleichen Stufenleiter – 35 – 21-etc. – bis zur letzten Strophe mit sieben Zeilen herabzusteigen. Der Leser sollte sich nicht darüber den Kopf zerbrechen: das Gedicht hat seine eigene Schönheit, ohne daß man die einzelnen Stufen nachzählen sollte. Gedichte dieser Art, die wie eine Euklidische Zeichnung aufgebaut sind, haben nichts mit der „ecriture Automatique“ des Surrealismus zu tun.
Elytis’ Beziehung zum griechischen Mythos verlangt ebenso nach einer Verdeutlichung. Wir sind gewohnt, Griechenlands Schätze und Mythen durch zeitgenössische westeuropäische Schablonen ausgedrückt zu sehen. Wir haben eine „Antigone à la Racine“, eine „Antigone à la Anouilh“, und wir werden noch mehrere haben. Elytis haßt eine solche Behandlung, sie ist für ihn eine herzlose Topf-Kultivation von Wildblumen. Er selbst schreibt keine „Antigone à la Breton“. Er imitiert überhaupt keine Mythen und verabscheut diejenigen, die es tun. In dieser Welt der Ideen übernimmt er einen Anteil an Verantwortung, obwohl seine Werke nicht einer Wiederholung alter Geschichten der griechischen Vergangenheit, sondern der Erschaffung von Mythen gleichen.
Sein traditionelles Griechenland und die Berge mit den imposanten Namen sollen uns daran erinnern, was das menschliche Wesen schon alles erreicht hat. Das Ägäische Meer, wo auch Elytis aufgewachsen ist, hat jahrtausendelang die Reichtümer, die der Westen mit Stolz gesammelt, an Land geschwemmt. Griechenland ist für ihn immer noch ein lebendiger und aktiver Mythos. Er beschreibt das Land genauso wie seine Vorfahren es getan haben, indem er es personifiziert und ihm dadurch eine menschliche Form gibt. Diese Schreibweise verleiht seinen Visionen eine sinnliche Innigkeit. Der Mythos, das Kredo seiner Poesie, wird durch schöne junge Menschen in einer bezaubernden Landschaft dargestellt. Sie lieben das Leben und einander im blendenden Sonnenlicht, wo sich die Wellen am Strand brechen.
Wir können dies eine optimistische Idealisierung nennen und, trotz der Anschaulichkeit, Flucht aus Gegenwart und Wirklichkeit. Elytis’ wirkliche Sprache, feierlich und rhythmisch, bemüht sich, vom alltäglichen Leben mit seiner Kleinlichkeit wegzukommen. Die Idealisierung erklärt sowohl die Begeisterung als auch die Kritik, die seine Dichtkunst erregt hat. Elytis selbst hat seine Ansicht Punkt für Punkt dargestellt. Griechisch als eine Sprache, sagt er, widersetzt sich einer Lebensbeschreibung und hat für la poésie maudite keine Ausdrücke. Für Europäer ist jeder Mystizismus mit Dunkelheit und Nacht verbunden, doch für die Griechen ist das Licht das größte Geheimnis. Jeder leuchtende Tag ist ein immer neues Wunder. Die Sonne, das Meer und die Liebe sind die fundamentalen und reinigenden Elemente.
Diejenigen, die glauben, daß Poesie eine Spiegelung der Zeit und eines politischen Ereignisses sein soll, seien auf sein schreckliches Gedicht über einen Leutnant, der im Albanischen Krieg gefallen ist, verwiesen. Elytis, der selber Leutnant war, wurde zufällig einer der zwei Offiziere, die den geheimen Befehl einer generellen Mobilisation geöffnet haben. Er selber hat im hitzigen und verzweifelten Kampf gegen die erdrückende Überlegenheit Mussolinis an der Front gekämpft. Sein Trauerlied um die gefallenen Kriegsgenossen, das den niemals endenden Existenzkampf darstellt, ist eine Art engagierte Poesie, die viel nüchterner und brutaler wirkt als das, was einige Kritiker darunter verstehen.
