NOBELPREIS FÜR LITERATUR 1958
– fragmentarische Notizen. –
Eine tiefe Traurigkeit überkam mich, als ich anstelle des Artikels, den mein Bruder über sich selbst hätte schreiben sollen, der bestimmt ganz anderen Inhalts gewesen wäre, diese wenigen Notizen aufzeichnete. Die einzige Gemeinsamkeit ist ohne Zweifel der Bleistift, mit dem ich schreibe, den er immer mit Hilfe seines Taschenmessers und mit so viel Liebe und Erfahrung gespitzt hatte. Es sind alles für Pasternak charakteristische Bleistifte, mit sehr langem Kegel aus leicht rauhem Holz, der allmählich in eine graziöse und angenehme Bleispitze übergeht. Letzten Juni brachte ich als Andenken ein paar dieser Bleistifte aus Peredelkino zurück. Als ich seine Schublade öffnete, fühlte und realisierte ich jählings, daß er sich an genau diesen Tisch gesetzt hatte, um voller Reue sein Gedicht „Nach der Pause“ zu schreiben. Reue, weil er seine Zeit vergeudet hatte, anstatt zu arbeiten, wie er es noch vor drei Monaten beabsichtigt hatte: „Doch kam dazwischen dummes Zeug / Und drückte die Gedanken nieder. … / Ich aber spitzte meinen Blei / Und tat ihn (den Winter) ab mit dummen Scherzen.“, bis er eines Morgens plötzlich erkannte, daß „Der Winter kam, der Winter ging, / Wie seine Mahnung unverstanden“. Die nebensächlichen Beschäftigungen nahmen weiter zu, Hunderte von Briefen erreichten ihn aus dem Ausland, die seine Aufmerksamkeit forderten, die ihn mit Liebe und Lobreden überhäuften und die ihn bis aufs Mark mit ihrer Eindringlichkeit erschöpften. Zu gewissenhaft, um sie zu ignorieren, mußte er sein Herz von dem Gewicht der Briefe befreien, bevor er unbelastet an dem neuen Stück arbeiten konnte, das er zu schreiben begonnen hatte.
Aber je mehr Briefe er beantwortete, desto zahlreicher wurden sie, kamen zu ihm zurück wie ein Bumerang. „Wenn ich doch nur zehn oder nur fünf Jahre länger leben könnte!“ schrieb er in einem Brief vom Juli 1959:
das Mißverhältnis zwischen dem, was getan ist, und dem, was kommentiert und diskutiert ist, wäre nicht größer als heute.
Und weiter:
Wenn es nur die äußerlichen Bedingungen zulassen würden, fühlte ich mich fähig, eine gesegnete, unbekannte, leidenschaftliche Existenz zu führen, ein Leben, wie es Goethe vorschwebte, aktiv und fruchtbar! Und doch lebe ich es, obwohl im geheimen, unsichtbar und wegen der Schwierigkeiten auf ein Minimum reduziert.
Armer, armer Boris! Die äußerlichen Bedingungen ließen es nicht zu. Gefesselt, gejagt, überlastet bis zur Krankheit und dem Tod, fiel er in weniger als einem Jahr der ungleichen und verzweifelten Schlacht gegen die Umstände zum Opfer, gegen seine Bewunderer und ihre guten Absichten, gegen die grausame und unerbittliche Zeit. Er wußte, daß er sterben würde; der Gedanke an den Tod war oft gegenwärtig in seinem Geist, er erscheint wiederholt in seinen letzten Gedichten, in Doktor Schiwago, in seinen Briefen. Ich glaube, er war trotz seines Bedauerns, das Leben verlassen zu müssen, seelisch darauf vorbereitet. Sein Gedicht „Im Krankenhaus“ ist trotz seiner Pein tröstlich, da man annehmen kann, daß er dem Tod ohne Schrecken gegenüberstand. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es so war.
