DIE STERNENREUSE
Daß du noch schwebst, uralter Mond?
Als jung noch deine Scheibe schwebte,
hab ich an einem Fluß gewohnt,
wo nur das Wasser mit mir lebte.
Das Wasser schwoll, es war Gesang,
ich schöpfte und mein Atem lauschte,
wie es um Steine tönend sprang
und schäumend schoß und niederrauschte.
Zwei Felsen, wie betäubt von Ruß
und steil und schmal wie eine Schleuse,
umstanden damals noch den Fluß.
Im Wasser hing die Sternenreuse.
Ich hob die Reuse aus dem Spalt,
es flimmerten kristallne Räume,
es schwamm der Algen grüner Wald,
ich fischte Gold und flößte Träume.
O Schlucht der Welt, des Wassers Schwall
kam wie Gesang: war es mein Leben?
Damals sah ich im dunkeln All
ganz nah die Sternenreuse schweben.
Die Gedichte dieses Bandes entstanden in den Jahren 1925 bis 1947. Sie stellen eine vom Verlag getroffene Auswahl dar, welcher Peter Huchels 1948 erschienene erste Gedichtsammlung sowie Einzelveröffentlichungen zugrunde liegen.
Für die Jüngeren unter uns sieht es so aus, als sollten wir Peter Huchels Gedichte in umgekehrter Reihenfolge kennenlernen – die späten zuerst, die frühen zuletzt. Zwar hat es, von Vorkriegsveröffentlichungen abgesehen, 1948 einen Band Gedichte in Ostberlin, 1949 eine Lizenzausgabe in Karlsruhe gegeben, aber sie sind längst vergriffen und vergessen. Wer nicht ein Leser der von Huchel redigierten Ostberliner Kulturzeitschrift Sinn und Form gewesen ist – und das waren in Westdeutschland nur wenige –, der ist dem Dichter erst begegnet, als 1963 sein Gedichtband Chausseen Chausseen erschien. Die Sammlung bot eine Auswahl aus dem Schaffen der reifen Mannesjahre. Was der junge Huchel geschrieben hatte, blieb im dunkeln, bis in diesem Jahr ein neuer Band Die Sternenreuse, Gedichte 1925–1947, die Verse auch jener Periode vorstellte.
Das Charakteristische der Gedichte, die diesen Band beherrschen, hat vor Jahren einmal Johannes Bobrowski hervorgehoben, als er auf die Interviewerfrage, welcher unter den lebenden Dichtern ihn beeinflußt habe, folgende Antwort gab:
Peter Huchel natürlich! In der Gefangenschaft habe ich zum erstenmal ein Gedicht von ihm gesehen, in einer Zeitung, und das hat mich ungeheuer beeindruckt. Da habe ich es her, Menschen in der Landschaft zu sehen, so sehr, daß ich bis heute eine unbelebte Landschaft nicht mag. Daß mich also das Elementare der Landschaft gar nicht reizt, sondern die Landschaft erst im Zusammenhang und als Wirkungsfeld des Menschen.
Huchels Landschaft ist die Mark Brandenburg. 1903 in Lichterfelde, vor den Toren Berlins, geboren, wuchs er auf dem Bauernhof des Großvaters im märkischen Alt-Langerwisch heran, und was die Mark ihm an lebendigen Eindrücken gegeben hatte, das zahlte er ihr an sensibler Darstellung zurück:
Wendische Heide, weißes Feuer,
du Bütte Gold und Mittagsspuk,
die Grille huschte, schrillte scheuer
am Stein, der keinen Schatten trug.
(…)
Moosgrünes Fenn und Erlenruten,
der Bach, die letzte Tränke kam,
und weithin gelbe Ginstergluten,
wo stachlig hing der schwarze Bram.
Aber, wie Bobrowski andeutete, der Dichter der märkischen Zeit war kein Naturlyriker. Heide, Kiefernwälder, Brombeerdickicht, Schafherden, Unken im Luch, das alles bezeichnet den Rahmen, das Wirkungsfeld für die Menschen, die in der Mark zu Hause sind oder waren, die ihr Gesicht gaben und Geschichte. Die Menschen, die durch diese Gedichte gehen, hätten ohne ihre Landschaft kein Leben, sowenig wie die Landschaft ohne sie. Die Magd:
Ein Nußblatt wegs die Magd zerreibt,
daß grün der Duft im Haar mir bleibt.