Die Schlußfolgerungen Elytis’, die durch seine Teilnahme entstanden sind, sind anderer Natur. Er glaubt, daß ein Poet nicht unbedingt seine Zeit beschreiben muß, sondern sie heldenhaft herausfordern sollte. Seine Arbeit besteht also nicht darin, das persönliche Leid sowie das tägliche Leben mit allen gesellschaftlichen und politischen Situationen zu beschreiben. Sein Weg führt von dem, was wirklich ist, zu dem, was sein wird („from what is to what may be“). Die Substanz der Poesie Elytis’ ist nicht logisch: aber die Klarheit der Gegenwart gegenüber einer Perspektive der Vergangenheit gibt die nötige Erklärung. Obwohl sein Mythos mit seiner Heimat, dem Ägäischen Meer, verwurzelt ist, befaßt er sich mit der Menschheit, die ihre Kraft nicht von einem unsichtbar gewordenen Goldenen Zeitalter bekommt, sondern von einem, das niemals existieren wird. Es hat jedoch keinen Zweck, dies als optimistisch oder pessistisch zu betrachten, weil, falls ich ihn richtig verstanden habe, nur unsere Zukunft von Wichtigkeit ist, und es sich lohnt, nach dem Unerreichbaren zu streben.
Karl Ragnar Gierow
auf die Verleihung des Nobelpreises
Ich bitte Sie, mir zu erlauben, im Namen des Lichtes und der Transparenz zu Ihnen zu sprechen. Diese beiden Elemente definieren den Raum, in dem ich gelebt habe, und in dem es mir vergönnt war, mich zu vollenden. Elemente auch, die ich nach und nach durchdrungen habe, mit dem Verlangen, mich auszudrücken.
Es ist gut und richtig, einen Beitrag zur Kunst zu liefern mit dem, was die persönlichen Erfahrungen und die Tugenden der Sprache ermöglichen. Dies um so mehr, da die Zeiten düster sind. Da ist es vorteilhaft, eine möglichst umfassende Übersicht über die Dinge zu haben.
Ich spreche nicht von der natürlichen Fähigkeit, Dinge in all ihren Details wahrzunehmen, sondern von der Fähigkeit der Metapher, nur das Wesentliche; ihre Essenz zu behalten, und sie in einer solchen Reinheit erscheinen zu lassen, daß ihre metaphysische Bedeutung wie eine Offenbarung erscheint.
Ich denke hier an die Art und Weise, wie die zykladischen Bildhauer mit ihrem Material umgingen. Sie haben es fertiggebracht, die Materie über sich selbst hinauszutragen. Ich denke auch an die byzantinischen Ikonenmaler, denen es gelungen ist, unter Zuhilfenahme der reinen Farbe das Göttliche auszudrücken.
Das, will mir scheinen, ist ein ähnlicher Angriff auf das Reelle – durchdringend und verwandelnd −, wie es die hohe Berufung der Poesie immer war. Sich nicht beschränken auf das, was ist, sondern weitergehen, zu dem, was sein könnte. Sicher, solches Vorgehen hat nicht immer Anklang gefunden. Vielleicht, weil die Kollektivneurosen es nicht gestattet haben, weil das Nützlichkeitsprinzip den Menschen nicht erlaubte, die Augen so weit wie möglich offen zu halten.
Die Schönheit, das Licht – manchmal hält man sie für unbedeutend. Und doch, die innerliche Annäherung an die Form des Engels ist meiner Meinung nach sehr viel schmerzhafter als die andere, die Dämonen aller Art gebiert.
Es gibt ein Rätsel, ein Wunder, das nicht darin besteht, daß Licht- und Schattenspiele in Szene gesetzt werden, nur um zu beeindrucken. Es ist das, was ein Wunder bleibt, auch im hellen Licht betrachtet. Es braucht ein Aufblitzen, das uns verführt, das wir „das Schöne“ nennen. Schönheit – vielleicht der einzige Weg zu den uns selber unbekannten Seiten unserer selbst und zu dem, was über uns ist. Das könnte eine weitere Definition der Poesie sein: Die Kunst, uns das näher zu bringen, was über uns steht.
Das All ist übersät von unzähligen geheimen Zeichen, die wie Silben einer uns unbekannten Sprache uns herausfordern, Worte zu bilden, und mit diesen Worten Sätze zu komponieren, deren Entzifferung uns zur tiefsten Wahrheit bringt.
Wo befindet sich nun, in letzter Analyse, die Wahrheit? Im Verschleiß, im Tod, den wir tagtäglich rund um uns herum bemerken, oder im Glauben, daß unsere Welt unzerstörbar und ewig ist? Ich weiß, es ist besser, Wortschwälle zu vermeiden. Die kosmischen Theorien, die einander im Lauf der Zeit gefolgt sind, haben Wortschwälle nicht vermieden. Die einen sind den andern gefolgt, haben ihre Glanzzeiten gehabt und sind dann wieder verschwunden.