Was ihm aber immer viel wichtiger war, näher als der Tod, immer gegenwärtig, war die Idee, das Thema, die Offenbarung des Lebens. Er hatte von seinem Vater und seiner Mutter dieses freudige und großzügige Annehmen und diese Liebe für das Leben geerbt, wie auch sein künstlerisches Talent und seinen kritischen Geist, der sich gleichermaßen auf ihn anwenden ließ. Doktor Schiwago ist voller Passagen, die die Schönheit und den einzigartigen Wert des Lebens preisen; ein ganzer Gedichtband trägt den Titel Meine Schwester, das Leben. Auch noch in seinen letzten Versen feiert er das Leben, die Liebe zum Leben war wahrscheinlich das ihm wesenseigenste Gefühl:
Leben ist alles, was zählt
Leben heißt zu brennen bis ans Ende
Boris war von erstaunlicher Vitalität; sogar in den letzten Monaten seines Lebens, arbeitete er begeistert im Garten, machte lange Spaziergänge, scherzte, lachte, hielt überschwengliche Monologe vor Freundeskreisen, wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß und schrieb. Er liebte es sehr, Pilze zu sammeln, zu rudern, zu reiten, sich im Freien aufzuhalten. Einer seiner Freunde erzählte zum Beispiel, wie er, als er gleich nach dem Krieg nach Moskau zurückkehrte, Pasternak, der damals beinahe 60 Jahre alt war, hoch oben in einem Baum sitzend vorfand, den er soeben bestiegen hatte. Obwohl er bei Gelegenheit ein Liebhaber guten Essens war, es liebte in Gesellschaft zu trinken, war ihm der materielle Komfort keineswegs wichtig, er konnte sich ebenso leicht mit einem beinahe asketischen Leben begnügen und sich nur von Brot und Milch ernähren. So geschehen in seiner Jugend, als er beschloß, seine Unabhängigkeit zu beweisen und in Moskau zu bleiben, während der Rest der Familie den Sommer auf dem Land verbrachte.
In allen Dingen liebte er die Schlichtheit, in seiner Art zu leben, in seiner Umgebung, in seinen Beziehungen. Seine ersten Gedichte mögen unverständlich erscheinen, für ihn jedoch waren sie einfach und klar konzipiert, er wollte nicht verwirren oder komplizieren. (Interessant zu vermerken, was er in „Sicheres Geleit“, Kapitel IV, über die Schlichtheit Skrjabins schreibt.) Er benötigte mehrere Jahre, um sein sprachliches Niveau anzupassen und sich in den Bereich des durchschnittlichen menschlichen Auffassungsvermögens zu versetzen, um eine allgemein zugängliche, klare Schlichtheit zu erreichen.
Während der ersten Jahre nach der Revolution, Jahre der Kälte und des Hungers, als es darum ging, eine schwere körperliche Arbeit auszuführen, wie einen schweren Sack gefrorener Kartoffeln nach Hause zu schleppen, große Balken eines demolierten Hauses durchzusägen, um damit ein Feuer zu machen, oder von einem Bauernhof eines Nachbardorfs einen Schlitten mit Lebensmitteln nach Hause zu transportieren, waren es normalerweise Boris und ich, die das übernahmen. Während eines besonders harten Winters nach der Revolution, als die Transportwege unterbrochen und die Züge nur mit den wichtigsten Materialien beladen waren, erließ die Regierung ein Dekret, das die nichtwerktätige Bevölkerung zur Säuberung der Eisenbahnstrecken mobilisierte. Ich hatte das erforderliche Alter noch nicht erreicht, ergriff aber diese Gelegenheit, um meine Schwester zu vertreten, die ein wenig älter, aber weniger robust war als ich.
An einem dunklen grauen Wintermorgen in aller Frühe schlossen wir uns anderen, ebenso elenden Gestalten an, und zusammen marschierten wir durch die noch leeren Straßen zu der entfernten Umgebung der Stadt. Wir boten ein trauriges Schauspiel, die Mehrheit waren ältere Mitglieder der ehemaligen Intelligenzija, mager, bleich, müde und für die Arbeit, die uns erwartete, schlecht gekleidet. Sie schleppten sich im schmutzigen Schnee mühsam fort, und es schien, als ob wir unseren Bestimmungsort nie erreichen würden. Als wir endlich ankamen, war die Sonne bereits aufgegangen, der Himmel blau und grenzenlos, die Schneehaufen leuchteten in gleißendem Weiß, die Luft war belebend frisch. Man gab uns Steinschlaghämmer und Spitzhacken. Für mich war es noch angenehmer als ein Spaziergang im Schnee, weil es ein nützliches Vorhaben war. Ich konnte nicht verstehen, daß die anderen finstere Mienen aufsetzten und sich vor dieser Pracht der Natur und der Arbeit beklagten. Was Boris dabei empfand, ist in sehr lebendiger Weise in einem der besten Kapitel von Doktor Schiwago beschrieben: die Säuberungsarbeiten der Eisenbahngleise während der winterlichen Reise der Schiwagos in Richtung Sibirien.