Riedgras saust grau, Beifuß und Kolk.
Im Dorf kruht müd das Hühnervolk.
Schon klinkt sie auf das dunkle Tor.
Wir tappen in die Kammer vor,
wo mir die Magd, eh sie sich labt,
das Brot brockt und den Apfel schabt.
Der alte Knecht:
Auf dem Brette über dem Herd
trocknen noch seine Kürbiskerne.
Aber ein andrer schirrt morgens das Pferd,
dengelt und wetzt und senst die Luzerne.
Hinter dem nebelsaugenden Strauch
wartet verlassen die Weidenreuse.
Abends, über des Flusses Rauch,
flattern wie immer die Fledermäuse.
Der Hirt aus wendischen Zeiten:
Uralter Hirt, dein Volk zu hüten,
gingst du im Staub der Herde nach,
die lautlos zog, wo Wacken glühten
im öden Halmfeld heiß und brach.
Es fällt auf, daß Huchel sein Kindheitsland mit armen Leuten bevölkert, Hofgesinde, Bettlern, wandernden Kesselflickern, „landlosen Schnittern und Kossäten“. Vom Formalen her gesehen, gewinnen die Verse dadurch einen besonderen Reiz. Denn das Zusammenspiel von skurrilen Gestalten, Volksaberglauben, Spinnstubenlegenden mit der geheimnisträchtigen Kargheit märkischer Landschaft gibt dem Kosmos, den der Dichter nachzubilden sich bemüht, Kontur und Farbe.
Doch ist Huchel nicht von ästhetischen, sondern von sozialen Impulsen zu dieser Art der Darstellung getrieben worden. Ihn schmerzte, daß die schlichten Hüter seiner Knabenwelt, denen er die Erziehung der Gefühle dankt, so wenig teilhatten an den Früchten ihrer Mühen. In einem gleichnishaften Gedicht vom Hirtenzug nach Bethlehem läßt er die armen Leute zweifelnd vor der Verheißung der Krippe stehen:
Gras, Vogel, Lamm und Netz und Hecht,
Gott gab es uns zu Lehn.
Die Erde aufgeteilt gerecht,
wir hättens gern gesehn.
Aber der lyrische Tribut an die Armen ist nicht nur später Dank und sozialer Protest. Hier drückt sich eine Erfahrung aus, die über die geschilderte Vergangenheit hinausgeht. Der Erkenntnisprozeß, der nötig war, um den Zauber der märkischen Welt aus dem Gefühl ins Bewußtsein zu heben, hat zugleich diesen Zauber verschlungen. Das konfliktlose Einssein mit Natur und Kreatur wich dem Wissen von Gut und Böse.
Dem märkischen Zyklus folgen Verse, die Eindrücke einer Frankreichreise wiedergeben, und ein Bündel Impressionen, hervorgerufen durch die Betrachtung von Naturphänomenen und durch Beobachtung alltäglicher Kleinigkeiten. Und obwohl Verarbeitung und Timbre der Sprache unverändert erscheinen, spürt man sogleich, daß der Dichter hier nur angeregt, nicht engagiert ist.
Ähnlich ist es mit seiner lyrischen Antwort auf die zwölf Hitlerjahre, von der der Band Sternenreuse vier Proben darbietet. Huchel ist kein politischer Dichter. Politik kann in seinen Versen nur wirksam werden in ihrer existentiellen Funktion, als Bedingung, unter der sich menschliches Dasein vollziehen muß. So nimmt es nicht wunder, daß überall dort, wo Protest, Deklaration, Anklage formuliert werden, die formale Schönheit des Gedichtes leere Hülle bleibt. Unter den angebotenen Gedichten ist nur eines, 1933 entstanden, in dem Huchel – im Wortsinne – Anteil nimmt und das, über den gegebenen Anlaß hinaus, eine historische Perspektive entwirft:
Späteste Söhne, rühmet euch nicht,
einsame Söhne, hütet das Licht.
Daß es von euch in Zeiten noch heißt,
daß nicht klirret die Kette, die gleißt,
leise umschmiedet, Söhne, den Geist.