Aber das Wesentliche ist geblieben und wird bleiben.
Es ist die Poesie, die dort beginnt sich auszubreiten, wo der Rationalismus seine Waffen streckt. Sie dringt in die verbotenen Zonen vor und beweist damit, daß sie es ist, die noch am wenigsten verbraucht und abgenutzt ist. In der Reinheit ihrer Form schützt sie die permanenten Gegebenheiten, durch die das Leben verletzlich bleibt. Ohne sie und ihre Wachsamkeit würden sich diese Gegebenheiten im Dunkel des Bewußtseins verlieren wie Algen in den Tiefen des Meeres.
Dies ist der Grund, weshalb wir so dringend der Transparenz bedürfen: Die Knoten im Faden, der die Jahrhunderte umspannt und uns hilft, uns aufrecht auf unserer Erde zu halten, klar zu erkennen. Diese Knoten und (Ver-)Bindungen erkennen wir deutlich von Heraklit über Plato bis zu Jesus. Auf verschiedene Art sagen sie alle dasselbe: Daß im Inneren dieser Welt eine andere Welt enthalten ist, und daß diese innerste Welt sich aus Elementen unserer Welt zusammensetzt; und daß diese zweite, innere Realität sich über derjenigen befindet, die wir widernatürlicherweise leben. Auf diese Realität hätten wir ein Recht, aber unsere Unfähigkeit macht uns ihrer unwürdig.
Es ist kein Zufall, daß in den „gesunden“ Epochen das Schöne mit dem Guten identifiziert wurde und das Gute mit der Sonne. In dem Maße, in dem das Gewissen sich reinigt und mit Licht erfüllt, ziehen sich die dunklen Seiten zurück, verschwinden. Das, was daraus resultiert, stützt sich auf zwei Aspekte, ich nenne es das „Hier“ und das „Jenseits“. Hat nicht schon Heraklit von der Harmonie gegensätzlicher Spannungen gesprochen?
Es ist nicht wichtig, ob Apollo oder Venus, Christus oder die Jungfrau Maria das darstellen oder personifizieren, was wir materialisiert, und nicht nur als Idee, benötigen. Wichtig ist nur der Hauch der Unsterblichkeit, und meiner bescheidenen Meinung nach muß die Poesie, entgegen aller doktrinaler Argumente, erlauben, diesen Hauch zu atmen.
Warum mich hier nicht auf Hölderlin beziehen, den großen Dichter, der mit demselben Blick auf die Götter des Olymp wie auch auf Christus geschaut hat? Die Stabilität, die er einer Vision verliehen hat, bleibt unschätzbar, die Weite, die er uns eröffnet hat, immens, fast möchte ich sagen erschütternd. Es war diese Vision, die ihn, in einer Zeit, wo das Übel unserer Zeit eben begann, ausrufen ließ: „Wozu Dichter in dürftiger Zeit!“
Für die Menschen waren die Zeiten – leider – immer dürftig. Aber die Poesie hat trotzdem immer ihre Berufung gehabt. Es gibt zwei Tatsachen, die nie aufhören werden, unser Erdenschicksal zu begleiten, sie sind sich Gegengewicht.
Wie könnte es anders sein. In der Nacht werden die Sterne durch das Licht der Sonne sichtbar. Aber merken wir uns mit dem alten Weisen Heraklit, daß, wenn sie das Maß überschreitet, die Sonne Hybris wird.
Damit Leben möglich ist, müssen wir uns von dieser symbolischen Sonne ebenso in der richtigen Distanz befinden, wie unser Planet von der natürlichen Sonne.
Früher begingen wir Fehler durch Unkenntnis; heute ist es so, daß wir durch die Breite unseres Wissens Fehler machen. Indem ich das sage, beabsichtige ich mich keinesfalls der langen Reihe von Denkern anzuschließen, die unsere technische Zivilisation kritisieren. Eine Weisheit, die so alt ist wie das Land aus dem ich komme, hat mich gelehrt, die Evolution zu akzeptieren und den Fortschritt mit all seinen Dornen und Steinen zu verdauen.