Es hat in diesem Roman viele andere Passagen, die mich auf die eine oder andere Art an gemeinsam Erlebtes erinnern. Aber es waren hauptsächlich die körperlichen Anstrengungen und die alltäglichen Aktivitäten, die mich während meiner Jugend mit Boris verbanden. Die intellektuellen und abstrakteren Interessen teilte er mit meiner Schwester. Sie war ernster, belesen, mit einem klaren und originellen, der Philosophie und Mathematik zugewandten Geist. Sie schätzte seine leidenschaftlichen Reden. Als sie kaum 12 Jahre alt war, berücksichtigte er ihre Meinung über seine ersten Gedichte. Zu jener Zeit schüchterten mich meine Brüder eher ein, trotz der Zuneigung, die ich für sie empfand. Mit den Jahren erkühnte ich mich, mich mit Alexander zu schlagen (bei einer dieser Gelegenheiten klemmte sich ein Teil meines Haares in den Eisenbeschlägen des Bettes ein, während der Rest meiner Person auf der anderen Seite des Zimmers zu Boden stürzte). Boris jedoch flößte mir immer einen enormen Respekt ein, der an Schrecken grenzte, wenn er es manchmal wagte, unseren Eltern nicht zu gehorchen, oder ihnen offen zu widersprechen, was in meinen Kinderaugen einer Gotteslästerung gleichkam. Ich war mir sicher, daß er uns und unsere dummen Schulkollegen verachtete, und doch war es nur seine eigene Schüchternheit, die ihn hochmütig, schroff und abweisend erschienen ließ. Wenn wir, was selten war, für eine gewisse Zeit beisammen waren, entpuppte er sich als der großzügigste und angenehmste aller Brüder. Wenn ich versuche, ein klares Bild von ihm heraufzubeschwören, stelle ich ihn mir in seinen letzten Jahren vor, wie er an seinem Tisch sitzt und arbeitet, eingehüllt in einen wollenen Pullover, die Füße in „valenki“, der vor ihm singende Samowar und ein Glas sehr starken Tees in Reichweite. Er füllte es unablässig nach, während er schrieb. Ich sehe vor mir, wie er vor dem holländischen Kachelofen kauert, wie er mit Überzeugung im Feuer herumstochert und nicht zulassen will, daß sich jemand anderes um das Feuer kümmert oder wie er sanft, ohne Eile und sorgfältig eine Schaufel voll glühender Kohlen von einem Ofen zum anderen trägt und wie er dann methodisch die herabgefallenen Kohlestückchen aufwischt; ich erinnere mich, daß er so seine geliebten „valenki“ verbrannte. Oder ich stelle mir vor, wie er vor sehr langer Zeit, spät abends die Dunkelheit mit einer unaussprechlichen Traurigkeit erfüllte. Brandende Wellen, eine mir unbekannte Welt, eine Welt der Schrecken von. Liebe und Trennung, von Poesie und Tod entsprangen seinen Fingern; Boris hörte auf, unser Bruder zu sein, und wurde etwas Undurchschaubares, Schreckliches, ein Dämon, ein Genie. Wir weinten uns die Augen aus und baten Gott, er möge ihn uns zurückbringen. In jenen Zeiten kam er tatsächlich manchmal zurück, als wir schon eingeschlafen waren. Es ist unvorstellbar, daß er jetzt für immer von uns gegangen ist.
Lydia Pasternak Slater
Die Begegnung mit dem Namen „Pasternak“ erinnert die meisten Leser an den Nobelpreisträger von 1958: Boris Pasternak. Alle biographischen Berichte stimmen darin überein, daß der Dichter seine entscheidenden Einflüsse seinem Elternhaus verdankt.
