ODE AN EINEN STERN
Berauscht von der Nacht
auf der Terrasse
eines himmelhohen beleidigenden Wolkenkratzers,
gelang es mir, das Nachtgewölb zu berühren,
und in einem Akt ungewöhnlicher Liebe
raubte ich mir einen himmlischen Stern.
Schwarz war die Nacht,
und ich schlich
durch die Straße,
den entführten Stern in meiner Tasche.
Aus zitterndem Kristall
schien er,
und plötzlich war’s,
als trüge ich
einen Eisblock
am Gürtel oder eines Erzengels Schwert.
Ich verwahrte ihn
ängstlich,
daß niemand ihn entdecke,
unter dem Bett,
doch sein Licht
durchdrang
zuerst
die Wolle der Matratze,
dann
die Ziegel,
das Dach meines Hauses.
Unbehaglich
wurden
für mich
meine persönlichsten Verrichtungen.
Immerwährend mit diesem Licht
astralen Azetylens,
das da pulste, als wollte es
zurück in die Nacht,
konnte ich
keiner meiner
Pflichten mich hingeben,
und so kam es, daß ich vergaß, meine Rechnungen zu bezahlen,
und blieb ohne Brot, ohne Geldreserven.
Indes gerieten in der Straße
die Passanten
in Aufruhr, eitle
Händler,
angelockt zweifellos
von dem ungewöhnlichen Glanz,
den sie aus meinem Fenster dringen sahn.
Da ergriff ich
abermals meinen Stern,
wickelte ihn
behutsam in mein Taschentuch,
und, vermummt, vermochte ich
davonzuschreiten mitten durch die Menge.
Ich wandte mich westwärts,
hin zum Rio Verde,
der dort unter Weiden
heiter dahinfließt.
Ich nahm den Stern der kalten Nacht
und legte ihn,
sanft, auf das Wasser.
Und war nicht überrascht,
als er davonschwamm
wie ein unauflöslicher Fisch,
seinen diamantenen Leib
in der Nacht des Flusses
bewegend.
Die Geschichte der modernen Literatur, von den deutschen und englischen Romantikern bis zur Gegenwart, ist die Geschichte einer langen, unglücklichen Liebe zur Politik. Von Coleridge bis Majakowski ist die Revolution die große Göttin, die unsterbliche Geliebte und die große Hure von Dichtern und Romanciers gewesen. Die Politik füllte Malraux’ Hirn mit Rauch, vergiftete die schlaflosen Nächte César Vallejos, tötete García Lorca, überließ den alten Machado in einem Dorf der Pyrenäen seinem Schicksal, brachte Pound in die Irrenanstalt, machte Neruda und Aragon Schande, blamierte Sartre, gab Breton zu spät recht… Aber wir können der Politik nicht abschwören; es wäre schlimmer, als den Himmel zu bespucken: wir würden uns selbst bespucken.
Diese Sätze schrieb der Mexikaner Octavio Paz, neben Pablo Neruda der bekannteste Lyriker Lateinamerikas und, wie man sieht, beileibe kein Freund, sondern ein erklärter Gegner des Chilenen. Beide Dichter haben als Diplomaten, als Botschafter große politische Verantwortung getragen, beide betrachten die Politik als zentrales Thema ihres Werkes. Sie unterscheidet die Zielsetzung: Pablo Neruda stellt sich als politischer Dichter in den Dienst seiner marxistischen Überzeugung. Octavio Paz definiert, in der Nachfolge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, den Gesang des Dichters als Reflexion und Kritik, Kritik vor allem am Totalitarismus moderner Staaten, Bürokratien und internationaler Konzerne.
Der erste Band dieser Edition des Lyrischen Werkes von Pablo Neruda hat die Entwicklung von der hermetischen Poésie pure der jungen Jahre zum dichterischen Engagement im Kampf gegen Faschismus, Kolonialismus und Imperialismus nachgezeichnet. Der jetzt vorgelegte zweite Band enthält die politische Dichtung der fünfziger Jahre. Die Trauben und der Wind (1954), die drei Bücher der Oden – Elementare Oden (1954), Neue Elementare Oden (1956), Drittes Buch der Oden (1957) – und Extravaganzenbrevier (1958) dokumentieren Nerudas Stalinismus, sein vorbehaltloses Eintreten für die Politik der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers zur Zeit des Kalten Krieges und der Blockbildung, seine materialistische Weltanschauung und die schwere Krise, in die ihn die Enthüllungen des 20. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1956 stürzen. Die Gedichtbücher des zweiten Bandes des Lyrischen Werkes vollziehen in gewisser Weise die umgekehrte Bewegung der Bücher des ersten Bandes: Mit Extravaganzenbrevier beginnt die letzte Phase in Nerudas Dichten. Immer weniger befaßt er sich mit allgemeinen politischen oder geschichtlichen Themen; immer stärker bedrängen ihn Fragen der individuellen menschlichen Existenz.
Für die Kritiker von Pablo Nerudas politischer Dichtung – zum Beispiel Octavio Paz – ist Die Trauben und der Wind ohne Zweifel das beste Beispiel seiner stalinistischen Parteilichkeit und seiner Unterwerfung unter die Schreibanweisungen des sozialistischen Realismus. Dazu paßt, daß sich Neruda wenige Jahre zuvor von seinem frühen Hauptwerk Aufenthalt auf Erden wegen seines „betont pessimistische(n) Klima(s)“ distanzierte. So mag es verwundern, daß sich der Dichter, nachdem er dem Stalinismus längst abgeschworen hat, in seinen Memoiren zu diesem Buch ausdrücklich bekennt und betont, es sei ihm besonders lieb. Er schreibt:
Ich habe eigentlich eine gewisse Vorliebe für Die Trauben und der Wind, vielleicht, weil es mein am wenigsten verstandenes Buch ist oder weil ich mit seinen Seiten ausgezogen bin in die Welt. Straßenstaub ist darin und Flußwasser, Menschen kommen vor, Zusammenhänge und überseeische Orte, die ich nicht kannte und die sich mir während des Wanderns offenbarten. Es ist – ich wiederhole – eines meiner liebsten Bücher.
Will man diese Gedichte angemessen verstehen, dann genügt es nicht, daran zu erinnern, daß sie mitten im Kalten Krieg von einem Kommunisten verfaßt wurden. Entscheidend sind die unmittelbaren Auswirkungen des Ost-West-Gegensatzes auf die Person des Dichters und des Senators Pablo Neruda. Im Frühjahr 1945, kurz vor dem endgültigen Sieg der westlichen Alliierten und der Roten Armee über den Nationalsozialismus, beschließt Neruda, sich in den Dienst der einzigen Politik zu stellen, die er in Lateinamerika für vertretbar hält, in den Dienst der „Leute ohne Schule und Schuhe“. Er bewirbt sich um den Senatssitz für die nordchilenischen Provinzen Tarapacá und Antofagasta, wo sich die Salpeter- und Kupferminen befinden. Am 4. März 1945 wird er mit großer Mehrheit in den Senat gewählt. Kurz darauf tritt er in die Kommunistische Partei Chiles ein, womit er sich zu seiner politischen Option aus dem Spanischen Bürgerkrieg bekennt. Neruda, der früher große Sympathien für den Anarchismus empfand, wählt im politischen Kampf eine Partei, deren straffe Organisation und Disziplin, deren internationale Verbindungen ihm die Voraussetzungen für erfolgreiches politisches Handeln in seinem Land zu bieten schien. Die seit dem Einfall Hitlers in die Sowjetunion bestehende Koalition zwischen den Alliierten und dem Kommunismus wirkt sich auch auf die Innenpolitik Chiles aus. Die Alianza Democrática des Präsidenten Juan Antonio Ríos, die die Nachfolge der Volksfront unter Pedro Aguirre Cerda antritt, wird von der Kommunistischen Partei Chiles mitgetragen, die 1946 auch die Kandidatur von Gabriel González Videla um das Amt des Staatspräsidenten unterstützt, der eine Regierung der nationalen Einheit verspricht. Pablo Neruda wird beauftragt, den Wahlkampf für González Videla zu organisieren.
Doch kurz nach dem Wahlsieg vollzieht González Videla – der Kalte Krieg ist zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion ausgebrochen – eine scharfe Wendung in seiner Politik. Er paßt sich den Wünschen der USA vollkommen an. Das hat die Konfrontation mit den chilenischen Kommunisten zur Folge, die 1948 verboten werden. Pablo Neruda hat gegen diesen Verrat in der venezolanischen Zeitung El Nacional am 4. Oktober 1947 mit einem „Persönlichen Brief für Millionen von Menschen“ und am 6. Januar 1948 im Senat mit einer scharfen Rede protestiert, die später unter dem Titel „Yo acuso“ („Ich klage an“) veröffentlicht wird. Kurz danach ergeht ein Haftbefehl gegen ihn, doch er entkommt und taucht unter. Ein Jahr lang erlebt er die Solidarität und die Freundschaft von Dutzenden von Chilenen, die ihn, den Kommunisten, und weil er der Dichter Pablo Neruda ist, aufnehmen und verbergen. Mitte Februar 1949 überquert er im äußersten Süden Chiles in einem abenteuerlichen und gefährlichen Ritt die Anden und rettet sich nach Argentinien, im Gepäck das Manuskript des Großen Gesangs, den er größtenteils in diesem Jahr der Illegalität und Verfolgung geschrieben hat.