Erst wo die objektiven Gegebenheiten jener Zeit im subjektiven Erleben wiederholt wurden, in den Erschütterungen des Krieges, fand Huchel zur unmittelbaren Aussage zurück. In seinem Gedichtkreis „Der Rückzug“ fügt er aus Angst, Zerstörung, Heimatlosigkeit, Tod ein Gemälde des Friedhofs Europa, auf dem die Hoffnung einer Epoche zu Grabe fuhr.
Vielleicht war es die dunkle Sehnsucht nach der Wiederherstellung einer heilen Welt, die Huchel nach dem Kriege in seinen größten Irrtum trieb. Nicht durch politisches Engagement, aber aus sozialer Neigung links orientiert, war er geneigt, in der Bodenreform der SED den Beginn einer gerechteren, menschenwürdigen Ära zu sehen. Er begann ein Verswerk, „Das Gesetz“, das in Form einer Chronik des Dorfes Wendisch-Luch die Entwicklung vom Kriegsinferno bis zum verwirklichten Frieden nachzeichnen sollte. Das Werk blieb ein Torso. Angesichts der Verse, die – thematisch verstanden – dem Höhepunkt entgegenstrebten („Reiß um den Grenzstein des Guts! / Deine Pfähle schlag ein, / ackersuchendes Volk!“), spürte Huchel, daß die platte Realität ihre lyrische Wiedergabe längst erstickt hatte. Er verwarf seine Arbeit. Übrig blieben nur die Strophen der Exposition, Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde, Wendisch-Luch, Der Treck, die ihrem Habitus nach den Kriegsgedichten zugerechnet werden können und von Huchel bei der Zusammenstellung seiner Gedichtbände auch dort eingeordnet worden sind.
Der Fehlschlag von „Das Gesetz“ markiert den entscheidenden Wendepunkt in Huchels Schaffen. Auf einer neuen, höheren Ebene wiederholte sich, was sein märkischer Zyklus ausgedrückt hatte: War er einst aus dem Kindheitstraum hinausgetreten, so trat er nun aus dem Schatten der Glückspropheten, bereit, die Welt ohne den Trost einer Verheißung zu bestehen.
Themen und Formen der späten Periode belegen die große Wandlung. Oberflächlich gesehen, behandeln die Gedichte des Bandes Chausseen Chausseen das alte Sujet: Landschaft in ihrer Eigenart und als menschliches Wirkungsfeld, nun aber nicht mehr nah und vertraut, sondern fern, exotisch. Es ist nicht der Zufall persönlichen Erlebens, der die Fremde zum lyrischen Schauplatz macht. Mit den griechischen Inseln, italienischen und französischen Städten und Küsten, mit den Fischern, Hirten und den Figuren südeuropäischer Mythen gewinnt die beschriebene Welt eine andere, größere Dimension; die Grenzen sind ausgelöscht. Die Elemente der Landschaften lassen keine assoziativen Erinnerungen mehr zu, sie sind nicht Gleichnis, sondern Zeichen, Wegmarken sich vollziehender wie längst gelebter Schicksale:
Hinab den Pfad,
Wo an der Distel
Das Ziegenhaar weht.
Siebensaitig tönt die Kithara
Im Sirren der Telegrafendrähte.
Bekränzt von welligen Ziegeln
Blieb eine Mauer.
Das Tongefäß zerbrach,
In dem versiegelt
Der Kaufbrief des Lebens lag.
Hier deutet sich an, welchem Bereich Huchel sich schließlich näherte. Seine letzten Gedichte (jüngere als die des Chausseen-Bandes sind noch nicht bekannt) speist er aus antiken Motiven; er hat, mehr als drei Jahrzehnte nach dem märkischen Zyklus, zur Quelle der Humanitas gefunden. Aus ihr gewinnt er Maß und Gegenbild für die heillose Zeit und Stärke für seine einsame Position. Es ist nicht Resignation, sondern der Schmerz eines aus Jahrtausenden geschöpften Wissens, wenn Huchel, auch sein Lebenswerk überblickend, konstatiert:
Polybios berichtet von den Tränen,
Die Scipio verbarg im Rauch der Stadt.
Dann schnitt der Pflug
Durch Asche, Bein und Schutt.
Und der es aufschrieb, gab die Klage
An taube Ohren der Geschlechter.
