SO SEHEN SIE AUS
Gut war der Mensch, sicher
mit Hacke und Pflug.
Nicht eineml während er schlief,
hatte er Zeit zum Träumen.
Sich plagend, blieb er arm.
Er war einen einzigen Gaul wert.
Sein Sohn ist heute sehr stolz
und ist mehrere Automobile wert.
Er redet wie ein Minister,
kommt viel in der Welt herum,
vergaß seinen bäuerlichen Vater
und erfand Ahnherrn für sich,
er denkt wie eine große Tageszeitung,
macht Tag und Nacht Geld:
ist bedeutend, wenn er schläft.
Die Kinder des Sohnes sind zahlreich
und sie sind längst verheiratet,
sie tun nichts als verprassen
und sind Tausende Ratten wert.
Die Kinder vom Sohn des Sohnes,
wie werden die Welt sie finden?
Werden sie gut sein oder schlecht?
Werden sie den Wert von Fliegen haben oder von Weizen?
Du magst mir nicht antworten.
Aber die Fragen haben kein Ende.
Übertragen von Erich Arendt
Die seit beinahe vierzig Jahren ständig zunehmende Anziehungskraft, von der die Entfaltung des Werkes dieses überragenden chilenischen Dichters begleitet wird, hat ihre Wurzel in der Menschlichkeit jedes einzelnen seiner Gedichte. Für Pablo Neruda verwandelt sich alles, was ihn umgibt, alles, was ihm widerfährt, in einen unendlichen Canto der Dinge, Ereignisse und ihrer gegenseitigen Verflechtung. Gebilde von unwiederholbarer Schönheit, aus Sinnlichkeit und Vernunft, verblüffend einfach oder hochgradig artifiziell, lenken unseren Blick auf Grundrisse des Lebens, und dieses Leben in seiner ganzen Härte, seiner großen Hoffnung, seinen Kämpfen, in seinen unter die Räder gekommenen und in seinen erfüllten Träumen ist eine literarische Verlängerung des gestrigen, des heutigen und des morgigen Tages – quer durch unsere Herzen.
Aus Johannes Bobrowski: Poesiealbum 52, Verlag Neues Leben, Januar 1972
zwischen den Dingen und diesem bildnerischen Geist Neruda, der nicht in einem romantischen Gefühlsverhältnis zu Natur und Mensch steht, sondern in einem tief realen, unmittelbaren. Bäume, Flüsse und Steine gesellen sich zum Menschen und teilen sein Geschick, der Dichter ruft sie auf, mitzustreiten den Kampf des Leidenden, sich gegen Not und Unrecht Empörenden. In diesen Gedichten, die das Schöpferische in allem erkennen und ersehnen, leuchtet die historische Wahrheit auf.
Erich Arendt, Verlag, Neues Leben, Klappentext, 1972
Der Chilene Pablo Neruda sah in Spanien von Anfang an nicht den rückwärtigen Bezugspunkt seiner Identität als ein Mensch christlicher Kultur; vielmehr war Iberia für ihn ein traumatischer Begriff, der Ort einer stagnierenden, ja regressiven Gewalt. Denn mochten die Spanier auch vorgeben, la tradición zu pflegen, den alten Begriffen und Werten zu dienen, nach Nerudas Meinung sorgten sie nur dafür, daß mit dem überlieferten Gedankengut auch die hierarchischen Strukturen fortbestanden:
In Spaniens Nächten, durch die alten Gärten,
lustwandelte voll von totem Rotz,
Eiter verströmend und Pest, mit einem Schweif
im Meerdunst, in Asthma gehüllt und löchrigen
blutbefleckten Gehrock, gespenstisch und anmaßend die Tradition…
Nerudas Haß auf alles Spanische war von ebenso elementarer Art wie seine Liebe, die dazu neigte, alle Dinge, auf deren Umklammerung sich ihr Ungestüm eingelassen hatte, nicht wieder freizugeben – es sei denn, das Gefühl schlug um und die Besitzgier hörte auf, als vitaler Impuls zu wirken. Wenn dieser Dichter sich auch zum Kommunismus bekannte, wenn er sein Schaffen als einen gegen die Klassengesellschaft gerichteten und auf ökonomische Veränderungen zielenden Akt ansah, so läßt sich doch keinesfalls übersehen, daß das Engagement mehr aus den Instinkten und Trieben als aus dem Kopfe kam.