Auch im Ausland erfährt er die solidarische Hilfe vieler Freunde. Ähnlich wie Alejo Carpentier, der 1928 mit dem Paß des französischen surrealistischen Dichters Robert Desnos aus dem Kuba des Diktators Machado nach Frankreich geflohen ist, kann sich Pablo Neruda mit dem Reisedokument von Miguel Angel Asturias, dem er oberflächlich ähnelt und der damals in Buenos Aires lebt, aus Peróns Argentinien nach Paris flüchten. Dort unterstützen ihn Picasso, Aragon, Eluard, Supervielle, bis er im April 1949 in Paris auf dem Ersten Weltkongreß der Kämpfer für Frieden öffentlich auftritt und in den Weltfriedensrat gewählt wird. Er ist den Häschern und Verbündeten von Gonzilez Videla entkommen, doch nun beginnt für ihn das beschwerliche und bedrückende Leben des Exils, das bis 1952 dauert und dessen Erfahrungen Die Trauben und der Wind verarbeiten. Nerudas Exil fällt also zeitlich exakt mit der westlichen und östlichen Blockbildung, mit der eisigsten Phase des Kalten Krieges zusammen. Die Auswirkungen der im März 1947 verkündeten Truman-Doktrin, wonach die Welt in freie Völker und totalitäre kommunistische Regime geteilt sei, und der im September desselben Jahres vom sowjetischen Delegierten Shdanow – dem Vater des sozialistischen Realismus – beim Kommunistischen Verbindungsbüro (Kominform) aufgestellten Zwei-Welten-Theorie (imperialistisches und antidemokratisches Lager wider antiimperialistische und antifaschistische Kräfte) hat Neruda in Chile persönlich erlebt. 1949 ist das Jahr der definitiven Scheidung: Nach der Beendigung der Berlin-Blockade entstehen die beiden deutschen Staaten, wird die NATO gegründet. Kurz danach zündet auch die Sowjetunion ihre erste Atombombe. Im September 1949 marschiert Mao Tse-tung in Peking ein. Dies führt auch in Asien zur Konfrontation: 1950 bricht der Korea-Krieg aus und internationalisiert sich der Vietnam-Krieg. Als Mitglied des kommunistisch inspirierten Weltfriedensrates beteiligt sich Pablo Neruda an den ideologischen Auseinandersetzungen, indem er in West- und Osteuropa, in Asien und Lateinamerika unermüdlich reist und sich durch Lesungen und Vorträge, durch Auftritte auf Kongressen und Tagungen, bei Ehrungen und Preisverleihungen als einer der prominentesten kommunistischen Künstler hervortut. In dieser Zeit sind die Ausgaben seiner Werke und die Übersetzungen in die entlegendsten Sprachen kaum noch zu zählen.
Es liegt auf der Hand, daß diese Parteinahme nicht ohne Folgen für die Beurteilung des Dichters Neruda und für die Rezeption seiner Bücher bleibt. Das zeigt sich am deutlichsten an den zwei deutschen Staaten: Während in der Deutschen Demokratischen Republik bereits 1949 eine Auswahl seiner Gedichte mit einem Vorwort von Anna Seghers erscheint (Beleidigtes Land), wird er in der Bundesrepublik Deutschland bis in die sechzig er Jahre hinein kaum rezipiert, und auch dann nur in zusammengestutzten Ausgaben. Hier begeistert man sich eher für Jorge Luis Borges. Es ergeht Neruda wie manchem anderen Schriftsteller, der aus politischen Gründen in der Bundesrepublik der Adenauer-Restauration ignoriert wird. Ein vergleichbares Schicksal trifft Louis Aragon, im Gegensatz etwa zu Albert Camus, in beiden Teilen Deutschlands.
Neruda beginnt die Niederschrift von Die Trauben und der Wind im Frühjahr 1952 auf Capri, unmittelbar nachdem er Die Verse des Kapitäns beendet hat. Die Trauben und der Wind sind ein dichterisches Reisetagebuch und bilden das politische Pendant zu seinen persönlichen Liebesgedichten, den Verse(n) des Kapitäns, zu denen ihn seine Leidenschaft für Matilde Urrutia, seiner dritten Frau, anregt. Im Herbst des gleichen Jahres beginnt er den weiten Zyklus der Elementaren Oden und ergänzt so die autobiographische Reise- und Liebeslyrik um Natur-, Gegenstands- und Personengedichte. Dem kosmopolitischen Leben dieser Jahre entspricht die universale Tendenz des Schreibens. Die Elementare(n) Oden und Die Trauben und der Wind erscheinen 1954 kurz aufeinander in Buenos Aires und in Santiago de Chile. Die Trauben und der Wind bestehen aus 21 Gesängen. Im Prolog und im Epilog, die sie einrahmen, formuliert Pablo Neruda seine Absichten und Ziele. Als Amerikaner habe er die ganze Welt durchstreift, mit offenen Augen und frei von Haß. Trotz aller Differenzen und Auseinandersetzungen habe er überall einfache Menschen guten Willens gefunden. Von ihnen wolle er berichten, damit aus Haß Liebe und aus Krieg Frieden werde:
Wo immer ich war, noch
zwischen Dornen,
die verwunden mich wollten,
sah ich, wie eine Taube
in ihrem Flug
mein Herz anderen Herzen
verwob.
An jedem Ort fand ich
Brot, Wein und Feuer, Hände
und Zärtlichkeit.
…
Auch, der Erde gleich,
gehöre ich allen.
Keinen einzigen Tropfen
Haß birgt meine Brust. Geöffnet
sind meine Hände,
die die Trauben verteilen
im Wind.
Die zwei ersten Gesänge – „Die Trauben Europas“ und „Der Wind über Asien“ – fungieren als Ouvertüre, die alle Themen des Buches anklingen läßt. Sie handeln von Nerudas Wiederbegegnung mit Europa und mit Asien. An beide Kontinente binden ihn Erinnerungen des Unheils und der Verzweiflung. Aus Europa hat ihn, zehn Jahre zuvor, der Faschismus vertrieben; weitere zehn Jahre zurück hat er in Asien eine Zeit schlimmster Einsamkeit verbracht (1927–1932). Jetzt, erneut auf der Flucht vor einem rechten, antikommunistischen Regime, findet er Europa in Trümmern und Asien im Prozeß einer fundamentalen Verwandlung. Das allgemeine Unglück knüpft Europa auf neue Art an Asien und Lateinamerika, an alle bis dahin kolonial beherrschten Länder. Es gilt nun, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in einem radikalen Neuanfang zu überwinden. Der siegreiche Kampf gegen den Faschismus hat ein so gewaltiges Potential an Opferbereitschaft, Kraft und Hoffnung, freigesetzt, daß es möglich sein muß, eine bessere Zukunft für die gesamte Menschheit zu bauen. Daher richtet Neruda seinen Blick auf alles Fruchtbare und Schöpferische, auf den Reichtum und die Stärke des alten Kontinents, wofür das Wort Trauben steht. Die Ströme und Flüsse – die Donau, die Moldau, der Arno – symbolisieren in besonderer Weise die reinigende und erneuernde Vitalität, den heilenden Lauf der Zeit. Der Wind, der durch Asien bläst, meint den Sieg der chinesischen Volksbefreiungsarmee unter Mao Tsetung über die japanischen Invasoren und über die nationalchinesische Reaktion unter Chiang Kai-shek. Er versinnbildlicht aber auch die Überwindung des dekadenten China des 19. Jahrhunderts unter den Mandschu-Kaisern und dem Zugriff der europäischen Eindringlinge, die sich seit dem Opiumkrieg die wichtigsten chinesischen Städte und den Chinahandel aufgeteilt haben. Der unendlich schwierige Weg von den Anfängen des Kuo-min tang unter Dr. Sun Yat-sen über den Langen Marsch bis zur Verkündung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 habe, so preist Neruda, ein neues Volk, eine selbstsichere Jugend geschaffen. Dieser Befreiungskampf werde allen unterdrückten Völkern, auch in Lateinamerika, ein Vorbild sein. Neruda spricht aus eigener Anschauung; denn 1951 fährt er, zusammen mit Ilja Ehrenburg, mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mongolei und reist dann weiter nach Peking, wo er der Witwe von Sun Yatsen, Frau Sung Ch’ing-ling, im Auftrag des Weltfriedensrates den Internationalen Friedenspreis überreicht.
Man kann die 21 Gesänge von Die Trauben und der Wind in vier etwa gleich große Gruppen aufteilen. Sie betreffen die sozialistischen Länder und die westlich-demokratischen Länder Europas, die faschistischen Diktaturen in Europa und die sozialistischen Länder Asiens. Dazu kommen die einrahmenden Gesänge 1, 20 und 21, die umfassenden und autobiographischen Charakter haben. – Die Schriftstellerverbände der sozialistischen Länder unterstützen Neruda, laden ihn zu Vortragsreisen ein und edieren seine Bücher. Er bedankt sich mit Lobeshymnen auf die sozialistischen Errungenschaften. Nach dem Gegensatzschema vor der Befreiung/nach der Befreiung rühmt er ihre wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und sozialen Leistungen. Überall begegnet ihm die natürliche Herzlichkeit der arbeitenden Menschen, die ihn an die Arbeiter, Fischer und Bauern seiner chilenischen Heimat erinnern. Besonders fasziniert ist der Dichter natürlich von der Sowjetunion, die, obwohl sie die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs zu tragen und zwanzig Millionen Tote zu beklagen hatte, die Kriegsspuren fast völlig beseitigt hat. So ist der „Dritte Liebesgesang auf Stalingrad“ die Beschreibung einer blühenden Stadt. Das Gedicht „Auf Stalin, bei seinem Tode“ feiert, in der Manier absolutistischer Höflingsdichtung, den Diktator als Giganten, der, als er stirbt, die Erde erschüttert und die Natur trauern macht. Auch wenn dieses Beispiel dichterischen Personenkults den Leser erschaudern läßt, muß daran erinnert werden, daß Stalin für Neruda in erster Linie der Sieger im vaterländischen Befreiungskampf war. Nie hat er später seine stalinistische Phase verleugnet und sich stets zu seinen Irrtümern bekannt. Daher hat er das Stalin-Gedicht auch in jede Auswahl seiner Werke aufgenommen. In seinen Memoiren kommentiert Pablo Neruda seine stalinistische Vergangenheit folgendermaßen:
Viele haben mich für einen überzeugten Stalinisten gehalten. Faschisten und Reaktionäre haben mich als einen lyrischen Exegeten Stalins hingestellt. Nichts dergleichen regt mich sonderlich auf. In einer teuflisch wirren Zeit sind alle Schlußfolgerungen möglich. (…) Wenn es wahr ist, daß die Verantwortung uns alle betraf, so schenkte die Tatsache, daß jene Verbrechen angeprangert wurden, uns die Selbstkritik und die Analyse – wesentliche Elemente unserer Lehre – wieder und gab uns die Waffen in die Hand, um die Wiederholung solch schrecklicher Dinge zu verhindern. Meine Position ist folgende gewesen: aus der mir unbekannten Finsternis der stalinistischen Ära tauchte vor meinen Augen der erste Stalin auf, naiver Prinzipienreiter, nüchtern wie ein Einsiedler, titanischer Verteidiger der russischen Revolution. Überdies wuchs dieser kleine Mann mit dem gewaltigen Schnauzbart im Kriege zum Riesen heran; seinen Namen auf den Lippen griff die Rote Armee die Festung der Hitlerdämonen an und legte sie in Schutt und Asche. Trotzdem widmete ich nur ein einziges Gedicht dieser machtvollen Persönlichkeit, und zwar anläßlich seines Todes. Es ist in jeder Ausgabe meiner Gesammelten Werke. Der Tod des Zyklopen aus dem Kreml fand ein kosmisches Echo. Der Wald der Menschen erzitterte. Mein Gedicht suchte jene irdische Panikstimmung einzufangen.