Sein Vater, Leonid Pasternak (1862–1945), wurde vor allem in Rußland und in Berlin als einer der bekanntesten Maler seiner Zeit berühmt. Die Mutter, Rosa Kaufman (1867–1939), schon als Kind eine gefeierte und brillante Konzertpianistin, war mit ihrer Musik die wirkliche Quelle seiner dichterischen Inspirationen. Der Familie wegen aber hatte sie auf eine weitere, glanzvolle Karriere als Musikerin verzichtet.
Als im Jahre 1938 alle Sowjetbürger, insbesondere solche jüdischer Abstammung, Hitlerdeutschland verlassen mußten, beschlossen die Eltern, ihre jüngere Tochter in England zu besuchen. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges und gesundheitliche Schwierigkeiten verhinderten aber die geplante Rückkehr in ihre Heimat. Sie starben in der Fremde.
Der Bruder von Boris Pasternak, Alexander, blieb in Moskau; er war als hervorragender Architekt am Bau verschiedener, meist repräsentativer Bauten, z.B. dem Lenin-Mausoleum, beteiligt.
Die beiden Schwestern Josephine und Lydia lebten schon seit den Dreissigerjahren in England, ganz im Schatten ihres weltweit berühmten Bruders. Sie hüteten und verwalteten den künstlerischen Nachlaß ihres weitgehend in Vergessenheit geratenen Vaters. Sie wurden nicht müde, in England und auch im Nachkriegs-Deutschland Gedenkausstellungen zu veranstalten. Sie versuchten, die oft falsche Sicht der westlichen Kunstkritik über die russische Malerei und deren Entwicklung seit der Jahrhundertwende unter dem Einfluß der französischen Impressionisten zu korrigieren.
Lydia Pasternak, selbst Lyrikerin, übersetzte einen Teil der russisch geschriebenen Gedichte ihres Bruders Boris ins Englische. Zusammen mit ihrer Schwester Josephine wehrten sie sich vehement gegen die oft unglaublichen Verleumdungen, Falschinformationen und Fehlinterpretationen über Boris und andere Mitglieder der Familie Pasternak, die vor allem in Amerika kursierten; es gelang ihnen, wenigstens einige Richtigstellungen zu veranlassen.
Deshalb lag es nahe, eine eigene Familienbiographie zu verfassen. Die Idee der beiden Genfer Verleger, Pierre und Rosemary Marie, ließ sich aber widriger Umstände wegen erst im Jahre 1975 realisieren.
Die erste Auflage erschien mit den authentischen Beiträgen in drei Sprachen (engl., franz., und deutsch) in bescheidener Aufmachung und Auflage im Verlag Poesie Vivante, Geneve und Zürich. Einige Jahre später erschien ein Essay über die beiden Schwestern im Magazin Der Monat und von zwei deutschen Fernsehanstalten wurden Interviews ausgestrahlt. In England zeigten Ausstellungen Werke ihres Vaters Leonid Pasternak.
Zur Zeit Gorbatschows gab es Anzeichen, daß der bisher immer noch verbotene Roman Doktor Schiwago von Boris Pasternak in der Sowjetunion publiziert werden durfte, wie das Literaturmagazin Novy Mir anfang 1987 ankündigte. Andere Werke waren schon früher veröffentlicht worden. Es gab auch Pläne, ein eigentliches Pasternak-Museum einzurichten. Im Februar 1987 wurde bekannt, daß der sowjetische Schriftstellerverband den Ausschluss Pasternaks, 26 Jahre nach seinem Tode, rückgängig machte.
Seither hat sich in der Welt und besonders in der Heimat Pasternaks vieles verändert. Von verschiedener Seite ist immer wieder der Wunsch geäußert worden, das interessante Zeitdokument erneut zu publizieren. Da die meisten Mitglieder der Familie Pasternak einige ihrer entscheidenden Jahre in Deutschland verbracht hatten, schien es sinnvoll zu sein, nun alle Beiträge ausschließlich in deutscher Sprache herauszugeben. Mein Dank geht an alle, die mir die Realisation ermöglichten.