„Euch liebe ich, Idealismus und Realismus…“ Neruda versuchte mit dieser paradoxen poetologischen Formel die Antinomien durch Emotionen aufzuheben. Das abendländische Denken mit seiner Intention, die Phänomene kausal, chronologisch und auf Dachbegriffe hin zu ordnen, blieb ihm in dem Maße gleichgültig, ja verdächtig, in dem er die griechisch-römische Zivilisation und Geistesgeschichte als Nährboden des christlichen Spaniens ansah, dessen zur Aggressivität gestaute Triebenergie sich erst gegen die Mauren und dann gegen die unbekannten überseeischen Fernen, gegen Cuba, Mexico und Südamerika gerichtet hatte:
Nur Knochen blieben zurück
starr aufgeschichtet,
in Kreuzesform, zum größeren
Ruhm Gottes und der Menschen.
Neruda (als Person determiniert durch die Taten der verhaßten conquistadores und als Dichter nicht möglich ohne das Spanische als Idiom) erfindet sich und seinem Subkontinent im Dunkel der präkolumbianischen Zeiten eine spezifische Abkunft, die jedoch mythologisch eingefärbt ist. Dieser Drang, in einer quasi fiktiven Vergangenheit ein größeres Eigenverständnis zu erlangen, ist auch insofern bemerkenswert, als Neruda, ähnlich wie Gabriela Mistral und Octavio Paz, pantheistische Vorstellungen der Indios aufgreift. Freilich ist Nerudas Glaube an die allmächtige Güte der – zutiefst als maternistisch aufgefaßten – Natur von eher kompensatorischer Art. Der Dichter, der 1904 in dem südchilenischen Städtchen Parral geboren wurde, hatte früh die Mutter verloren, und seine Hinwendung zu Flüssen, Bäumen, Meeren, Vögeln, Fischen, Muscheln und anderen Hervorbringungen des kosmischen Schoßes entsprang einem nostalgischen Verlangen nach Geborgenheit:
Ich habe keine Erinnerung
an die Landschaft, an die Zeit,
nicht an Gesichter noch an Gestalten,
nur an pulvrigen Staub,
den Schweif des Sommers
und den Friedhof, wohin
man mich führte,
zwischen Gräbern den Schlaf
meiner Mutter zu sehn.
Und da ich nie ihr Gesicht
geschaut,
rief ich sie zwischen den Toten, auf daß ich sie sähe,
jedoch, wie alle übrigen Begrabenen
weiß sie nicht, hört sie nicht, gab sie keine Antwort,
und dort blieb sie allein, ohne ihren Sohn,
ausweichend, scheu,
unter den Schatten.
Von dort her stamm ich, aus jenem
Parral der bebenden Erde,
der traubenüberladenen Erde,
die da aufsprießen
von meiner toten Mutter her.
Hier, in den Schlußpassagen des Gedichts „Geburt“, in denen der alternde Lyriker die Retrospektive seiner Sammlung Memorial von Isla Negra (1964) bis zu seinem autobiographischen Ursprung zurückführt, wird erkennbar, daß Neruda, wenn er die Natur zu einer Gottheit ausgestaltet, persönliche Motive hat. Der Schutz, den die Mutter nicht mehr geben kann, kommt aus einer anderen Sphäre. Er wird ihm zuteil durch die alles Leben tragende Erde, über die sich – Symbol schwellender Üppigkeit wie auch schmerzüberwindenden Rausches der Wein ausbreitet, die Traube, die Neruda immer wieder besingt und zu so etwas wie einer tellurischen kleinen Sonne macht. So verwächst die Mutter mit der Erde, in der sie ruht, zu einem Mythos, der schließlich tiefer ist als ihr Tod.
Federico García Lorca, der Anfang der dreißiger Jahre zu den Freunden und Förderern Nerudas gehörte, charakterisierte den damals gerade in die surrealistisch-nihilistischen Rhapsodien des Bandes Aufenthalt auf Erden verstrickten Dichter als jemanden, der „dem Tode näher [sei] als der Philosophie, dem Schmerz näher als der Einsicht, dem Blut näher als der Tinte“. Zum Glück aber, so fährt Lorca fort, vermöge dieser Poet die geheimnisvollen Stimmen, von denen er erfüllt sei, nicht zu deuten. Doch handle es sich bei Neruda um „einen wirklichen Menschen, der bereits weiß, daß Binse und Schwalbe der Ewigkeit näher sind als die kalte Wange einer Statue“.