In der Mitte des Buches befindet sich als zehnter Gesang „Das gespaltene Geschlecht“. Er betrifft das geteilte Deutschland und Berlin. 1951 hält sich Neruda im Mai in Berlin auf und dann wieder vom 5. bis zum 9. August, als er an den Dritten Weltjugendfestspielen teilnimmt. Der zeitliche Gegensatz vor der Befreiung/nach der Befreiung hat hier seine räumliche Entsprechung: Dem dekadenten kapitalistischen und unmoralischen West-Berlin steht der östliche Teil der Stadt positiv gegenüber: Gesund, jugendlich, blickt der Osten einer strahlenden Zukunft entgegen. Verantwortlich für die Spaltung sind die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Imperialismus ihn aus Chile vertrieben hat und dem er überall auf der Welt begegnet. Entsprechend diesem Schwarz/Weiß-Konfrontationsschema des Kalten Krieges schildert Neruda auch die anderen Länder. Die westlichen Demokratien charakterisiert der Klassenkampf. In Frankreich, Italien und England habe ihn, so beklagt er sich, die Polizei verfolgt und schikaniert. Spanien und Portugal litten unvermindert unter ihren faschistischen Diktatoren, die von den USA gestützt und finanziert würden. Auch die Niederlage der Kommunisten im griechischen Bürgerkrieg sei das Werk des nordamerikanischen Imperialismus. Nicht anders sehe die Lage in Asien aus; auch dort intervenierten die Vereinigten Staaten in Korea und immer häufiger in Vietnam.
Die Trauben und der Wind gehören ohne Zweifel zu den am meisten dem Zeitpunkt ihrer Entstehung verhafteten Büchern Nerudas. Sie sind das Dokument einer eindeutig begrenzbaren Epoche. Auch spürt man an vielen Stellen den spontanen Überschwang des Dichters im Angesicht unbekannter Länder und fremder Landschaften. Es ergeht ihm nicht anders als dem europäischen Reisenden in tropischen Regionen. Im Unterschied zu seinem skeptischen Freund Ehrenburg habe er, so sagt er in seinen Memoiren, in der Sowjetunion zunächst alles für bare Münze genommen und sich blenden lassen. Es heißt da:
Mit seiner wirren Mähne, seinen tiefen Falten, seinen nikotingelben Zähnen, seinen kalten grauen Augen und seinem traurigen Lächeln war Ehrenburg für mich der alte Skeptiker, der große Enttäuschte. Mir waren erst unlängst die Augen für die große Revolution aufgegangen, daher waren mir sinistre Einzelheiten nicht aufgefallen. Nur der allgemeine schlechte Geschmack der Epoche mißfiel mir, jene gold- und silberbeklecksten Statuen. Die Zeit sollte beweisen, daß ich mich geirrt hatte, doch glaube ich, daß nicht einmal Ehrenburg die Tragödie in ihrem ganzen Ausmaß abzuschätzen vermochte. All das sollte beim 20. Parteitag uns allen offenbart werden.
Trotz der Vorbehalte gegen Die Trauben und der Wind darf man die außerordentliche literaturgeschichtliche Bedeutung dieses Gedichtbandes nicht übersehen. Pablo Neruda unternimmt hier einen Schritt, der für die Entwicklung seines eigenen Werkes ebenso wichtig ist wie für die der gesamten lateinamerikanischen Literatur: Die Trauben und der Wind überwinden den Gegensatz zwischen regionalistischer, auf Lateinamerika bezogener und universeller, kosmopolitisch ausgerichteter Literatur. Diese beiden Pole charakterisieren die lateinamerikanische Zwischenkriegsliteratur und auch das bisherige Werk von Pablo Neruda (Aufenthalt auf Erden I und II einerseits, Der Große Gesang andererseits). Die Trauben und der Wind setzen Lateinamerika in einen wechselseitigen strukturellen Bezug zur übrigen Welt. Das betrifft in erster Linie den Inhalt der Gedichte, das heißt, die Einordnung Chiles und Lateinamerikas in das globale System der internationalen Beziehungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg könne, so denkt Neruda, in Lateinamerika kein noch so kleines und scheinbar unwichtiges Land isoliert betrachtet werden. Es betrifft aber auch die lateinamerikanische Kultur und Literatur. Durch seine Reisen knüpft Neruda zahllose Kontakte zu Künstlern, Schriftstellern und Lesern in anderen Ländern an: Er ist nicht mehr, wie in den dreißiger Jahren, als er in Europa lebte, ein spanischer Dichter, der zufällig aus Lateinamerika stammt, er ist jetzt der bekannteste Repräsentant einer eigenständigen und anspruchsvollen lateinamerikanischen Literatur. Der Chilene Pablo Neruda hat Freunde unter den Künstlern überall auf der Welt: Pablo Picasso, Rafael Alberti, Ilja Ehrenburg, Anna Seghers, Nazim Hikmet, Louis Aragon, Paul Eluard, Elsa Morante und viele, viele mehr. Die Zwiesprache mit dieser Künstlergemeinschaft durchzieht Die Trauben und der Wind wie ein Leitmotiv. So legt Pablo Neruda mit diesem Band einen Grundstein zur beziehungsreichen und vielschichtigen Literatur, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg in Lateinamerika geschrieben wird. Und auf die Dichter, die ihn ablehnen, wirkt er herausfordernd: Indem sie sich von Nerudas Stil distanzieren, führen sie die lateinamerikanische Dichtung auf neue Wege. Federico Schopf weist darauf hin, daß in Chile Nicanor Parra seine Anti-Poesie sowie Enrique Lihn und Armando Uribe ihr Dichten „in systematischer Opposition zu einigen Merkmalen von Nerudas Dichtung aus jener Zeit“ anlegen. Es vollzieht sich in Lateinamerika ein ähnlicher Wandel wie in Europa, wo der Nouveau Roman auf die Littérature engagée folgt, mit dem Unterschied, daß die lateinamerikanische Literatur dabei nichts von ihrer Welthaltigkeit einbüßt.
Pablo Nerudas ästhetisches Ziel ist und bleibt es, einfach zu schreiben. In einer Rede, die er 1953 auf dem von ihm in Santiago de Chile organisierten Kontinentalen Kulturkongreß gehalten hat, begründet er seinen Standpunkt:
Wir schreiben für einfache Leute, die oftmals nicht lesen können. Dennoch hat es auf der Erde, längst vor der Schrift und dem Buchdruck, die Dichtung gegeben. Daher wissen wir, daß die Dichtung ist wie das Brot und daß man sie mit allen teilen muß, mit den Schriftkundigen und mit den Bauern, mit unserer ganzen weiten, unvorstellbaren, außerordentlichen Völkerfamilie. – Ich bekenne, daß es mich die allergrößte Anstrengung gekostet hat, einfach zu schreiben.
Diese Auffassung entspricht dem Volkstümlichkeitsgebot des sozialistischen Realismus. Pablo Neruda denkt aber ohne Zweifel weniger an Schreibregeln als an die konkrete Wirklichkeit Lateinamerikas und Chiles, an die Aufgabe der Schriftsteller, zur Erziehung und Bildung der analphabetischen Bevölkerung beizutragen. Denn als er diese Sätze spricht, erfreut er sich, nach den zwar bewegten, aber doch bitteren Jahren der Verbannung, einer allseitigen und überschwenglichen Popularität. Bei seiner Rückkehr nach Chile am 12. August 1952 wird ihm ein nationaler Empfang bereitet. Eine anschließende Reise in den heimatlichen Süden zeigt ihm, daß ihn auch dort alle kennen. Zum Kontinentalen Kulturkongreß im April 1953 kommen so berühmte lateinamerikanische Künstler nach Santiago de Chile wie der mexikanische Wandmaler Diego Rivera, der afro-kubanische Dichter Nicolás Guillén und der brasilianische Romancier Jorge Amado. Im Dezember wird er in Moskau mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Den Höhepunkt aber seines Triumphes bilden die Feiern zu seinem 50. Geburtstag am 12. Juli 1954: Das ganze Land, der ganze Kontinent jubeln ihm zu. Schriftsteller und Künstler reisen von überall her: Miguel Angel Asturias aus Guatemala, Jean Louis Barrault aus Paris, Ilja Ehrenburg aus der Sowjetunion. Die Universität von Santiago lädt ihn zu Vorträgen über seine Dichtung ein. Er schenkt ihr seine Bibliothek. Es entsteht die Stiftung Neruda zur Förderung der Dichtung. Er kann sich der Einladungen kaum erwehren und reist von 1952 bis 1958 nach West- und Osteuropa, in die Volksrepublik China, nach Südostasien an die Orte seines früheren konsularischen Wirkens, nach Brasilien, Uruguay und Argentinien.