Paul J. Mark, Vorwort
Herausgeber: Vorwort
Josephine Pasternak: „Drei Sonnen“. (Aus: Gespräche mit Katherine)
Sergej Levitsky: „Rosa Kaufman-Pasternak“. (Aus den Notizen Josephine Pasternak)
Alexander Pasternak: „Meine Mutter“. (Auszüge aus Familienerinnerungen)
Leonid Pasternak: „Aus meiner Kindheit“. (Auszug aus den Memoiren)
David Buckman: „Leonid Pasternak“. (Auszug aus einer Biographie) / Ein russischer Impressionist / Moskau und die letzten Jahre
Jewgeny Levitin: „Ein großer, russischer Impressionist“. (Auszug aus einer Rede 1969)
Josephine Pasternak: „Um die Jahrhundertwende“. (Aus einem persönlichen Brief)
Leonid Pasternak: „Warum sich über einer guten Zeichnung die Augen verderben“ / „Begegnungen mit R.M. Rilke“ / „Begegnungen mit Leo Tolstoi“. (Auszüge aus den Memoiren) / „Begegnungen mit Lovis Corinth“. (Aus Briefen)
David Buckman: „Leonid Pasternak in Berlin“. (Auszug aus einer Biographie)
Lydia Pasternak Slater: „Boris und die Eltern“ / „Boris, mein berühmter Bruder“
Josephine Pasternak: „Neunzehnhundertzwölf“ / „Patior“
Lydia Pasternak Slater: „Die Dichtung Boris Pasternaks“. (Auszug aus einer Rede)
Boris Pasternak: Gedichte: / „DIE SCHWERMUT“ / „MARIA MAGDALENA“
Lydia Pasternak Slater: „Nobelpreis für die Literatur“
David Buckman: „Die letzten Jahre in England“. (Auszug aus einer Biographie)
Lydia Pasternak Slater: Gedichte: / „HEILENDER SEPTEMBER“ / „VERLASSENHEIT“
Ann Pasternak Slater: „Eine entschwundene Welt“. (Vorwort zu den Memoiren von Alexander Pasternak)
Konsultierte Literatur
Illustrationen, Zeichnungen, Bilder, Fotos Leonid Pasternak: Archiv Pasternak Trust, Oxford
Biographische Daten
erinnert die meisten Leser an Boris Pasternak, den Nobelpreisträger von 1958. Seine Werke und sein Leben werden in vielen Biographien und Abhandlungen dargestellt. Doch die Wurzeln seiner Kunst bleiben eher im Verborgenen liegen und drohen, ganz verloren zu gehen. Dieses Buch dagegen enthält viele authentische Beiträge seines Vaters und seiner Geschwister. Sie umfassen einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren und stellen ein eindrückliches Zeitdokument dar. Boris Pasternaks Vater als berühmter Porträtmaler seiner Zeit war ein geschätzter Lehrer an der Kunstschule in Moskau. Viele Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik standen ihm Modell, darunter Berühmtheiten wie L. Tolstoi, R.M. Rilke, L. Corinth, A. Einstein, S. Rachmaninow und sogar W.I. Lenin. Im reichen kulturellen Leben übte Boris’ Mutter als brillante Konzertpianistin einen entscheidenden Einfluß auf sein dichterisches Schaffen aus. Langjährige Aufenthalte der Familie Pasternak in Berlin stellten eine besondere Beziehung zu Deutschland her, bis sie 1938 als unerwünschte Ausländer das Land verlassen mußten. Während Boris’ Bruder in der Sowjetunion zurückblieb, ließen sich die beiden Schwestern in England nieder. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges verhinderte die Rückkehr der Eltern in ihre russische Heimat, sie starben im Exil. Die Schwestern betreuten bis zu ihrem Tode das reiche Erbe ihres Vaters und versuchten, es vor dem Vergessenwerden zu retten. Auch eigene literarische und philosophische Arbeiten vervollständigen die Familiengeschichte. Der Band ist mit vielen Zeichnungen und Reproduktionen von Leonid Pasternak illustriert und vermittelt einen Überblick über das weite Feld seines Schaffens. Leider sind viele Originale verlorengegangen oder schlummern in den Kellern privater und staatlicher Museen. Der Herausgeber Paul J. Mark, geb. 1931, ursprünglich Diplomkaufmann, lebt als freier Schriftsteller und Zeichner in Zürich. Er veröffentliche als Autor mehrere Lyrik- und Prosa-Werke und beteiligt sich an der Herausgabe internationaler Anthologien.