Neftalí Reyes Basoalto, der Sohn eines chilenischen Lokomotivführers, der sich – in Verehrung des tschechischen Dichters Jan Neruda – als Lyriker Pablo Neruda nennt, benutzt die lyrische Rede frühzeitig als ein selbstverständlich und in keiner bestimmten Absicht gehandhabtes Instrument, mit dem er seine Schüchternheit, seine Lebensangst, seine individuelle und gesellschaftliche Profillosigkeit zu kompensieren trachtet:
Und es war in diesem Alter… Da nahte
auf der Suche nach mir
die Poesie. Ich weiß nicht, weiß nicht, woher
sie kam, vom Winter oder vom Fluß…
Die Verwirrung des Jünglings wird noch vergrößert durch die erwachende Geschlechtlichkeit. Und als er eines Tages („Sommer, / die Tür in die Dämmerung. / Die letzten zweirädrigen Karren! der Indios, / ein ungewisses Licht / und der Rauch / des niedergebrannten Urwalds…“) von zwei Mädchen in eine Bäckerei gelockt, gezerrt und „großen Augs“ als Mann inspiziert wird, während in der Nähe die Schritte und das Husten des Vaters zu hören sind, gerät sein Trieb in eine schwankende objektunsichere Einstellung. So kann sich denn auch der junge Mann, der nach Santiago an die Universität geht und der sich als Lyriker gegenüber seinen bereits berühmten Landsleuten Vicente Huidobro und Gabriela Mistral durchzusetzen versucht, nicht dazu entschließen, eine feste Bindung einzugehen:
Aus deiner Tiefe und auf den Knien
blickt, traurig wie ich, ein Kind uns an.
…
Ich will’s nicht. Geliebte.
Auf daß uns nichts binde,
daß nichts uns vereine…
In demselben Gedicht, das 1923 in dem Band Crepusculario (Dämmerung) unter dem Titel „Farewell“ erschien, finden sich als Abschnitt drei die Verse:
(Ich liebe der Seeleute Liebe, die
küssen und weitergehn.
Sie lassen zurück ein Versprechen.
Sie kehren nie wieder zurück.
In jedem Hafen wartet ein Weib,
die Seeleute küssen und gehen davon.
Eines Nachts gehn sie schlafen mit
dem Tod in das Bett des Meers.)
Der Dichter bricht selber bald in die Ferne auf – allerdings nicht als Matrose, sondern als Diplomat. Rangoon, Singapore, Ceylon, Batavia und später Barcelona und Madrid sind die Stationen seines Lebens bis zur Mitte der dreißiger Jahre. Die sozialen Mißstände, denen er überall begegnet, treiben ihn in eine Verzweiflung, der er in Aufenthalt auf Erden (1925–1935) Ausdruck gibt. Die Arbeiten dieses Bandes, in denen alles Tun als eine Folge sinnloser Funktionen dargestellt wird, sehen auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen nur noch Anlässe für Melancholie in den Familien. Das Nichts dringt durch die Tapisserien der bürgerlichen Zimmer, und im modernen Großstadtleben gehen die metaphysischen Perspektiven verloren:
Der kleine Angestellte hat nach so manchem,
nach der wöchentlichen Öde und den
des Nachts im Bett gelesenen Romanen,
endlich seine Nachbarin verführt,
und er führt sie aus in die armseligen Kinos…
Hatte die Sexualität für Neruda anfangs die Möglichkeit geboten, aus dem Gefängnis seines Ichs in einen Zustand rauschhaften Vergessens zu entkommen, so erscheint ihm jetzt (ähnlich wie dem Eliot der Sweeney– und Waste-Land-Periode sowie dem Alberti von Kalk und Gesang und Sermone und Hausungen) der Eros nur noch als etwas Heruntergekommenes, Steriles:
Die Menschen gehen zur Zeit über unsere Erde
fast ohne daran zu denken, daß sie einen Leib haben und darin das Leben,
und eine Furcht ist, eine Furcht ist in der Welt vor Worten, die den Leib bezeichnen,
und man spricht am liebsten von der Kleidung,
es ist tunlich, von Hosen zu sprechen, von Anzügen und von Frauen-
unterwäsche (von Seidenstrümpfen und Strumpfhaltern für ,Damen‘),
als liefen in den Straßen vollends leere Kleider und Anzüge umher
und eine düstere obszöne Garderobe nähme die ganze Erde ein.