In diese Phase fällt die Entstehung der Elementaren Oden. Neruda greift zu einer der ältesten Formen des Lob- und Preisliedes, zur Ode, deren ursprüngliche Funktion in der griechisch-römischen Antike darin bestand, Olympiasieger, Fürsten oder Götter zu rühmen. Er stellt sich in eine Reihe mit Anakreon, Pindar, Horaz, oder, unter den Späteren, mit Ronsard, Garcilaso de la Vega oder Victor Hugo. Sie alle haben dieses Genre gepflegt, sie alle waren schon zu ihren Lebzeiten weithin bekannt als wortgewaltige Künstler, deren Lob unsterblichen Ruhm verleiht. Auch Neruda hat seine Dichtkunst immer als oficio, als Amt und als Auftrag verstanden. Er dient keinem Fürsten, er dient dem Volk, den Armen und Schwachen. Daher knüpft er auch nicht an die Ode im erhabenen Stil an, wie sie Pindar geschaffen hat, sondern versteht sich eher als Nachfolger von Horaz, dessen Oden von alltäglichen Ereignissen und persönlichen Erlebnissen erzählen und aus Versen verschiedener Metren und Strophen unterschiedlicher Länge bestehen. Auch die kleinen lebensfrohen Gedichte der Anakreon zugeschriebenen Sammlung spätgriechischer Lyrik mögen Neruda angeregt haben, auf die Form der Ode zurückzugreifen. Denn seine erklärte Absicht ist es, der Lebenslust Ausdruck zu geben, die unendliche Vielfalt der Welt zu besingen, alles und jedes in seine Dichtung mit einzubeziehen. So ist das erste Odenbuch von 1954 – die Elementaren Oden eine Mischung von Gedichten aus allen möglichen Bereichen. Zu der Naturlyrik vor allem – Pflanzen, Früchte, Blumen, Tiere aller Art und die Jahreszeiten bilden einen kunterbunten Reigen – gesellen sich Oden, die menschliche Stimmungen – Hoffnung, Freude, Liebe, Ruhe, Bescheidenheit, Traurigkeit, Einsamkeit, Faulheit, Neid – thematisieren. Der Dichter lobt alle optimistischen Regungen und kritisiert Niedergeschlagenheit und Pessimismus. Seine bevorzugten Vokabeln heißen: Klarheit, Helligkeit, Licht, Transparenz, Offenheit, Fortschritt. Alles Dunkle weist er zurück oder verbannt es – als überwunden und überholt – in die Vergangenheit. Sein Blick weist nach vorn in eine friedliche und bessere Zukunft.
Die ideologische und zeitliche Nähe des ersten Buchs der Oden zu Die Trauben und der Wind ist offenkundig. Die Elementaren Oden haben keine feste geographische Verankerung, sie sind universal, und die Themen wechseln. Auch durchziehen die Gedichte die Antagonismen der politischen Konfrontation zwischen Ost und West, die Die Trauben und der Wind charakterisieren. Und doch ist der Ton persönlicher, wärmer, manchmal ironisch und witzig, bei aller Emphase, die sich in Ausrufen, rhetorischen Fragen, Anaphern und Aufzählungen manifestiert. Der Dichter vertritt einen fortschrittsgläubigen Materialismus, wendet sich gegen jede Hoffnung auf Erlösung durch Religionen oder auf philosophischen Trost. Die Menschen sollen die Möglichkeiten der aktiven Gestaltung ihres Lebens und ihrer Geschichte erkennen und danach handeln.
Es ist kein Zufall, daß die Neuen Elementaren Oden – sie erscheinen im Januar 1956 – mit der „Ode an Walt Whitman“ schließen.
Du
lehrtest mich
Amerikaner zu sein,
erhobst meine Augen
zu den Büchern,
zum Schatz
der Getreide
sagt er in einer Apostrophe an den nordamerikanischen Dichter, der einen immensen Einfluß auf Südamerika ausgeübt hat. Die Neuen Elementaren Oden haben einen festen Standort: Pablo Neruda spricht nun von Chile und von Amerika. Er ist wieder zu Hause, entweder in seinem Haus in Isla Negra oder in den Städten und Landschaften des Südens. Auch das zweite Odenbuch wird beherrscht von der Natur, jetzt von der Natur Chiles und Südamerikas: Er besingt die Anden, die Cordilleren, den Kondor, beschreibt die Araukarie, das Kreuz des Südens, die Kartoffel, den Mais und den Kolibri, weiß die Farben und Eigenarten von Blumen, Kakteen und Schmetterlingen. Heimgekehrt, trifft er auf die wohlbekannten, in der Erinnerung verblaßten Gerüche der Hölzer, Kräuter und Strände. Doch Chile und Südamerika stehen in selbstverständlicher Beziehung zu den anderen Ländern und Kontinenten. Es ist die Aufgabe des wissenden, erfahrenen und urteilskräftigen Dichters, diese Zusammenhänge aufzudecken und allen sichtbar zu machen, besonders denen, die aus der Enge ihres begrenzten Lebensraumes noch nie herauskommen konnten. Im Prolog – „Das Haus der Oden“ – schreibt er:
Aus dem fernen Süden bin ich, Chilene,
Seefahrer,
der heimkehrte
von den Meeren
…
Ich kehrte zurück, einfach um zu arbeiten
mit den übrigen all
und für alle.
Daß alle leben
darin,
erbau ich mein Haus
aus glashellen
Oden.
Die Reflexion über die Dichtkunst, über die Aufgaben des Dichters, die Rolle des Buches, über die Bedeutung des Buchdrucks sind vorherrschende Themen der Neuen Elementaren Oden. Im wesentlichen vertritt Neruda dieselbe Position wie im ersten Buch der Oden: Er sei ein realistischer Dichter, „des Himmels Fotograf“, stellt er in der „Ode an die Möwe“ fest, und distanziert sich vom „weißen Luxus unnützen Schaumes“, das heißt, von der Poésie pure. Deutlicher noch als in den Elementaren Oden zieht der Dichter seine Schlußfolgerungen und Lehren aus den Betrachtungen, wenn er den Oden immer wieder einen didaktischen Schluß, eine Moral, anfügt. Amerika und Chile seien arm; die Menschen müßten erst lernen, daß sie über eine reiche Natur verfügten. Zweierlei sei dafür erforderlich: Zunächst müsse das Land denen gehören, die es bebauen wollten. Kein Stacheldraht solle in Zukunft brach liegende Felder umzäunen. Andererseits bedürfe die Natur des Schutzes gegen Raubbau und Erosion verursachende Ausbeutung. Erst dann sei sie wahrhaft schön, wenn sie dem Menschen Nutzen bringe und Harmonie bestehe zwischen Natur und Kultur. Neruda vermag selbst den Mond und die Sterne nicht mehr in der traditionellen Weise der Dichter zu betrachten. Im Zeitalter der beginnenden Raumfahrt malt er sich aus, wie die fernen Planeten kultiviert und zur besseren Zukunft der Menschheit fruchtbar gemacht werden könnten.
Auffallend anders präsentiert sich das Dritte Buch der Oden. Neruda veröffentlicht es im Dezember 1957 bei Losada in Buenos Aires. Im Unterschied zur bisherigen Praxis datiert er die meisten Gedichte auf das Jahr 1956. Damit deutet er an, daß sie zur Zeit der großen Entstalinisierungskrise entstanden sind. Die Verse des dritten Odenbuches klingen melancholisch, ja düster. Die Natur, die nach wie vor Thematik, Bildwelt und Metaphorik bestimmt, wird ambivalent gesehen: Neben die Frische des Frühlings und die strahlende Helle des Sommers treten jetzt auch der kühle Herbst und der eisige Winter. Das Verborgene, Geheimnisvolle, Bedrohende der Natur drängt hervor. Neruda berichtet von einem sterbenden Albatros, einem verdorrten Baum, einem toten Fisch und von einem Unglück, bei dem fünfzehn Fischer im Meer ertranken. Die Natur behält ihren Vorbild- und Sinnbildcharakter, doch nun symbolisiert sie nicht nur das Leben, sondern auch den Tod, nicht nur die Zukunft, sondern in gleicher Weise die sich in der Erinnerung aufhäufende Vergangenheit. Der Dichter reflektiert über die Vergänglichkeit der Zeit und räumt ein, daß die Kunst mehr ist als Nachahmung und Fotografie, daß sie das Leben transzendiert („Ode an den Pottfischzahn“). In der „Ode an das Schiff in der Flasche“ staunt er über die zweckfreie und geduldige Kunstfertigkeit, in einer Flasche ein Miniaturschiff zu bauen. Es dient nur den Träumen. Und die Träume sind ihm jetzt wichtig; sie sind ebenso wichtig wie das aktive und bewußte Leben („Ode an ein Dorfkino“). Besonders eindrucksvoll und bezeichnend ist die „Ode an einen Stern“: Der Dichter, der noch vor kurzem den ganzen Himmel erobern, besiedeln und erschließen wollte, ist nun nicht mehr in der Lage, einen einzigen kleinen Stern, dessen er habhaft geworden ist, zu behalten. Schleunigst muß er ihn der Natur zurückgeben. Aus dem selbstbewußten Herrscher über die Natur ist ein bescheidener Mensch geworden, der dem Kreislauf von Werden und Vergehen unentrinnbar unterliegt. Die lauten Töne der politischen Rhetorik sind fast vollständig verstummt. Unverändert versteht sich der Dichter als „armer Poet der Straßen“ („Ode an den Walzer über den Wellen“), als Chronist der gesellschaftlichen Wirklichkeit („Ode an die San Diego-Straße“), doch objektive Wahrheiten und gültige Lehren verkündet er nicht weiter. Wie verhalten, fast prägnant knapp formuliert Neruda jetzt den Bericht von einer Reise nach Moskau, so, als könne man dort nicht mehr laut und offen reden („Ode an die glückliche Reise“):
Und Moskau
öffnete seine Straßen:
seine nächtliche Helle
erwartete mich,
sein transparenter Wein.
Hart ist das Licht der Luft,
und wenn der Winter auch
Meere und Ströme
versperrt,
zu jeder Stunde doch
die Erde entflammt;
da wartet jemand, wir erkennen uns wieder:
das Leben glüht mitten im Schnee.
Das Original des Extravaganzenbreviers heißt Estravagario. Dieses Wort gibt es im Spanischen nicht. Pablo Neruda hat es erfunden und aus drei Begriffen zusammengesetzt: aus extravagante („überspannt“, „extravagant“), vagar („umherstreifen“, „müßiggehen“) oder vago („unbestimmt“, „vagabundierend“) sowie aus poemario („Gedichtsammlung“). Es ist also das Versbuch eines in der Ferne (extra 〜 „außerhalb“, „im Ausland“) Herumstreifenden, der keine festen Vorstellungen und klaren Ziele kennt und außerhalb der vielbeschrittenen Routen seiner Wege geht. Er ist ein fahrender Sänger, ein Vagant, ein umherziehender Ritter wie Don Quijote oder ein Seemann, der auf allen Meeren kreuzt. Er hat viele Leben gelebt und die Widersprüchlichkeit seines Charakters und seiner Existenz begriffen. Im „Herbsttestament“, dem letzten Gedicht des Extravaganzenbreviers, sagt er:
Durch so viele Male, die ich geboren bin,
habe ich eine salzige Erfahrung mitbekommen
wie des Meeres Geschöpfe
durch himmlische Vererbung
und mit irdischer Bestimmung.
Und so bewege ich mich, ohne zu wissen,
zu welcher Welt ich zurückkehren
oder ob ich weiterleben werde.