Verlag Königshausen & Neumann, Ankündigung
der vor einigen Jahren noch regelmässige Buchreihen herausgab, in denen Vertreter der verschiedensten Sprachkreise bekanntgemacht wurden (in der Hauptsache Lyrik), hat sich mit dieser interessanten Zusammenstellung ein Verdienst erworben. Einmal stellt er den Vater des grossen Dichters vor, der ein geachteter Kunstmaler war und namentlich in Berlin Erfolge aufzuweisen hatte, zum andern bringt er interessante Texte von den Schwestern Pasternak, Aufsätze von Alexander Pasternak u.a., berichtet über die Begegnung des Malers mit Lovis Corinth und Tolstoi, die einen hohen Geistesflug belegen, und lässt vom Sohn Boris eine Reihe Gedichte in Uebersetzungen folgen, die sich durch den Adel seiner Gesinnung auszeichnen und deren deutsche Fassungen von Nina Preussfreund als kongenial anzusprechen sind. Dazu ist das Büchlein reichlich mit Abbildungen, Autografien usw. versehen, worunter das Porträt Rilkes besonders ins Auge sticht. Alle diese Erinnerungsstücke fügen sich zu einem gelungenen Bild zusammen. Erleichtert wird die Lektüre durch die sowohl englischen als auch französischen Uebertragungen.
Im Jahre 1944, an einem Winterabend, trugen sich in einem kleinen Redaktionszimmer der sowjetischen Rundschau Literatura Iskustwa (Moskau) zwei Schriftsteller gegenseitig Gedichte vor: Boris Pasternak und Abraham Sutskever. Frau Mirskaia, Mitarbeiterin des Chefredaktors Surkow, hatte dieses Zusammenkommen in die Wege geleitet. Sutskever war mit einem Spezialflugzeug hergebracht worden, direkt aus seinem Wald-Untergrund, wo er als Partisanen-Kommandant die Nazis bekämpft hatte.
Zunächst hörte sich Pasternak aufmerksam die Leidensgeschichte Sutskevers an, der im Ghetto von Wilna von den Nazis mißhandelt worden und später zu den Partisanen geflohen war. Darauf bat er ihn, ihm die Gedichte vorzutragen, die im Ghetto und im Maquis entstanden waren. Abraham Sutskever schreibt jiddisch; er ist einer der Meister dieser Sprache, die Pasternak von Kindheit an einigermaßen vertraut ist: er hatte sie oft in seinem Elternhaus sprechen hören. Dank diesem Umstand und dank seinen ausgezeichneten Deutschkenntnissen verstand Pasternak, was Sutskever ihm vorlas.
Von Zeit zu Zeit preßte Pasternak seine Handflächen an den Kopf und murmelte:
Strachno, strachno; schrecklich, schrecklich…
Nach beendigtem Vortrag bat Sutskever Pasternak, ihm seinerseits eines seiner Werke vorzutragen.
Pasternak rezitierte langsam ein Gedicht, indem er öfters bei diesem oder jenem Satz stockte, als wollte er das eben Gesagte noch einmal überdenken. Zweimal unterbrach er sich, radierte ein Wort aus und ersetzte es durch ein anderes. Darauf übergab er das Manuskript Frau Mirskaia und fragte:
Etwas für die nächste Ausgabe des Literatura Iskustwa?
Frau Mirskaia wurde bleich. „Sie wissen“, sagte sie verlegen, „was ich persönlich von Ihren Werken halte, mit welcher Freude ich alles veröffentlichen würde, was aus Ihrer Feder stammt… Jedoch…“ Pasternak nahm das Blatt zurück.
„Ich scherzte!“ meinte er.
Ich weiß, daß Sie mein Gedicht veröffentlichen würden. Aber Sie haben Angst. Ich verstehe Sie.