Mit der Zeit hintergrübelt die Schwermut die gesamte zivilisatorische Szene. Vom europäischen Geist infiziert, stellt Neruda plötzlich Fragen von einer Abgründigkeit, wie sie Maternismus und Pantheismus nicht kennen:
Warum der Himmelsbreiten so viel, warum reiht
ein Tag sich an den an den andern?
Warum ballt
im Mund sich eine schwarze Nacht? Weshalb Tote?
Erst der spanische Bürgerkrieg befreite den Dichter aus seiner existentiellen Krise. Und die Radikalität, mit der Neruda sich wandelte, die Bereitschaft, mit der er sich von seiner an Góngoras Metaphernkunst und an Lautréamonts grausamer Phantasie geschulten hermetischen Poesie lossagte, legt die Vermutung nahe, daß der Weg zum Antifaschismus und bald darauf zum Kommunismus nicht nur aus Solidarität mit dem spanischen Volk und den peones Lateinamerikas beschritten wurde. Es war dem Dichter darum zu tun, seinen im Todesdenken befangenen Atheismus zu überwinden und sich in der marxistischen Ideologie eine neue Gottheit zu erschaffen.
Neruda, der seine Hilfsdienste für die spanische Republik damit beendete, daß er dreitausend Flüchtlinge auf dem Schiff Winnipeg in das lateinamerikanische Exil rettete, entwarf während der nächsten Jahre in den fünfzehn umfangreichen Abteilungen seines Buchs Der große Gesang (1950) ein Epos seines Kontinents, das mit Walt Whitmans Grashalmen korrespondiert, das aber im Tenor elegischer ist als die Demokratie und Freiheit verkündenden Verse des Nordamerikaners. Neruda, Erbe des Pathos und der Rhetorik, die die spanische Dichtung zwischen dem siglo de oro und dem Modernismus unerträglich machten, hält in seinem Werk vor allem Abrechnung mit der kolonialen Vergangenheit sowie mit der von Yankee-Ausbeutung und Latifundienwirtschaft geprägten Gegenwart. Gleichzeitig aber evoziert er die Vorstellung von einer idealen kommunistischen Gesellschaft, die er sowohl der vorgeschichtlichen Welt der Indianer als auch der eines kommenden Kommunismus russischer Fasson zuordnet. Als Egozentriker, der er jedoch weiterhin bleibt, versäumt er es nicht, neben den Helden der amerikanischen Befreiungskriege und neben Stalin, Molotow und Woroschilow sich selber zu porträtieren – als den gütigen Bruder Pablo:
Aber heut kommen die Bauern
mich besuchen:
aaaaaaaaaaaaa„Bruder,
es gibt kein Wasser, Bruder Pablo, es gibt kein Wasser, es hat nicht geregnet…“
Der Dichter stellt sich ausführlich dar: als verständnisvollen Freund der Bauern und als Feind jeglicher Korruption. Doch wenn es Neruda mit seinem Engagement auch so ernst ist, daß elr sich der Verfolgung aussetzt; in seiner Poesie drückt sich eine Selbstgefälligkeit aus, die sogar Marxisten nur mühsam übersehen können, während die zahlreichen Gegner die zur Schau gestellte Gesinnung für eine bloße Attitüde halten, weswegen sie Neruda la veleta, die Wetterfahne nennen.