Dieweil die Dinge sich entscheiden,
lasse ich mein Zeugnis hier,
mein Extravaganzenbrevier,
auf daß bei häufiger Lektüre
keiner davon etwas lerne,
wenn nicht die unaufhörliche Bewegung
eines klaren und verwirrten Mannes,
eines regnerischen und heiteren Mannes,
eines energischen und herbstlichen.
Das Schwanken zwischen hellen und düsteren Strophen, das Nebeneinander von klarer Meinung und unsicherem Fragen, der persönliche, selbstironische Ton unterscheiden das schmale Extravaganzenbrevier vom optimistischen Band Die Trauben und der Wind und von den drei voluminösen Büchern der Oden. Estravagario erscheint zum ersten Mal im August 1958 in einer prächtig illustrierten Ausgabe bei Losada in Buenos Aires. Neruda ist vierundfünfzig Jahre alt und steht auf der Höhe seines Ruhmes.
Der chilenische Romancier und frühere Diplomat Jorge Edwards, ein langjähriger Freund und Mitarbeiter des Dichters, berichtet, wie zögernd und verblüfft das Publikum auf Estravagario reagierte, als Neruda 1958 in Santiago daraus einige Gedichte vortrug:
1957 bereiste er die Orte seiner Jugend, wo er einen Teil von Aufenthalt auf Erden geschrieben hatte: Rangun, Colombo und andere Städte des Orients. 1958 las er in einem kleinen Saal im Zentrum von Santiago einige Gedichte aus einem neuen Buch – Estravagario –, in dem er die Absicht klar zu erkennen gab, bestimmte Elemente seiner Jugendpoesie, und zwar ganz besonders aus Aufenthalt auf Erden, wieder aufzugreifen. Diese Absicht wurde schon im Titel des Buches, Estravagario, deutlich, einer neuen Wortschöpfung, die an Crepusculario (Abend- und Morgendämmerungen), dem ersten Buch seiner Jugenddichtung, erinnert. Als ich ihm dies am Schluß der Lesung sagte, lächelte er wie gewöhnlich ein wenig rätselhaft und fragte mich dann, ob mir nicht aufgefallen sei, daß die Reaktion des Publikums ziemlich kühl gewesen sei. Man hatte lange applaudiert, doch die stürmischen Ovationen waren ausgeblieben, die sich sonst bei seinen Lesungen einstellten. Das Publikum jener Jahre war den politischen Neruda gewohnt oder den Dichter der Liebe. Estravagario schien mehr zu stiller Lektüre als zum öffentlichen Vortrag geeignet.
Das Extravaganzenbrevier entsteht aus der tiefen Krise, die Neruda in der Mitte der fünfziger Jahre erfaßt. Sie hat eine private und eine politische Komponente. Neruda trennt sich von Delia del Carril, seiner zweiten Frau, mit der er sechzehn Jahre gelebt hat, und heiratet Matilde Urrutia. Er unterstreicht diesen Einschnitt und Neubeginn dadurch, daß er sich 1955 ein zweites Haus baut – „La Chascona“ –, das am San Cristobal-Hügel in Santiago de Chile liegt. So glücklich er durch seine Liebe zu Matilde wurde, so sehr hat er zugleich unter der Scheidung von Delia gelitten. Noch mehr aber hat ihn 1956 die öffentliche Aufdeckung der Stalin’schen Verbrechen auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion erschüttert. Er reagiert mit Unsicherheit und mit dem Rückzug aus der politischen Dichtung. Von Haupt- und Staatsaktionen, von Monumenten, Orden und Ehrungen will er nichts mehr wissen. Er verläßt die Rednertribüne des offiziellen Dichters der großen Versammlungen und mischt sich unter die einfachen Leute, teilt ihre alltäglichen Sorgen und Freuden. Er bittet darum, man möge ihn in Ruhe lassen, ihm keine Fragen stellen, da auch er keine sicheren Antworten habe. Im übrigen habe er nichts gewußt von dem Schrecklichen. Er hat den Glauben an die eindeutige Wahrheit, an den objektiven Gang der Geschichte und ihr klares Ziel verloren und steht verwirrt da, allein und verlassen, mit all seinen Fragen. Nur die „unendliche Liebe“ zu Matilde und der zyklische Ablauf der Jahreszeiten und der Natur bieten ihm Stütze und Halt. Der französische Literaturwissenschaftler Alain Sicard hat, einen Vers des Chilenen zitierend, Pablo Neruda einen „dreieckigen“ Dichter genannt. Die Gesetze der Natur, des Unbewohnten, das Unausweichliche der globalen Geschichte und die schwierige Endlichkeit der Existenz des einzelnen sind die drei Seiten dieser Struktur. Im Extravaganzenbrevier tritt die allgemeine Geschichte (und Politik) weit zurück hinter der Autobiographie, der persönlichen Erinnerung und der Natur.
Ausgelöst wird diese Besinnung und Selbstreflexion durch die Wiederbegegnung des Dichters mit seiner Heimat (zwischen 1952 und 1957), besonders mit dem Süden Chiles, aus dem er stammt, aber auch mit den Stationen seiner konsularischen Tätigkeit im fernen Asien, wo er von 1927 bis 1932 Dienst tat. Während Rangun in Burma und Colombo auf Ceylon ihm vollkommen fremd sind und zu seiner endgültig abgeschlossenen Vergangenheit gehören, fühlt er sich in der Natur des kühlen und regnerischen Südens – der Süden Lateinamerikas entspricht dem Norden Europas – sofort wieder zu Hause. Dort hat er seine Wurzeln. Das Meer, der Sand der Strände, die Wogen, der Wind und die Sterne, die Wälder, Berge und Seen, die Bauern, Fischer und Hirten bilden die Welt, die ihm Schutz bietet und Frieden. Er erinnert sich an seine Kindheit, an die Zeit der Pioniere, als sein Vater das harte Leben eines Lokomotivführers im „Wilden Süden“ von Chile führte. Von dort läßt er die Hölzer kommen, aus denen er sein Haus in Santiago baut, um in dieser Stadt, die er bald liebt, bald wieder haßt, immer umgeben zu sein vom Geruch der heimatlichen Wälder. Seine Häuser in Isla Negra, Santiago und Valparaiso (Neruda ist ein unermüdlicher Erbauer von Häusern) sind vollgestopft mit Sammlungen von Steinen und Muscheln, von Büchern über Pflanzen und Tiere. Der permanente Wandel in der Dauer der Natur ist das Fundament von Nerudas Poesie. Die Natur ist Gegenstand und Material seiner Verse. Sie ordnet auch das Leben der Menschen, sein eigenes Leben; denn die Menschen unterliegen gleichfalls den Regeln und Gesetzen der Natur.
Doch Neruda überläßt sich keiner naiven Naturlyrik. Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse besitzen die Menschen, so meint er, kein in die Tiefe der Dinge reichendes Wissen von den Gesetzen der Natur. Auch eine gleichsam mystische Vereinigung von Mensch und Natur schließt er aus. Dem Dichter gelingen allenfalls intuitive Einblicke und Einfälle; er ahnt, was wir alles nicht wissen:
So wenig ist, was wir wissen,
und so viel, was wir nur vermuten,
so langsam lernen wir,
daß wir fragen, und schon sterben.
Besser, wir wahren den Stolz
für die Stadt der Verstorbenen
am Tag der Toten.
Und dort, wenn der Wind durch die Löcher
deines Schädels fährt,
wird er dir so viele Rätsel enthüllen,
indem er dir die Wahrheit zusummt,
wo einst deine Ohren waren.
Die Natur ist nicht nur Entstehen und Leben, sie ist auch Vergehen und Tod. Eine Stimmung von herbstlicher Melancholie, von Tristesse, Resignation und die Angst vor dem Tode durchziehen das Extravaganzenbrevier. Weit weg sind wir hier von der meist kraftvollen Sicherheit der Oden. Das Buch ist aber auch keine Rückkehr zur ausweglosen Verzweiflung der ersten zwei Teile von Aufenthalt auf Erden. Trotz aller Enttäuschungen und bitteren Erfahrungen kann Neruda Matildes Liebe vertrauen. Auch hat er zuverlässige Freunde. Er verficht nun nicht mehr mit emphatischen Versen die abstrakte Brüderlichkeit aller Menschen guten Willens – zu offenkundig ist der Mißbrauch, der mit den großen Gefühlen getrieben wird –, aber er glaubt an die gelingende Kommunikation mit wenigen, in schwierigen Zeiten erprobten Freunden, an die bescheidenere und gelassenere Leidenschaftlichkeit der Liebe zwischen Menschen, die viel gesehen und erlebt haben. Aus dem Extravaganzenbrevier spricht eine menschenfreundliche Skepsis, eine philosophische Reflexion, die ihre Erkenntnisse aus subjektiver Erfahrung ableitet. Die damit verbundene Distanz zu Menschen und Dingen zeigt sich in der augenzwinkernden Selbstironie (die freilich in der deutschen Übersetzung nicht so deutlich zutage tritt wie im spanischen Original), mit der der Dichter zurückblickt auf sein bisheriges Leben.
Das Extravaganzenbrevier leitet die letzte Phase von Nerudas Dichten ein. Es bezeichnet den Übergang von der überwiegend politischen Dichtung der vierziger und fünfziger Jahre zu den reflektierenden und autobiographischen Versen der späten und postumen Bücher. Pablo Neruda nimmt hier viele Fragen und poetischen Techniken seiner frühen Gedichte wieder auf. Der faszinierende Reichtum seiner Erfahrungen erlaubt ihm, in der subjektiven Erkundung des eigenen Lebens sich allgemein gültigen Antworten auf grundlegende Fragen der menschlichen Existenz in heutiger Zeit anzunähern. Dabei vergißt er niemals seine humanistischen Prinzipien und Überzeugungen, von denen die wichtigste lautet, daß ein Dichter immer einzutreten habe für die Armen und für die Schwachen, daß er ihr Anwalt sein muß, erst recht dann, wenn er aus einem Land kommt wie Chile.