Sutskever verfolgte dieses Intermezzo mit Erstaunen. Pasternak, dieses Erstaunen wahrnehmend, präzisierte lächelnd:
Ich bin daran gewöhnt, daß meine Gedichte nicht gedruckt werden. Sie passen dem Chefredaktor dieser Revue, Surkow, nicht in den Kram. Ein Herr, der dauernd mit dem Revolver im Sack herumspaziert.
Ich meine es ernst! – Ein Chefredaktor mit einem Revolver im Sack. Haben Sie schon einmal gehört, daß das Schicksal eines Gedichtes von einem Mann bestimmt wird, der einen Revolver auf sich trägt? Nein, er wird meinen „Zimnyie Prazdniki“ nicht erscheinen lassen…
Sutskever nahm das Manuskript in die Hände und betrachtete es erregt.
„Behalten Sie es als Erinnerungsgabe“, sagte Pasternak.
Es ist mein Geschenk an den Dichter der jüdischen Leidenszeit.
Dreizehn Jahre später, im Dezember 1957, zeigte mir Abraham Sutskever dieses Manuskript Pasternaks in Paris. Gleichzeitig erzählte er mir von seiner – hier geschilderten – Begegnung mit Pasternak.
Es gehörte zu den Merkwürdigkeiten der Stalin-Epoche, daß Boris Pasternak nicht liquidiert wurde. Boris Pilnjak hatte man hingerichtet. Ebenso Isaak Babel und andere. Hatten ihn Shdanow, Beria und Stalin deshalb geschont, weil er seit Puschkin, Blok und Majakowski der größte Dichter der russischen Sprache war und es weiterhin bleiben wird? Oder war es seine ungeheure Popularität bei den russischen Lesern gewesen, die Stalin veranlaßt hatte, ihn am Leben zu lassen?
Wie beliebt Pasternak war, läßt sich an einer Szene illustrieren, die sich 1946 in Moskau abgespielt hat: Plakate kündigten eines Tages einen literarischen Abend im „Säulensaal“ (dem größten Saal von Moskau) an. Das Plakat zählte eine Anzahl Dichter und Schriftsteller auf, die Fragmente aus ihren Werken vorlesen würden. Unter ihnen Boris Pasternak.
Es war das erstemal seit vielen Jahren, daß Pasternak vor dem Publikum erschien – oder vielmehr: daß man ihn gleichzeitig mit anderen Schriftstellern auftreten ließ.
Im allgemeinen zogen es die Schriftsteller Moskaus vor, sich nicht in Gesellschaft Pasternaks zu zeigen: sie hatten Angst. Man erinnerte sich einer Versammlung des Schriftstellerverbandes, in der Pasternak das Wort ergriffen und, sich vergessend, ausgerufen hatte:
Was hat es für einen Sinn, seine Ausdrucksmittel zu verfeinern und zu vertiefen, überhaupt Literatur zu betreiben, wenn über alles ja er entscheidet, wenn niemand außer ihm weiß, was Dichtung ist, und jedes dichterische Unternehmen in der Sowjetunion nichts anderes bedeutet, als seinen Befehl auszuführen?!
Die Anwesenden verstanden wohl, wen Pasternak mit „ihm“ bezeichnete. Diejenigen, die zunächst bei der Türe saßen, verschwanden leise und suchten das Weite. Die anderen bewegten sich gleichfalls gegen den Ausgang. Der Präsident machte der peinlichen Störung ein Ende, indem er Pasternak scharf daran erinnerte, er habe die ihm zugemessene Zeit schon lange überschritten. Pasternak hielt inne, mitten im Satz. Seit damals besuchte er niemals mehr den Schriftstellerverband. Und jedermann war’s zufrieden…
Der literarische Abend in der „Säulenhalle“ nun zog eine riesige Menschenmenge an. Alle Plätze waren schon lange vor Beginn der Veranstaltung besetzt. Als der Präsident ankündigte: „Und jetzt hat das Wort: Boris Pasternak“, erhoben sich alle Anwesenden und applaudierten lange. Bis der Präsident und Pasternak selbst um Ruhe baten.