In der Tat ist es dem Autor in allen Phasen seines Lebens und Schaffens schwer gefallen, etwas anderes als das eigene Gefühl und die eigene Meinung gelten zu lassen. Alle Vorkommnisse, die sich um ihn herum ereigneten, schienen letztlich nichts weiter zu sein als bedeutungsvoll-chiffrierte Zutaten zur eigenen Biographie. Sogar der Klagegesang auf den Tod von Miguel Hernández, dem aus dem Landproletariat stammenden spanischen Dichter, der 1942 in einem Gefängnislazarett hungergeschwächt an Tuberkulose starb, verwandelt sich unversehens in ein Dokument der Eitelkeit:
Du wirst meine Schritte unter ihnen erkennen,
die, Kain zertretend, sich stürzen werden
an Spaniens Brust…
Und Neruda sagt weiter:
Jene, die dich quälten, sollen es wissen,
eines Tags werden sie mich sehen…
Schließlich wird der nur sechs Jahre jüngere Tote gönnerhaft und mit klassenkämpferischer Pose verabschiedet:
ich vergesse dich nicht, Sohn!
… meine Augen trübten sich kaum,
ich fand in mir nicht Tränen
sondern Waffen,
unerbittlich!
aaaaaaaaaaaWarte auf sie! Erwarte mich!
Neruda reißt mit überschwenglicher Geste die ganze Welt an die Brust, aber seine Großherzigkeit ist vergeßlich, seine flammende Leidenschaft neigt zur Untreue. Auch verwechselt er die Lauterkeit seiner Liebe mit der Rührung, die seine melodramatischen Ansprachen in ihm auslösen. Wenn jedoch sein Interesse erlahmt, wenn seine Neugier sich anderen Objekten zuwendet, erweist er sich als ein geradezu imperialistisch Liebender und Genießender:
Schon geraten meine Augen in deinen nicht mehr in Entzücken,
schon mildert an deiner Seite sich nicht mehr mein Schmerz…
Diese Einstellung, die sich bereits in Farewell kundtat, hat sich nach zweieinhalb Jahrzehnten nicht geändert:
…
du und ich, die Leiber hinwerfend, zusammen gewesen,
ein Haus errichtend, das nicht dauert noch stirbt,
haben wir, du und ich, zusammen den gleichen Strom befahren
mit verketteten Mündern voll von Salz und Blut,
haben wir, du und ich, die grünen Lichter noch einmal erzittern lassen
und zum andern den großen Staub begehrt.
…
Ich war ein Mann, den der Zufall hergeführt,
mit einer Frau, aufs Geratewohl aufgelesen,
wir entkleideten uns…
Neruda verdinglicht seine Partner. Jedes Gegenüber – eine begehrte Frau, eine Muschel, eine Zwiebel, ein toter Kazike, ein Pottfischzahn – lebt von der Intensität und der Gnade seines Verlangens, aber nichts überlebt die Gefühlsaufwallung. Alles wird abgelegt, kommt zurück ins Regal, auf die Erde oder endgültig ins Grab, sobald das Klima des Gemüts umschlägt.
Dieser krasse Egoismus, der seine opportunistische Entsprechung auf politischem Gebiet hatte (etwa wenn Neruda in bequemer Linientreue Tito einen „fetten, blutbesudelten Verräter“ nannte oder wenn er sich weigerte, die Unterdrückungen in Osteuropa wahrzunehmen oder gar zu kommentieren), milderte sich allmählich, als der Lyriker das Bändchen Verse des Kapitäns schrieb, eine Sammlung von Liebesgedichten, die 1952 anonym in Neapel erschien. Die sexuelle Begierde des Unbeständigen – der Autor nannte sich so im Titel einer seiner Arbeiten – wurde nun selbstkritisch registriert, ja sie wurde gebändigt:
Allen
laufe ich nach.
Zu dir aber, ohne mich zu regen,
ohne dich, du Ferne, zu sehen,
gehen mein Blut,
meine Küsse,
du meine Dunkle und Helle,
meine Hochgewachsene und Kleine,
meine Volle und Schlanke,
meine Häßliche, du meine Schöne…
Die Liebe zu Matilde Urrutia befreite Neruda sowohl von seiner anarchistischen Triebhaftigkeit als auch von seiner sklavischen Hingabe an das politische Dogma:
Und dem Süden zu, dem Kaukasus entgegen fuhr er
unerkenntlich tief im Finstern,
auf der Suche nach derselben Sonne, die er uns verweigerte…
An die Stelle der Vaterfigur Stalin gelangten als Vertrauen spendende Muttergottheiten wieder die pantheistischen Kräfte:
Alle geben sich zufrieden
mit finsteren Vorstellungen
von raschen Kapitalisten
und systematischen Frauen.