Karsten Garscha, Nachwort
schließt sich eine Lücke. Zum ersten Mal werden alle wichtigen Gedichtzyklen Pablo Nerudas vollständig zugänglich gemacht. Dort, wo auf vorhandene Übersetzungen zurückgegriffen werden konnte, auf die Pionierarbeiten, die Erich Arendt und andere in der Neruda-Übersetzung leisteten, hat sie der Herausgeber nochmals mit dem spanischen Original überprüft. Für den umfangreichen und bislang nur auf spanisch edierten Nachlaß Pablo Nerudas wurde die Übersetzerin Monika López gefunden. In seinem Nachwort geht Karsten Garscha auf die wichtigsten Lebensdaten Pablo Nerudas und die Entstehungszusammenhänge der einzelnen Gedichtzyklen ein. Ein Glossar mit Namens- und Worterklärungen beschließt jeden Band.
Der zweite Band enthält die großen Dichtungen der fünfziger Jahre, mit denen Pablo Neruda seinen politischen Kampf gegen die Unterdrückung auf dem südamerikanischen Kontinent fortsetzte und seinen weltweiten Ruhm als einer der wichtigsten Lyriker festigte.
Büchergilde Gutenberg, Klappentext, 1986
Die große dreibändige Werkedition der Gedichte Nerudas in erweiterter Neuausgabe. Enthalten sind in diesen drei Bänden nicht nur die Werke, die Pablo Neruda Zeit seines Lebens veröffentlichte, aufgenommen wurden auch die erst später im Nachlass entdeckten Gedichte des Autors.
Wenn es einen Erzpoeten im 20. Jahrhundert gegeben hat, dann war das Pablo Neruda. Er schrieb über alles, was ihn bewegte, und nahm sich vor nichts in Schutz: weder vor der Liebe noch der Politik. Als junger Mann war er bereits Diplomat seines Landes im fernen Osten, später musste er Chile verlassen und über Jahre das Leben eines Emigranten führen, und wieder Jahre später unterstützte er seinen Freund Salvador Allende, als dieser sich zum Staatspräsidenten wählen lassen wollte. Wenn Neruda seine Gedichte vorlas, füllte er Stadien, und eines seiner erklärten Ziele war es, mit seiner Poesie nicht nur die Gebildeten zu erreichen, sondern auch diejenigen, die mit Literatur nicht vertraut waren. 1971 erhielt er den Nobelpreis. Zu Nerudas Bewunderern zählen weltweit namhafteste Autoren. Renommierte Schriftsteller haben sich in den Dienst von Nerudas Werk gestellt und es ins Deutsche übersetzt. Zu ihnen zählen u.a. Erich Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries; dazu kommen so bedeutende Übersetzer wie Fritz Vogelgsang, der erst 2008 mit dem Leipziger Buchpreis geehrt wurde.
In der dreibändigen Ausgabe sind alle großen Gedichtzyklen dieses Autors vollständig enthalten. Aufgenommen wurden sie nach der Chronologie ihres Erscheinens. Enthalten sind in dieser Neuausgabe, die vor über zwanzig Jahren erstmals erschien, auch jene Gedichtzyklen, die erst später im Nachlass des Dichters gefunden und ins Deutsche übertragen worden sind. Damit macht diese Edition auf ca. 3.000 Seiten eines der wichtigsten poetischen Werke des 20. Jahrhunderts wieder in seinem ganzen Reichtum zugänglich.
Luchterhand Literaturverlag, Ankündigung (bezieht sich auf eine andere Ausgabe)
– Vereint: die Lyrik Pablo Nerudas. –
So solle seine Dichtung wirken, schrieb Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto alias Pablo Neruda Mitte der Dreißiger: „von Handarbeit abgenützt wie von einer Säure, von Schweiß und Dunst durchzogen“. Als der Nobelpreisträger 1973 starb, gehörte sein Werk schon zum poetischen Kanon des 20. Jahrhunderts. In deutscher Übersetzung wurde dieses Werk zuerst in der DDR gepflegt. Im Westen gab es Mitte der Achtziger eine repräsentative Auswahl bei Luchterhand, drei Bände stark; sie ist längst vergriffen.
Jetzt hat der Verlag die verschwundene Ausgabe in erweiterter Form noch einmal publiziert. Beide Editionen enthalten alle großen Zyklen des Meisters, auch viele Texte aus dem Nachlass. Nun stehen die Sammlungen wieder im Zusammenhang: Aufenthalt auf Erden, Spanien im Herzen („Kommt, seht das Blut in den Straßen“), Der Große Gesang, Elementare Oden, dazu Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung, ein Frühwerk (von 1924), das bis heute zu dem meistgelesenen Lyrikbänden überhaupt gehört.
Hinzugekommen sind drei Zyklen, die erst in den Neunzigern entdeckt wurden. Auf Deutsch erschienen sie bislang in Einzelausgaben: das recht schwülstige Pennäleropus „Ballade von den blauen Fenstern“, dazu „Hungrig bin ich, will Deinen Mund“ (aus dem Jahr 1959) sowie „Mare moto“ (1970), als „Beben des Meeres“ 1991 von einem Unbekannten mit dem Pseudonym „Tias“ in einem Kleinverlag publiziert. Der Leser findet nützliche Zusätze – eine Chronologie zu Leben und Werk, umfangreiche Anmerkungen sowie ein Verzeichnis der Original-Quellen und der Übersetzer.
Die Publikation hat etliche Besonderheiten, aber manche wird der Leser nicht entdecken. Von Luchterhand erfährt man: Anliegen des Verlages war es – damals wie heute –, die verstreuten Übersetzungen zu bündeln. Eine anerkennenswerte Mission. Die Vielfalt der (deutschen) Stimmen ist nun Vor- und Nachteil zugleich. Viele Übertragungen stammen aus DDR-Büchern: Texte von Erich Arendt, Stephan Hermlin, Fritz Rudolf Fries. Sie wurden für die Neuauflage nicht revidiert. (Arendts Arbeiten, von Neruda autorisiert, gelten als sakrosankt.)
Weiter: Die drei Bände zeigen nicht alle in spanischen Sammlungen enthaltenen Neruda-Poeme. (Aber welche Gedichte fehlen? Und warum?) Die Auswahl ist mithin keine kritische Edition, sondern eine Leseausgabe. Ein Vor- oder Nachwort wäre in Hinsicht auf die Eigenarten hilfreich gewesen; schade, es gibt nicht einmal eine editorische Notiz.
Auch eine Auseinandersetzung mit der ambivalenten Figur des Autors und mit der Wirkung der Politik auf seine Poesie hat der Verlag vermieden. Es gibt den einen Neruda, den Schöpfer anrührender Poeme und schlichter Liebesgedichte. Über diesen Poeten sagte Hans Magnus Enzensberger, er sei „die mächtigste Stimme des lateinamerikanischen Kontinents“. Der Verlag wirbt mit diesem Spruch. Es gab einen anderen Neruda, den gläubigen Kommunisten und Stalinpreisträger, den Klassenkämpfer im Kalten Krieg. („Westliches Berlin, du bist die Schwäre im greisen Gesicht Europas“). Mit Verweis auf diesen Neruda der Fünfziger notierte Enzensberger, „ein Strom von Parteilyrik, von polemischen Tiraden und platten Hymnen“ sei aus seiner Feder geflossen. Ein Landsmann Nerudas, Roberto Bolaño, formulierte es 2002 noch drastischer:
Wer imstande war, Oden an Stalin zu verfassen und die Augen vor dem stalinistischen Horror zu verschließen, hatte meinen Respekt nicht verdient.
Nach 1953 hat sich der Dichter vom Diktator distanziert, ein Stück weit eben, nicht zu sehr. Nerudas Lobgesänge auf den „fernen Völkerführer“ („Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen“) und die Enttäuschung über dessen Demaskierung („Ich wußte ja nicht, was wir alles nicht wußten“), all die Spuren innerer Kämpfe findet der Leser jetzt in den drei Bänden. Er muss allerdings suchen. Leider: Auch in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte verharrt Luchterhands Neuausgabe auf dem Stand der Achtziger. Und worin liegt der Wert der Edition? Verlagslektor Klaus Siblewski bringt es auf den Punkt:
Der wichtigste Wert besteht darin, daß es die Bücher wieder gibt.
Pablo Neruda (1904-1973) war der größte Dichter des 20. Jahrhunderts. Der Luchterhand Literaturverlag hatte sein gesamtes lyrisches Werk in der 80er Jahren in einem Sammelband herausgebracht, der jedoch längst vergriffen ist. Nun aber liegt eine Neuauflage vor und sie begeistert schon deshalb, weil sie um jene drei Zyklen des Literaturnobelpreisträgers von 1971 erweitert wurde, die erst in den 90er Jahren entdeckt wurden.
Die Gedichte. Band 1 – 3 ist die Sammlung schlicht betitelt und sämtliche Werke sind chronologisch nach ihrem Erscheinen aufgeführt. Deshalb beginnt das gewaltige Konvolut auch mit den einzigartigen „Balladen von den blauen Fenstern“, die erst 1996 im Nachlass gefunden und dann 1997 unter dem Originaltitel „Die Schulhefte von Temuco“ erstmals veröffentlicht wurden.
Dieser Titel war in der Tat wörtlich zu nehmen, denn die noch völlig unpolitischen Verse dieser 48 Gedichte hatte Neruda als gerade 15-jähriger Schüler verfasst. Im Mittelpunkt wie auch später so oft die Liebe und die Einsamkeit des Poeten, dessen Mutter bei der Geburt gestorben war. Die anderen spät entdeckten Zyklen „Hungrig bin ich, will deinen Mund“ (1959) und „Beben des Meeres“ (1970) sind ebenfalls gemäß ihrer Entstehung eingeordnet.
Damit geht der Reigen großartigster Dichtkunst, in der der chilenische Poet spätestens seit seinem ersten frühen Meisterwerk Aufenthalt auf Erden (1925-1931) die Formen auflöste und freie Formen virtuos mit klassischen Formen vermischte, von einem Jugendgedicht wie der „Ballade von der traurigen Kindheit“ bis zu „Schlendern mit Laforgue“ aus dem 1974 posthum veröffentlichten Zyklus „Ausgewählte Mängel“.
Wer ein wenig sucht, wird auch Nerudas Loblieder auf Stalin aus den frühen 50er Jahren finden (Zyklus „Die Trauben und der Wind“) und die wurden ebenso unverändert übernommen wie die zahlreichen Übersetzungen durch namhafte DDR-Künstler wie Erich Arendt oder Stephan Hermlin. Mag der bekennende Kommunist Neruda hier auch eine nur dürftige Revidierung vorgenommen haben, so macht allein schon der grandiose Canto General (Der große Gesang) von 1959 auch diese Sünde wider den gesunden Menschenverstand allemal wett und unvergessen ist auch die kongeniale musikalische Umsetzung dieses genialen Zyklus durch den griechischen Komponisten Mikis Theodorakis Anfang der 70er Jahre.