Aber nun, was wird aus der Poesie? Was bedeutet sie in unserer Gesellschaft? Hier, was ich Ihnen antworten kann: Einzig in der Poesie erweist sich die Quantität als völlig irrelevant. Ihre Entscheidung, durch meine Person dieses Jahr die Poesie eines kleinen Landes zu ehren, enthüllt den Zusammenhang der Harmonie, die sie mit der Konzeption der „Gratiskunst“ verbindet, der einzigen Konzeption, die sich gegen die allmächtige quantitative Erfassung der Werte auflehnt.
Es wäre anmaßend, mich hier auf persönliche Umstände und Bedingungen zu beziehen, und eine Lobrede auf meine Umgebung zu halten wäre es noch mehr. Aber trotzdem, manchmal ist das eben doch unumgänglich, weil solche Zwischenbeleuchtungen helfen können, Tatsachen klarer zu sehen, das ist hier und heute der Fall: Liebe Freunde, ich schreibe in einer Sprache, die nur von ein paar Millionen Menschen gesprochen wird. Aber es ist eine Sprache, die – mit einigen wenigen Veränderungen – seit mehr als 2500 Jahren ununterbrochen gesprochen wird. Diese unwahrscheinliche Zeitspanne findet sich wieder in den kulturellen Dimensionen meines Landes; seine räumliche Ausdehnung ist nicht groß, aber die zeitliche unendlich. Wenn ich Ihnen das in Erinnerung rufe, so geschieht das sicher nicht aus Stolz, sondern um die Schwierigkeiten zu zeigen, denen ein Dichter gegenübersteht, wenn er die Dinge, die ihm die liebsten sind, mit denselben Worten benennen muß, die z.B. Sappho und Pindar fast privat gebrauchten, die sich aber in der Zwischenzeit über die gesamte zivilisierte Welt ausgebreitet haben.
Wenn die Sprache nur ein einfaches Kommunikationsmittel wäre, gäbe es kaum Probleme. Manchmal jedoch ist sie ein magisches Instrument. Zudem hat diese Sprache im Laufe der Jahrhunderte eine gewisse Gestalt angenommen. Sie wurde zu einer Hoch-Sprache, und das verpflichtet.
Vergessen wir auch nicht, daß während all dieser 25 Jahrhunderte griechische Poesie geschrieben wurde. Durch all diese Gegebenheiten erklärt sich das große Gewicht der Tradition, das dieses Instrument stützt, davon vermittelt die moderne griechische Poesie ein expressives Bild.
Man könnte sagen, daß die Sphäre, die diese Poesie formt, wie jede Sphäre zwei Pole hat: An einem dieser Pole befindet sich Dionysios SOLOMOS, dem es lange bevor MALLARMÉ auf der europäischen Literaturszene erschien, gelang, mit der größten Strenge und Kohärenz die Konzeption der reinen Poesie zu formulieren: Das Gefühl der Intelligenz unterstellen, den Ausdruck verstärken, alle Möglichkeiten des linguistischen Instruments mobilisieren, indem man sich am Wunder orientiert.
Am andern Pol befindet sich CAVAFIS, der parallel zu T.S. ELIOT erreicht hat, jede Aufgeblasenheit zu eliminieren, die Dinge kurz und exakt zu beschreiben.
Zwischen diesen beiden Polen, mehr dem einen oder dem andern zugeneigt, bewegen sich unsere großen Poeten: Costis PALAMAS, Anguélos SIKELIANOS, Nikos KAZANTZAKIS, Georges SEFERIS.
Das ist, schnell und schemenhaft skizziert, die neo-hellenistische Poesie-Szene.
Wir, die wir folgen, müssen die hohe Bildung, die man uns hinterlassen hat, hüten und sie der zeitgenössischen Sensibilität anpassen. Über die technischen Blindheiten hinaus, müssen wir zu einer Synthese kommen, die sich einerseits den Elementen der griechischen Tradition anpaßt, andererseits den sozialen und psychologischen Forderungen unserer Zeit Ausdruck verleiht. Mit anderen Worten, wir müssen das heutige europäische Griechisch in seiner Wahrheit erfassen und es zur Geltung bringen. Ich spreche hier nicht von Erfolgen, sondern von Absichten, von Bemühungen. Die Orientierungen haben ihre Bedeutung für die Literaturgeschichte.