Ich will mit vielen Dingen sprechen
und werde nicht von diesem Planeten gehn
ohne zu wissen, was ich suchen kam,
ohne diese Angelegenheit zu klären,
und mir genügen nicht die Menschen…
Neruda, ein Lyriker von katarakthafter Schöpferkraft (es gibt etwa 30 Gedichtbände von ihm), wollte mit allen Dingen fraternisieren: mit den Pferden und den Sprudeln, mit den Wochentagen und den leeren Eisenbahnzügen. Dieses Programm einer universellen Solidarität erreichte in der Sammlung Extratouren (1958) die wärmste und assoziativste Ausgestaltung. Inzwischen hatte der Dichter auch Alter und Tod als Bestandteile des Lebens akzeptieren gelernt, und er versöhnte seine gegenwärtige Existenz mit seiner Kindheit, der er aus den Hölzern der regennassen Wälder, in denen er aufgewachsen war, ein vegetabilisch-lebendiges Denkmal setzte:
Jetzt um das Haus zu errichten,
schicke man mir Hölzer des Südens…
…
und dann werd ich sehn, wie der Duft
erbauen wird mein Haus,
aufrichten werden sich die Wände
mit dem Rauschen, das ich verlor,
mit dem, was in der Wildnis geschah,
und ich werde mich freuen, von so viel
Reinheit umgeben zu sein,
von so viel Schweigen, das
Zwiesprache halten wird mit meinem Schweigen.
Am 23. September 1973, nur zwölf Tage nach dem blutigen Sturz der Volksfront-Regierung und dem Tod seines Freundes Allende, starb Pablo Neruda in einem Krankenhaus Santiago de Chiles an Prostatakrebs. Und so sah sich dieser Mann, der die titanische Vision einer humanistischen Durchdringung von Sein und Geschichte gehabt hatte, am Ende nicht nur in weltanschaulicher Hinsicht um jede konkrete Hoffnung gebracht, er mußte auch erleben, wie er von der Materie, der er in pan-demokratischer Brüderlichkeit zugetan gewesen war, mit monströser Gleichgültigkeit vernichtet wurde.
Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda
Und Pablo Neruda
aaaaaaaaaadieser chilenische Allesfresser der Poesie
aaaaaaaaaaaaader (bei seinem Canto General)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalles hineinpacken
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund nichts herausnehmen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawollte
aaasagte zu mir 1959 in Havannas Libre Hilton
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Ich liebe Ihre weit offene Poesie“
aaaaaaaaaawomit er eine gewisse Art von
aaaaaaaaaaaaaaaapoesía norteamericana meinte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund ihre Rebellenbande
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie aufstieg über die Dächer der
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMietskasernenfriedhöfe
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanur um zu vögeln
Und aus Wahnsinn
aaaaaaaaHundert Jahre Seligkeit machte
„Zum Sterben langweilig“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarief die Masse
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaabis sie daherkamen
aaaaaaaaaaaaund die Schädelwände
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades poetischen Chicago sprengten
aaaaaaaaaaaaund verschiedener New Yorkerischer
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPoetaster
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus ihren Westchester-Wiegen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie endlos schaukelten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf dem Times Square Shuttle
aaaaaaaaaaaaaazwischen der Times Book Review
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund dem Algonquin
aaaaaaaaaawährend Kritikerdamen und professorale Herren
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaastöhnten über poetische Päderasten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan der Columbia
Sie zogen über den Times Square und durch Amerika
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund zogen durch die Geschichte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Genitalien und Manuskripte schwenkend“
Und sprachen mit heilig unheiligen Stimmen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu einer weit offenen Gesellschaft
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie noch nicht existierte
Und so starteten sie neu
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas abgestorbene Karussell
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader amerikanischen Ekstase
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas noch herumstand am hallenden Ufer
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades East River
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaanachdem Old Walt von der
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBrooklyn Ferry stieg
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaains Herz Amerikas
Lawrence Ferlinghetti
Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974
Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979
H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979
Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984
Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984
Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004
Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero
Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004
Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004
Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004
Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004
Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978
Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983
Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023
Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023
Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023
Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023
Pablo Neruda – Fragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.
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