Und als Verehrer einer Dichtkunst mit Oden von hinreißender Leidenschaft des Gefühls und einer unaufhörlichen schöpferischen Kraft der Worte, die von Ehrfurcht gebietender Schönheit ist, muss man geradezu dankbar sein, dass nichts verändert oder ausgelassen wurde. Festzustellen ist dazu, dass diese Sammlung keine kritische Ausgabe ist und weder Vor- noch Nachwort, dafür allerdings ein hilfreiches Register und eine Chronologie zu Leben und Werk des Dichters enthält. Zugleich macht ein gar nicht zu überschätzender Umstand diese Neuauflage so ungeheuer wertvoll: dass es sämtliche bis heute bekannten Gedichte Nerudas endlich in einem Konvolut gibt.
Gedichte – egal von wem: Schwere Kost, schwieriges Thema.
Insbesondere bei Pablo Neruda benötigt es Zeit, sich in dessen Gefühlsleben hinein zu versetzen.
Als Autor eigener Zeilen weiß ich, wie essentiell wichtig es ist, trotz mannigfaltiger Ablenkungen Stimmungen und Gefühle in Worte zu transportieren. Was mir selbst, umgeben von Lärm und Hektik des Alltags, zugegeben, nicht immer gelingt.
Deshalb bin ich nur fähig, eine erste Gemütsdarstellung nach wenigen gelesenen Silben zu rezensieren: Die Bände sprühen über vor Empathie, tiefer Besinnung und Reflexionen über alltägliche Dinge des Lebens. Jedoch: Ich empfinde, dass ich bei intensiverer Betrachtung ein tiefes Mitgefühl und Verständnis für die Liebe zum Leben entwickeln werde.
Der chilenische Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda (1904–1973) gehört zu den bedeutendsten Dichtern des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Werk trug er wesentlich zur Weltgeltung der lateinamerikanischen Literatur bei.
Der Sohn eines Lokomotivführers und einer Lehrerin schrieb schon mit 18 Jahre seine ersten Gedichte unter dem Pseudonym Pablo Neruda. Seine leidenschaftlichen Liebesgedichte machten ihn bereits als Zwanzigjährigen berühmt. Von 1927 bis 1943 war er Honorarkonsul in verschiedenen Ländern. Als er in seine Heimat zurückkehrte, trat er der KP Chiles bei und musste 1948 nach deren Verbot ins Exil fliehen. Hier unternahm er zahlreiche Reisen, ehe er 1953 nach Chile zurückkehrte, wo man ihn mit Ehrungen überhäufte. Den gewaltsamen Sturz seines Freundes Salvador Allende 1973 überlebte Pablo Neruda nur um zwölf Tage.
Nun liegt nach über zwanzig Jahren wieder eine große dreibändige Werkedition der Gedichte Pablo Nerudas im Luchterhand Literaturverlag vor, der sich seit den 60er Jahren um das Werk des chilenischen Dichters in deutscher Sprache verdient macht. Die erweiterte Neuausgabe enthält nicht nur die Lyrik, die Neruda Zeit seines Lebens veröffentlichte, sondern auch die im Nachlass entdeckten Gedichte des Autors.
Die dreibändige Ausgabe im Schmuckschuber bringt neben den großen Gedichtzyklen auch die für den deutschen Leser bisher weniger bekannte Lyrik Nerudas. Band 1 beginnt mit den frühen Gedichtzyklen „Balladen von den blauen Fenstern“ (1919–20) und „Zwanzig Liebesgedichte“ (1924), die von Melancholie und Innerlichkeit geprägt sind, aber schon die Herausbildung eines eigenen lyrischen Stils zeigen.
Höhepunkt im lyrischen Schaffen Pablo Nerudas ist das gewaltige Versepos Der Große Gesang (Canto general, 1950), in dem der Dichter Ende der 30er Jahre Lateinamerika, dessen Geschichte und die alten indianischen Kulturen wiederentdeckte. Die 15.000 Verse sind eine Hymne auf die Geschichte, Landschaft und Menschen des südamerikanischen Kontinents. Mit diesem weit gespannten und epochalen Werk wollte Neruda, wie er selbst sagte, die durch den Feudalismus, durch Rückständigkeit und fremde Ausbeutung hinausgezögerte Geburt eines Kontinents in das historische Bewusstsein des Volkes heben. Darüber hinaus gilt Canto general auch als Völker verbindendes humanes Bekenntnis für die Menschenrechte.
Der zweite Band versammelt vorrangig die Gedichtzyklen der 50er Jahre, u.a. Die Trauben und der Wind, der wegen des stalinistischen Tenors umstrittenste Lyrikband des Autors. In seiner umfangreichen Sammlung von Oden Elementare Oden (1954), Neue Elementare Oden (1956) und Drittes Buch der Oden (1957) preist Neruda die einfachen Dinge des Lebens, während er in Extravaganzenbrevier (1958) die Probleme seiner eigenen Entfaltung verarbeitet.
Im Mittelpunkt des dritten Bandes steht Nerudas eindringliches Lebenszeugnis Memorial von Isla Negra (1964), in dem Dichtung und Biografie verschmelzen. Wie in seinen Memoiren legt er hier eine kritische Rechenschaft über sein Verhältnis zum Stalinismus ab. Der Gedichtzyklus gilt als das Hauptwerk in Nerudas später Phase. Den Abschluss der Edition bildet das postume lyrische Werk mit acht Gedichtzyklen, die erstmals 1974 erschienen waren.
Nerudas Lyrik ist eine erzählende und stimmungsvolle Lyrik mit leidenschaftlichen Lebens- und Naturbildern. Obwohl ihr mitunter der Hang zum Pathos anhaftet, wirkt sie in der Verbindung von politischen Engagement und humanistischer Grundhaltung absolut glaubwürdig, ja beispielgebend.
Die preiswerte Edition aus dem Luchterhand Literaturverlag macht auf knapp 3.000 Seiten mit einem der wichtigsten poetischen Werke des 20. Jahrhunderts bekannt. Schnell wird dem Leser bewusst, dass dies Gedichte sind, die einen ein Leben lang begleiten können, denn es gibt in ihnen immer etwas Neues zu entdecken. Insgesamt eine sehr gelungene und längst fällige Gedichtsammlung.
Manfred Orlick
– Pablo Nerudas lyrisches Werk wird ediert. –
Vor mehr als zwanzig Jahren gab es eine Debatte über den „Fall Neruda“. Hans Magnus Enzensberger hatte sie eröffnet, indem er die Frage aufwarf, wie ein Bahnbrecher der lyrischen Moderne sowohl mit der literarischen Tradition der Gattung als auch mit seinem eigenen Frühwerk brechen konnte, um bei beklemmendem Niveauverlust zum Parteibarden und Stalinhymniker herabzusinken.
Pablo Neruda, Nobelpreisträger 1971, hatte als Verfasser von Liebes- und Naturlyrik begonnen, hatte die Schönheiten seiner südchilenischen Heimat mit ihren Vulkanen und antarktisnahen Regenstürmen, ihren aus Indianern und europäischen Einwanderern gemischten Bewohnern besungen und die Holzarbeiter und Eisenbahner jener Armutsgegend, dem patagonischen „Grenzland“, poetisch ins Werk gesetzt.
Dann verbrachte der Chilene lange Jahre als Konsul seines Landes in Ostasien, später in Argentinien und in Spanien. Dort erlebte Neruda aus unmittelbarer Anschauung die Greuel des spanischen Bürgerkrieges; besonders erschütterte ihn das düstere Verbrechen der Erschießung seines Freundes García Lorca durch die Francisten, Neruda wurde, freilich vor dem Hintergrund seiner lateinamerikanischen Herkunft, zum politischen Dichter, zum konsequenten Parteimann zunächst der chilenischen KP, später auch internationaler Reisestar und vielbeachtete Figur unter den engagierten Poeten, Stalinpreisträger 1953.
Die Vorhaltungen Enzensbergers, schwungvoll, aber offenbar ohne genauere Kenntnis von Nerudas Œuvre heraustrompetet, ließen sich hierzulande niemals recht überprüfen, weil es in der Bundesrepublik an einer brauchbaren Neruda-Ausgabe mangelte. Die triste zweibändige Luchterhand-Auswahl Dichtungen von 1967 (1977 wurde sie nochmals einbändig nachgedruckt) verdient hier Erwähnung als eine der widerwärtigsten Klitterungen unseres Buchmarktes. Hatte Enzensberger den Stalinisten und Programmsänger Neruda aufs Korn genommen, so präsentierte der sonst so verdienstliche Lyriker und Übersetzer Erich Arendt nunmehr – offenbar im Gegenzug – einen bürgerlich zurechtgetrimmten Neruda, einen Dichter folglich, dem man die Zähne gezogen hatte, indem man stalinistische Texte ebenso unterschlug wie Nerudas wütende Angriffe gegen Hitler-Deutschland und den US-Imperialismus. Neruda selbst hat sich übrigens stets ausdrücklich zu seinen Irrtümern bekannt und beispielsweise die kitschige Ode auf Stalins Tod (in Die Trauben und der Wind, 1954) in späteren Ausgaben nachdrucken lassen. So findet sich der bundesdeutsche Neruda-Leser noch immer eingeklemmt zwischen Enzensbergers rüder Kritik und einem übel geschönten Neruda-Bild der älteren Edition. Deshalb ist es zu begrüßen, daß nunmehr endlich eine dreibändige Ausgabe von Nerudas „Lyrischem Werk“ Gelegenheit gibt, diesen Koloß, den Verfasser des wohl umfänglichsten Vers-Œuvres in unserem Jahrhundert, unverstellt und textgetreu zu besichtigen.
Der erste Band umfaßt die Werkspanne zwischen den Zwanzig Liebesgedichten von 1924 bis hin zu den Versen des Kapitäns von 1952, er enthält mithin auch die Riesenzyklen Aufenthalt auf Eden und den Großen Gesang von 1950. Vom Schmerzens- und Verzweiflungston der frühen erotischen Verse über die Politisierung in den dreißiger Jahren bis hin zur weiträumigen Kosmogonie des amerikanischen Kontinents mit seinen historischen Aufschwüngen und Niederbrüchen von der Kolonialzeit bis zur gegenwärtigen Wirtschaftsausbeutung zeichnet sich nicht nur das Dasein dieses markanten Dichters, sondern die Schicksalskurve des ganzen Jahrhunderts ab.