Sabine Brandt, Die Zeit, 8.12.1967
Die Art, in der Peter Huchel wegen seiner Lyrik zu Ansehen gekommen ist, hat etwas Kurioses; sie beruht, wie Ruhm fast immer, auf Missverständnissen und Irrtümern. Da haben einmal politische Faktoren eine Rolle gespielt. Denn nachdem Huchel seine besten Gedichte geschrieben hatte, kamen die Nazis an die Macht und setzten banausenhaft ihre Massstäbe von Schönheit und Kunst. Dann aber – nach dem Krieg – (die Gedichte erschienen jetzt, um einige spätere Stücke vermehrt, im Ostberliner Aufbau-Verlag und im westdeutschen Stahlberg Verlag) hätte der Breiten- und Tiefenwirkung nichts mehr im Wege gestanden. Doch jetzt sollte sich zeigen, dass man Huchel im kommunistischen Teil Deutschlands zwar wegen seiner gesellschaftlichen Bereitwilligkeit und Mitarbeit respektierte und förderte, dass man seine Lyrik (besonders die frühe, unideologische) aber nur gerade so mit jn Kauf nahm. Und noch mehr Interessenlosigkeit widerfuhr der Huchelschen Dichtung in Westdeutschland, wo man sich noch völlig im Unklaren darüber war, was man von der vergangenen deutschen Lyrik mit in die Zukunft zu nehmen hatte, ganz zu schweigen davon, was es im Ausland inzwischen zu inspizieren gab.
So wurde Huchel in der Bundesrepublik erst dann zu einem gewissen Begriff, als man dort angefangen hatte, die ostdeutsche Literaturszene wie eine Art exotischer Landschaft zu betrachten, wobei man, da man die Verhältnisse in kommunistischen Ländern natürlich überhaupt nicht kannte und verstand, allzu oft Ursachen und Wirkungen verwechselte und auch dazu neigte, jene Autoren für die bedeutendsten zu halten, die von der marxistischen Literaturkritik am häufigsten gerühmt wurden (die ihr also am angenehmsten waren). Huchel, damals noch nicht in Ungnade gefallen, wurde nun zu einer fast mythischen Figur, einer Repräsentanzgestalt, die umso mehr in einen nebulosen Ruhm hineinwuchs, als man – ausser wenigen Gedichten in Anthologien – überhaupt nichts Künstlerisches von ihm kannte. Erst als dann (bei S. Fischer) 1953 Huchels zweiter Gedichtband Chausseen Chausseen erschien, hatte man endlich etwas Gedrucktes vor Augen. Und nun wurde von der Kritik nachgeholt, was bei dem ersten Band versäumt worden war. Man lobte den Autor an Konkretem, man sprach ihm höchsten Ruhm und lautersten Charakter zu; und man tat das deswegen besonders gern, weil Huchel inzwischen mit den Machthabern und den Kulturellen Sachwaltern seines Landes in einen Konflikt geraten war, der ihn nicht nur zu gefährden schien, sondern der ihn auch schliesslich um seine Stellung als Redakteur der angesehenen und seinerzeit noch von Paul Wiegler mitbegründeten Literaturzeitschrift Sinn und Form brachte.
Was den Kritikern damals freilich entging, war die Tatsache, dass Huchels neues Buch in seiner lyrischen Essenz und in der Qualität der darin enthaltenen poetischen Bilder bedeutend niveauloser war als seine frühere unbeachtet gebliebene Sammlung. Zwar bot die neue Publikation Gelegenheit, Niederschläge von Huchels persönlichen politischen Schwierigkeiten aufzuspüren.
Man fand verschlüsselte und sogar kaum verschlüsselte Kassiber, die er aus dem Gefängnis seines Mauerstaates schmuggelte. Doch wenn das Buch auch ein Dokument der Ehrlichkeit und des Mutes war, jener bedeutende Gedichtband, für den es allenthalben ausgegeben wurde, war es nicht. Das machte damals – als Einziger – Wilhelm Lehmann klar, der sich in der Deutschen Zeitung, Köln, zu Wort meldete. Huchel – so führte Lehmann aus – werde jetzt wegen seines politischen Widerstandes für einen grossen Dichter gehalten, dabei sei es doch bekannt: Wer Lyrik als Instrument gegen zeitgenössische Verhältnisse verstehe, habe „von vornherein auf das eigentliche Lyrische als ein zeitloses Element verzichten müssen“.