Pasternak begann Gedichte zu lesen, eine Auswahl früher entstandener Werke. Plötzlich glitt ihm ein Blatt aus den Händen. Der Dichter unterbrach seine Vorlesung und bückte sich, es aufzuheben.
In diesem Moment erhob sich eine Stimme im Saal und rezitierte weiter, aus dem Gedächtnis. Andere Stimmen fielen ein, und im Chor vollendete die Zuhörerschaft die vom Dichter unterbrochene Deklamation. Mit Tränen in den Augen murmelte Pasternak:
Spassibo vam, doroguié; ich danke euch, meine Lieben…
Um die Bedeutung dieses Vorfalles richtig zu ermessen, muß man sich den Umstand vergegenwärtigen, daß der Name Pasternaks zwei Jahrzehnte lang fast völlig aus der Sowjetunion verschwunden war. Einzig seine Goethe-, Shakespeare-, Rilke-, Verlaine- und andere Übersetzungen aus der Weltliteratur wurden herausgegeben.
Seine erste Gedichtsammlung erschien 1914; darin machte sich der Futurismus stark, fast dominierend geltend. Als 1927 Das Jahr 1905 und Leutnant Schmidt herauskamen, war er Majakowski ebenbürtig. Majakowski starb 1930; seither gilt Pasternak als der größte lebende sowjetische Dichter.
1931 wurden Erzählungen und Der Geleitbrief, biographische Werke, geschrieben in einer breiten lyrischen Prosa, in Leningrad publiziert – in Auflagen von je etwa 10.000 Exemplaren. Einige Monate später wurden alle seine Bücher aus den sowjetischen Bibliotheken zurückgezogen. Während der Kriegsjahre erschienen in verschiedenen sowjetischen Zeitschriften einige Gedichte, in denen Pasternak die deutschen Greueltaten brandmarkte. Aber nur solche Gedichte, scheint es, wurden von der Zensur akzeptiert.
Einzig im Jahre 1945 erschien wiederum ein Gedichtband, Irdische Weite; die ungewöhnlich große Auflage war in Kürze ausverkauft. Tatsächlich ist es heute unmöglich, in einer sowjetischen Bibliothek ein Werk von Boris Pasternak aufzutreiben.
Die Studenten und jungen Schriftsteller, die im August 1957 am Fest der Moskauer Jugend teilnahmen, konnten sich erneut vergewissern, daß Pasternak immer noch einer der berühmtesten, beliebtesten und meistgelesenen Schriftsteller Sowjetrußlands war.
Wie ist das möglich, wenn doch seine Werke unauffindbar sind?
Auf diese Frage, die ein ausländischer Student einem Moskauer Kollegen stellte, antwortete dieser (indem er ein Blatt Papier aus der Tasche zog, auf dem die Handschrift eines Pasternak-Gedichtes zu lesen war):
Tausende von solchen Manuskriptabschriften zirkulieren in ganz Rußland.
Die Situation Boris Pasternaks ist einmalig: offiziell totgeschwiegen, aber physisch während Rußlands Schreckensjahren verschont (dank der persönlichen Sympathie Stalins, sagt man). Heute lebt er in der Hauptsache von seiner Übersetzungsarbeit – ohne jedoch Gelegenheit zu haben, seinen letzten Roman, Doktor Schiwago, in seinem eigenen Land zu veröffentlichen.
Leonid Pasternak, sein Vater, der 1945 in London gestorben ist, hat einige Jahre in Palästina gelebt. Mehrfach soll er seinen Sohn gebeten haben, zu ihm nach Palästina auszuwandern.
„Ich bin ein russischer Schriftsteller und ausschließlich Russe“, antwortete Pasternak.
Und ich bleibe Russe. Niemals werde ich emigrieren, niemals verlasse ich das russische Volk…
Léon Leneman, aus Boris Pasternak: Bescheidenheit und Kühnheit. Herausgegeben von Robert E. Meister, Die Arche, 1959
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Boris Pasternak
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Flg.: Ein Dichter in der Sjetsch
Die Tat, 10.2.1960
Heinz Schewe: Boris Pasternaks 70. Geburtstag
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 1/2.
Boris Pasternak – Dokumentarfilm Teil 2/2.
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