Editorisch bringt dieser erste Band wenig Neues: Das frühe Buch der Morgendämmerung (1923) fehlt leider, obgleich es einige der bekanntesten Neruda-Strophen enthält. Die übrigen Zyklen stellen eine Buchbindersynthese älterer Ausgaben aus DDR und Bundesrepublik dar. Übersetzer sind Erich Arendt, Stephan Hermlin und Fritz Vogelgesang. Da man leider nicht zweisprachig edieren wollte, bleibt immerhin zu sagen, daß die Übertragungen Abstand halten vom Prinzip „Nachdichtung“ und in passabler Weise zu erkennen geben, was in den Originalen steht, wie die großformatigen Ringkompositionen Nerudas angelegt sind (allein der Große Gesang umfaßt weit über dreihundert Gedichte), wie Abschnitte, Strophen, Verse sich gliedern.
Eher enttäuschend bleibt das editorische Beiwerk. Zwar sind Abweichungen und Auslassungen gering gegenüber der dreibändigen argentinischen Ausgabe von Nerudas Dichtung. Da der Herausgeber sich aber ausdrücklich auf diese Edition stützt, hätte er überprüfen und ältere Übertragungen aktualisieren müssen. Ganz unbefriedigend bleibt der kommentierende Aufwand: Gut zwanzig Seiten Namen und Daten, obendrein zumeist aus älteren DDR-Ausgaben übernommen, genügen in keiner Weise, hier hätten Herausgeber und Verlag erheblich ergänzen müssen.
Immerhin: Auch wenn dieser erste Neruda-Band wenig Überraschendes beschert, so ist allein schon sein gründliches Sammelverfahren nützlich und geeignet, unserem Neruda-Bild jenseits von Polemik und kaltem Krieg Kontur zu verleihen. Mit Interesse darf man den nächsten Bänden, vor allem dem erstmals auf deutsch erscheinenden Spätwerk Nerudas, entgegensehen. Federico Schopf, exilierter Landsmann des chilenischen Dichters, hat eine kleine Neruda-Anthologie in Text und Bild erstellt: Chile mein Land. Hier findet, am Leitfaden von Biographie und Natur, ein Streifzug durch Nerudas gigantisches Werk statt. Ob es sinnvoll ist, sich blätternd, punktuell lesend, Fotos betrachtend, diesem Schriftsteller anzunähern, wobei der politische Aspekt einmal mehr fast ganz ausgeblendet wird, steht dahin. Was zum „Fall Neruda“ jetzt not tut, ist nicht Schnitzeljagd und Aphorismus, sondern ein unvoreingenommenes Sicheinlassen auf die tatsächlichen Dimensionen dieses Schlüssel-Œuvres der modernen Weltliteratur.
Hanspeter Brode, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.1984
– Das lyrische Werk Pablo Nerudas in drei Bänden. –
Der Chilene Pablo Neruda hat das wohl umfangreichste lyrische Werk von Rang in unserem Jahrhundert geschaffen: ungefähr dreißig Gedichtbände mit zusammen weit über fünftausend Seiten. Nerudas Lyrik gruppiert sich in weiträumigen Zyklen, von denen einige, zum Beispiel der Canto general von 1950 oder die vielteiligen Odenwerke, Aberhunderte von Gedichten umfassen.
Diesen Koloß in deutscher Übertragung zu würdigen, ermöglicht eine Werkausgabe in drei voluminösen Bänden, deren letzter jetzt vorliegt. Er präsentiert neben den späten Zyklen des. Dichters das postume Werk erstmals auf deutsch. Sein Inhalt: die Sammelbände Seefahrt und Rückkehr, Memorial von Isla Negra, Die Hände des Tages, Weltende und „Noch“ erschienen zwischen 1959 und 1971. Dem ist eine Auswahl des postumen Werkes in acht (von siebzehn überlieferten) Gedichtbänden Nerudas angefügt.
Einen bedeutenden Gewinn für hiesige Leser stellt die gewaltige Sammlung Memorial von Isla Negra von 1964 dar, die es bislang nur in einer älteren DDR-Ausgabe gegeben hatte. Der Dichter rekapituliert in den frei ausschwingenden Versen und Odenstrophen dieses Erinnerungsbuches in bewegender Weise noch einmal seine Lebensstationen: die Herkunft aus „Araukanien“, dem rauhen Süden Chiles, die einfache Abkunft der Eltern (Nerudas Vater war Eisenbahner), Schulzeit und Lektüren (beispielsweise werden Nietzsche, Gorki und Victor Hugo genannt), dann die Studentenjahre, erste Liebeserlebnisse, die Jahre als chilenischer Konsul in Ostasien, die einschneidende Erfahrung des spanischen Bürgerkrieges und die spanischen Freunde, vorab García Lorca, zuletzt auch Reflexionen zu Chiles politischer Gegenwart. Ein ins Große zielender Wehmutston beherrscht diese Versmassen; die Tradition europäischer Dichtung, zum Beispiel der Klang Heinrich Heines, stellt sich ein, wenn es heißt:
Mitten in der Nacht frage ich mich,
was geschieht mit Chile?
Weitere Gedichtsammlungen Nerudas sowie das postume Werk sind abgestimmt auf Kindheitsbeschwörungen und gelassenen Lebensrückblick, auf Fragen am Ausgang unseres Jahrhunderts sowie andeutungsweise auf den politischen Kampf, dem Neruda sich in den letzten Lebensjahren als Weggefährte Salvador Allendes besonders intensiv aussetzte. Die „Osterinsel“ mit ihren Riesenmalen wird besungen, die Vulkanlandschaft des heimatlichen Südens ist gegenwärtig wie ein fortdauernder cantus firmus, mit „Gautama Christus“ klingen Reminiszenen aus der asiatischen Sphäre an, die sich – Spannweite von Pablo Nerudas Denken und Bilden – mit Nixon und Napalmbomben in Vietnam überkreuzen.
Besonders sind es die beiden Schockerfahrungen seiner politischen Vergangenheit, die Neruda in beständiger Erschütterung umkreist: zum einen die Erinnerung an das republikanische Spanien, dessen blutige Niederwerfung Neruda zum politischen Dichter formte. Zum anderen das Eingeständnis der katastrophalen Fehleinschätzung Stalins, die im Gefolge der Entstalinisierung durch Chruschtschow 1956 eine schwere Krise im politischen und dichterischen Selbstwertgefühl Nerudas auslöste.
Ein „Stalin“-Gedicht im 1974 veröffentlichten Zyklus „Elegie“ rührt abermals an diese peinvolle Wunde:
Da kam der Teufel, gab ihm Stricke,
gab Peitschen ihm und Taue.
Das Land war voll von seinen Plagen,
in jedem Park hing ein Gehenkter.
Neruda, der gewaltige Poet, war großartig auch in seiner Redlichkeit, Irrtümer einzubekennen: und so darf er sich am Ende seines Lebens als Dichter bezeichnen, der mehr als einer Weltepoche zugehört:
Denn ich Klassiker meines Araukaniens,
Kastilier den Silben nach, doch Zeitgenosse
El Grecos und der geschundenen Seinen,
Kind Apollinaires oder des Petrarca
heißt es voll stolzen Selbstgefühls im allerspätesten Werk des Chilenen. Die drei dickleibigen Bände mit Nerudas Lyrik bieten einen repräsentativen Querschnitt. Dabei wurden aus dem letzten Werk die scharf zugespitzten politischen Gedichtbände ausgeschlossen, so etwa das Fidel Castros Revolution feiernde Heldenepos von 1959 oder die 1973 geschriebene harsche „Anstiftung zum Mord an Nixon und Lob der chilenischen Revolution“. Die vorliegende großräumige Auswahl akzentuiert also ein eher poetisches und wohl auch autobiographisch-nostalgisches Bild des Dichters.
Jede einsprachige Darbietung von Lyrik wirft editorische Fragen auf. Wie bei den früheren Lyrikbänden erklärt der Herausgeber die argentinische Neruda-Ausgabe von 1973 zur verbindlichen Textgrundlage (siehe F.A.Z. vom 12. September 1984 und 25. November 1985). Aber dies stimmt abermals nicht. Nur ein Beispiel: In der deutschen Ausgabe wird der Neruda-Zyklus Noch (Aún) auf 1969 datiert, wohingegen dem Original die Jahreszahl 1971 vorangestellt ist.
Auch mit den Übersetzungen hapert es. Erich Arendt, selbst ein Poet von Format, übersetzte inhaltlich und formal zuverlässig. Gleiches läßt sich leider von Monika Lopez nicht behaupten, der die Mehrzahl der jetzt veröffentlichten Übertragungen zu verdanken ist. Vieles ist verzerrt, und vom Gespreizten bis zum Unsinnigen ist es oftmals nur ein kleiner Schritt. So fällt auf, daß die Abteilung von Versgruppen oder die Verszahl einzelner Strophen im Deutschen geändert sind: Willkür unterm Vorwand von Übersetzerpoesie.
Insgesamt jedoch darf man das „Lyrische Werk“ von Pablo Neruda in der vorliegenden Edition als eine recht nützliche Leseausgabe bezeichnen. Die Eigenbeiträge des Herausgebers bleiben allerdings – mit jeweils einem biographischen Nachwort, Anmerkungen, Glossar und Zeittafel – ziemlich bescheiden und stehen in keinem Verhältnis zu Umfang und Preis der dicken Bücher. Größter Vorzug der Ausgabe: Die bewährten und vollständigen Übertragungen Erich Arendts sind in kompakter Form greifbar. Pablo Neruda ist, zumindest in seinen monumentalen Umrissen, nun auch für deutsche Leser zu besichtigen.
Hanspeter Brode, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.3.1987
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
Ugné Karvelis: Ein Tag auf der Isla Negra, Sinn und Form, Heft 5, 1974
NERUDA
Zurück
Geht sein Blick
Auf die knöcherne Hand,
Die Munch
Lithographierte.
So weit auseinander
Liegen die Dinge! Niemand
Bringt sie
Auf einen Nenner.
An der Andenwand
Bricht sich ein Ton
Und springt zurück
In die
Setzereien.
Hört er
Die Gräber schweigen,
Während er
Immer noch singt
Von seiner
und unserer
Stummheit?
Heinz Czechowski
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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