Auch Lehmann, der in erster Linie seinen eigenen Standort verteidigen wollte, kam jedoch nur zu bedingt richtigen Ansichten. Immerhin gelang ihm der Nachweis, dass Huchels Buch Chausseen Chausseen kein guter Gedichtband sein konnte, weil es in ihm eine zu grosse Zahl misslungener Metaphern gab. Das war in der Tat eine wichtige Beobachtung. Denn Huchels poetische Sprache war mittlerweile wirklich kraftlos geworden, ungenau; sie neigte dazu, das Bild nicht aus einem Sachverhalt aufsteigen zu lassen, sondern es zum Schmuck von Situationen und Dingen zu verwenden.
Allerdings tat Lehmann, der die Schwächen von Huchels neuer Lyrik erkannte, nun so, als sei Huchel schon immer ein geringer Dichter gewesen: einer, der zwar stets löbliche Absichten gehabt habe, der aber seiner sprachlichen Mittel niemals sicher gewesen sei. Das ist nicht zutreffend. Der frühe Huchel – der Huchel, der die Gedichte „Herbst der Bettler“, „Der Knabenteich“, „Letzte Fahrt“, „Sommer“, „Wilde Kastanie“, „Der glückliche Garten“, „Die Sternenreuse“, „Havelnacht“ und „Wintersee“ verfasste – war kein Lyriker, der genauso schrieb (wie) der zehn Jahre ältere Richard Billinger. Der frühe Huchel arbeitete zwar nicht, wie Lehmann es damals gerade übte, an einer dingbesessenen Genauigkeit, an detaillierter Präzision. Doch wenn Huchel auch noch nicht dadurch wahrhaltig (und modern) zu sein suchte, dass er die Welt en miniature darstellte und belegte; wenn er auch noch ein Poet war, bei dem sich die Einflüsse Trakls mit denen Hölderlins und Lenaus mischten; die Huchelsche Dichtung war ungewöhnlich klar und lauter, und wenn sie aus grossen Ur-Worten wie Nacht und Mond und Wasser magisch klingende Wortkaskaden errichtete, dann war sie essentiell ein Protokoll archetypischerhabener Stimmungen und formal eine äusserst raffinierte eine ästhetisch ausgereifte Artikulation:
HAVELNACHT
Hinter den ergrauten Schleusen,
nur vom Sprung der Fische laut,
schwimmen Sterne in die Reusen,
lebt der Algen Dämmerkraut.
Lebt das sanfte Sein im Wasser,
grün im Monde, unvergilbt,
wispern nachts die Büsche blasser,
rauscht das Rohr, ein Vogel schilpt.
Nah dem Geist, der nachtanbrausend
noch in seinem Flusse taucht,
in dem Schilf der Schleusen hausend,
wo der Fischer Feuer raucht:
Duft aus wieviel alten Jahren
neigt sich hier ins Wasser sacht.
Wenn wir still hinunter fahren,
weht durch uns der Trunk, der Nacht.
Die vergrünten Sterne schweben
triefend unterm Ruder vor.
Und der Wind wiegt unser Leben,
wie er Weide wiegt und Rohr.
Das sind keine „aktuellen“ Strophen. Aber es sind Verse, die man, wenn man gerecht ist und sich nicht irreleiten lässt von dem Begriff Modernität oder von Vorstellungen der Ideologien, vom Kunstverstand her als gelungen und vom Gefühl, von der alten guten Seele her als wahr akzeptieren muss. Es sind Verse, die persönliches Erleben über das Ego und das Jetzt hinausgeleiten in jene grösseren Bereiche und tieferen Bezüge, an die jeder noch so aufgeklärte Dichter einfach glauben muss – sofern er in seinem Schaffen keine Tätigkeit sehen will, die nur noch mechanisch weiterklappert, längst jenseits von Anlass und Ziel.