Aber wie soll sich die Schöpfung in dieser Richtung frei entfalten, wenn die Lebensbedingungen den Schöpfer in unseren Tagen vernichten? Und wie soll eine kulturelle Gemeinschaft geschaffen werden, wenn uns die Verschiedenheit der Sprachen unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellt? Wir kennen Sie, und Sie kennen uns durch die 20-30%, die nach der Übersetzung eines Werkes übrigbleiben. Das gilt ganz besonders für diejenigen unter uns, die auf den Spuren SOLOMOS wandeln, der vom Zwiegespräch Wunder erwartet, und Worte so gebraucht sehen will, daß zwischen ihnen Funken sprühen.
Nein, wir bleiben stumm, kommunikationsunfähig.
Wir leiden am Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Die Konsequenzen dieses Fehlens einer gemeinsamen Sprache, ich glaube, ich übertreibe nicht, offenbaren sich in der politischen und sozialen Realität unseres gemeinsamen Vaterlandes, Europa.
Wir sagen, und wir stellen es jeden Tag von neuem fest, daß wir in einem moralischen Chaos leben. Und das zu einem Zeitpunkt – das ist noch nie dagewesen −, in dem die Verteilung der Güter, die unsere materielle Existenz betreffen, auf systematische Weise, mit einer Gesetzmäßigkeit, die ich beinah militärisch nennen möchte, mit unerbittlichen Kontrollen vorgenommen wird. Dieser Widerspruch ist typisch: Es gibt zwei Teile; während der eine Teil sich krankhaft vergrößert, ist der andere unterernährt. Die löbliche Absicht, die die Völker Europas anspornt, sich in einem pythagoreischen Sinn zu vereinigen, scheitert heute an der Unmöglichkeit, die atrophen und hypertrophen Teile unserer Zivilisation in Harmonie zu bringen. Unsere Werte begründen keine gemeinsame Sprache.
Für den Dichter ist die einzige Sprache, von der er fühlt, daß man sie gemeinsam gebrauchen kann, die Sprache der Gefühle. Das mag paradox klingen, aber es ist wahr. Die Art und Weise, wie zwei Körper sich anziehen, sich berühren, ist während Jahrtausenden dieselbe geblieben. Und im Gegensatz zu den -zig Ideologien, die unsere Gesellschaft fast erdrosselt haben und uns trotzdem mit leeren Händen dastehen lassen, hat sie nie Anlaß zu Konflikten gegeben.
Wenn ich von Gefühlen spreche, so meine ich nicht die unmittelbar spürbaren; ich verstehe darunter die Gefühle, die uns an die äußersten Grenzen unseres Selbst tragen, ich verstehe darunter auch die „Analogie der Gefühle“, die sich in unserem Geist formen.
Denn jede Kunst spricht in Analogien. Eine Linie, gerade oder krumm, ein scharfer oder spitzer Ton, übersetzen einen optischen oder akustischen Kontakt. Wir schreiben alle gute oder schlechte Gedichte in dem Maße, wie wir gemäß der guten oder schlechten Bedeutung eines Ausdrucks leben und denken.
Das Bild des Meeres, wie es uns Homer beschreibt, ist richtig und intakt bis heute. Rimbaud sagte „Une mer mêlee au soleii“ (ein Meer, der Sonne vermischt). „C’est là l’éternité“ (Hier ist die Ewigkeit). Ein junges Mädchen, das bei Archiloque einen Myrtenzweig in der Hand hält, lebt weiter in einem Bild von Matisse: So wird uns die mittelmeerische Reinheit faßbar gemacht. Außerdem, ist das Bild einer Madonna auf einer byzantinischen Ikone so verschieden vom Bild ihrer profanen Schwestern? Es braucht so wenig, bis sich das Licht dieser Welt in übernatürliche Reinheit verwandelt und umgekehrt. Eine Empfindung, die wir von den Alten geerbt haben, und eine andere, die uns das Mittelalter hinterlassen hat, zeugen zusammen eine dritte Empfindung, die den beiden ähnelt, wie das Kind den Eltern. Kann die Poesie auf diesem Weg überleben? Können die Empfindungen und Gefühle im Sinne dieser fortschreitenden Reinigung zu einem Zustand der Heiligkeit gelangen? Sie kommen also zurück, Analogien, heften sich an die materielle Welt und beeinflussen sie.
Es genügt nicht, unsere Träume in Verse zu bringen, das ist zu wenig. Es genügt auch nicht, unsere Rede zu politisieren, das ist zu viel. Die materielle Welt ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Anhäufung von Material. Es ist an uns, uns, indem wir mit diesem Material arbeiten, als gute oder schlechte Architekten zu erweisen, daraus das Paradies oder die Hölle zu erbauen. Es ist das, was die Poesie nicht aufhört zu bestätigen gerade in dürftiger Zeit −, daß unser Schicksal letztlich trotz allem in unseren eigenen Händen liegt.