– Kritische Anmerkungen zu einigen neuen Gedichtbänden. –
Es ist ein ziemlich sinnloses Unterfangen, neue und besonders herausragende Strömungen innerhalb der modernen Lyrik suchen und deuten zu wollen. Was wir in Gedichtbänden vorgesetzt bekommen, kennen wir seit Jahren. Insofern sind sie weiterhin der vielfältig widerspiegelnde Spiegel einer Zeit, die eine unveränderte ist, seit längerem schon: explosiv, verworren, unruhig und permanent aufrührerisch. Das politische und politisch angehauchte Gedicht darf also mit des Lesers Interesse rechnen, denn – so könnte man denken –: Was die Leitartikler nicht zustande bringen, könnte einmal ein Verseschreiber bieten, nämlich eine überraschende Einsicht, die flammende Metapher für ein Gärendes, Schwelendes, Unbenanntes. Aber zuviele Lyriker wissen heute, wie man seines echten oder Schein-Engagements sprachlich Herr wird. Zuviele Lyriker können heute ein durchschnittlich gutes, ,richtiges‘ Gedicht schreiben, wohlfeil, an den Ellbogen aufgestützt bei Grass und Weyrauch, Rühmkorf und Heissenbüttel.
Man muss deshalb aufzählen, was nicht neu, aber noch immer en vogue ist: Es herrscht vor die Form des Prosagedichts, bei der das Gedicht eigentlich nur Gedicht ist durch die graphische Form der Anordnung, Man spricht etwa vom Sachgedicht, von Versen bar jeder Rhythmik und des Reims. Die Form des Kindergedichts erfreut sich weiterhin gern angewendeter Beliebtheit. Es vermag die Bosheit einer bösen Aussage zu verstärken durch die so zutage tretende verfremdende Distanzierung. Die kargen Chiffren, die einsam dastehenden Runen lenken den Blick auf viel leergebliebenes Weiss in den Bändchen. Tonlich schwingt die Resignation fort, kalte Intellektualität, Protest und Zorn und Melancholie. Alte lyrische Anliegen melden sich, sind nicht erstickt worden: die privateste Aussage nämlich, Mond und Brot, kleines Glück irgendwo; vielleicht kann man sagen, dass man im ganzen gesehen sich wieder etwas mehr der wärmeren, der sinnlicheren Chiffre zuwenden möchte.
Tradition
Dass auch noch andere Lyrik sich weiterhin behaupten kann und will, vor der ein ganz Heutiger lächelnd oder ratlos stehen mag, wird am Beispiel eines Peter Huchel evident, vor dem alle genannten Merkmale versagen. Er gehört zu jenen Gralshütern, die keine politischen und technologischen Ereignisse vom Tor zu den geheiligten Gütern und Traditionen weggefegt haben. Er hat sie noch: die Kindheit, „o blühende Zauch“, und „rehbraun rauscht im Schlaf der Wald“ ihm noch. Ihm erscheint es gegeben, „Die Magd“ zu besingen. „Kinder im Herbst“, „Frühe Sommer“, „Krähenwinter“ und so fort. Aber wo und wie man sich auch hineinliest: Huchel zeigt uns in dieser Art Lyrik, dass Verseschreiben unter anderem heisst, für das richtige Bild das richtige Wort suchen; Sicherheit des Auszusagenden durch Sicherheit der Form. Huchel ist ein Traditionalist, der sich seine Brunnen nicht vergiften liess.
Sabine Brandt: Peter Huchel: Die Sternenreuse
Hessischer Rundfunk, 18.6.1967
Sabine Brandt: Huchels frühe Gedichte
Der Monat, Heft 227, 1967
H. Conrad: Peter Huchel: Die Sternenreuse. Gedichte 1925–1947
dpa – Buchbrief / Kultur, 9.8.1967
Peter Hamm: Peter Huchel: Sternenreuse
Rias Berlin, 8.4.1968
Hans-Jürgen Heise: Peter Huchels frühe Lyrik
Die Tat, 6.5.1967
Karl Krolow: Brüchige Musik. Die frühen Gedichte Peter Huchels
Stuttgarter Zeitung, 20.5.1967
Christiane Muschter: Lyrische Streifzüge. Vom Trost des Erinnerns
National-Zeitung, 17.11.1968
Jost Nolte: Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden
Die Welt der Literatur, 22.6.1967
Jost Nolte: Verse von Heute. Zu neuen deutschen Lyrikbänden
Deutschlandfunk, 13.7.1967
Kurt Opitz: Peter Huchel: Die Sternenreuse
Books Abroad, Heft 42, 1968
Dietrich Segebrecht: Herkunft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1968
I
Um Peter Huchel ist es wieder still geworden. Die dramatischen Ereignisse des Jahres 1962, mit hochoffiziellen Angriffen auf Huchels Person, Herausgebertätigkeit und Werk, seine Absetzung und Verfemung, haben ein starkes Echo in der Presse der Bundesrepublik ausgelöst. Die Publikation des Bandes Chausseen Chausseen im darauffolgenden Jahre und die Verleihung des Westberliner Fontanepreises wurde ebenfalls noch (hüben und drüben) gebührend zur Kenntnis genommen. Seither hört man kaum etwas über den Dichter. Bekannt ist, daß Huchel dem Beispiel von H. Mayer, E. Bloch, A. Kantorowicz, H. Kipphardt, U. Johnson, C. Reinig u.a., sich nach dem Westen abzusetzen, nicht gefolgt ist. Weniger bekannt dürfte sein, daß Huchel (angesichts zahlreicher Einladungen, im Westen zu lesen) die DDR nicht verlassen und umgekehrt keinen Besuch empfangen darf: wie Brechts Galilei lebt der Dichter heute in der vollkommenen Isolierung einer unfreiwillig inneren Emigration.