Ich war oft versucht, über die Sonnenmetaphysik zu sprechen. Heute versuche ich nicht zu analysieren wie die Kunst in einer solchen Konzeption eingeschlossen ist. Ich beschränke mich auf eine einfache Tatsache: Die Sprache der Griechen, als magisches Instrument betrachtet, unterhält mit der Sonne – real oder symbolisch – eine intime Beziehung. Diese Sonne inspiriert nicht nur eine gewisse Lebenshaltung und somit den ersten Sinn des Gedichtes. Sie durchdringt seine Komposition, seine Struktur, und – um einen aktuellen Ausdruck zu gebrauchen – den Kern, um den herum sich die Zelle bildet, die wir Gedicht nennen.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, das sei eine Rückkehr zur reinen Form. Die Bedeutung der Form, wie sie uns das Abendland überliefert, ist eine immerwährende Fähigkeit, dargestellt durch drei oder vier Modelle. Drei oder vier Muscheln könnte man sagen, in die man die heteroklitischste Materie gießt. Heute ist das nicht mehr begreiflich. Ich war in Griechenland einer der ersten, der begann, diese Form aufzubrechen.
Was mich interessierte, undeutlich zuerst, mit der Zeit immer bewußter, war der Aufbau des Materials gemäß einer jedesmal verschiedenen Architektur. Um dies zu verstehen, braucht man sich nicht auf die Weisheit der Alten zu beziehen, die die Parthenons gebaut haben. Es genügt, sich die bescheidenen Erbauer unserer Häuser, unserer Zykladenkapellen in Erinnerung zu rufen. Sie haben in jedem Fall die beste Lösung gefunden. Ihre Lösung. Das Resultat ist praktisch und schön zugleich, so schön, daß ein Le Corbusier es nur bewundern, sich davor nur verneigen konnte.
Vielleicht ist es dieser Instinkt, der in mir erwachte, als ich mich zum erstenmal einem großen Werk wie „AXION ESTI“ gegenübersah. Ich habe begriffen, daß es nie die von mir gewünschte Solidität erhält, wenn man ihm nicht die Proportionen und Perspektiven eines Gebäudes verleiht.
Ich folgte dem Beispiel von Pindar oder dem Byzantiner Romanos Melodos, die für jeden ihrer Gesänge oder Oden einen neuen Modus fanden. Ich sah, daß die bestimmte Repetition gewisser Elemente der Versbildung, in Intervallen angewandt, meinem Werk wirklich diese Substanz gab, die sich zusammensetzt aus vielen Facetten und trotzdem symmetrisch ist, die ich mir vorgestellt hatte.
Ist es nicht wahr, daß das Gedicht, so umgeben von Elementen, die darum herum kreisen, sich in eine kleine Sonne verwandelt? Diese äußerliche, perfekte Verbindung mit dem gedachten Inhalt zu erreichen, das ist, glaube ich, das höchste Ideal des Dichters.
Die Sonne in den Händen zu halten, ohne sich zu verbrennen, sie wie eine Fackel den Nachfolgenden zu übergeben, das ist eine zwar schmerzhafte, aber ich glaube doch eine gesegnete Tat. Wir bedürfen ihrer so dringend. Der Tag wird kommen, an dem die Dogmen, die die Menschen vorläufig in Ketten halten, ausgelöscht sein werden, vor einem mit Licht überfluteten Bewußtsein, daß sie eins sein werden mit der Sonne. Dieses Bewußtsein wird die Menschen an die idealen Ufer der menschlichen Würde, der Freiheit tragen.
Odysseas Elytis
Danae Coulmas: „Mein Himmel ist tief und unaustauschbar“. Odysseas Elytis – der Schöpfer eines neuen griechischen Mythos, Merkur, Heft 401, November 1981
Asteris Kutulas erinnert sich an seine Besuche bei Odysseas Elytis
Manuel Gogos: Der Schaumgeborene
Neue Zürcher Zeitung, 5.11.2011
Hansgeorg Hermann: Kämpferische Unschuld
junge Welt, 2.11.2011
Odysseas Elytis: AXION ESTI in einer Version von Mikis Theodorakis im Lycabetus Theater in Athen im August 1977.
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