Eduard Zacks Versuch (in seiner Monographie aus dem Jahre 1953), Huchels Entwicklung als ein problemloses und ungetrübtes Eheglück mit dem Marxismus darzustellen, ist denn auch ebenso fragwürdig, wie die Charakterisierung Huchels in einem verbreiteten westdeutschen Literaturlexikon von 1960 als „einer der maßgeblichen Kulturfunktionäre der DDR“ oberflächlich war. Schon lange vor Huchels erzwungenem Rücktritt – und somit vor der Ausrichtung und Einengung von Sinn und Form auf Eigen-sinn und Uni-form – zeigte nämlich die gesamtdeutsche Perspektive dieser Zeitschrift, daß sie nicht von einem Kulturfunktionär, sondern trotz des steigenden Drucks von seiten der Kulturfunktionäre auf ihrem europäischen Niveau gehalten wurde. Bereits im Jahre 1931 aber hatte Huchel, in einem kurzen Lebenslauf in der Literarischen Welt, betont, er habe keine Absicht, den Einladungen seiner im Parteibüro sitzenden Altersgenossen zu folgen; die marxistische Würde stehe ihm nicht zu Gesicht. Nach 1933 schreibt Huchel unpolitische Hörspiele; Alfred Kantorowicz attestiert ihm in seinem bemerkenswerten Deutschen Tagebuch, er habe die Zeit der Naziherrschaft „untätig, schweigend, aber auch unbefleckt“ verbracht. Im Kriege ist Huchel Soldat; aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen, optiert er nun doch bewußt für den nach marxistischen Grundsätzen verwalteten Teil Deutschlands und übersiedelt von West- nach Ost-Berlin. Aber bereits 1948 bezeichnet der Hauptabteilungsleiter im Kulturministerium, Peter Nell, Huchels Werk als „gefährlich für die Entwicklung der Zone“. 1951 dagegen empfängt der Dichter (wohl vor allem als Protegé Brechts) den Nationalpreis, allerdings dritter Klasse, also, wie man zu sagen pflegte, in Holz. Stalins Tod entlockt Huchel (ähnlich übrigens wie Brecht, aber im Gegensatz zu den hymnischen Beiträgen der meisten anderen Akademiemitglieder) gezählte vier Prosazeilen. Im März 1953 notiert Kantorowicz – damals seinerseits Herausgeber von Ost und West – trotzdem in seinem Tagebuch, Huchels Fügsamkeit dem Regime gegenüber gehe über das Notwendige hinaus. Dasselbe historische Jahr 1953 bringt jedoch mit einem offenen Brief Huchels in der Zeitschrift Neue deutsche Literatur einen der erstaunlichsten Fälle von „nostra culpa“, der je über die Zonengrenze drang. Nicht nur ist plötzlich zu wiederholten Malen von „westdeutschen Freunden“ die Rede; Huchel plädiert auch ganz ausdrücklich dafür, „mehr als einen Weg“ gelten zu lassen. Vor allem aber wendet er sich heftig gegen die „angemaßte Unfehlbarkeit“ ostdeutscher Kritiker und ihre Neigung, „aus jeder Zeile ein politicum“ zu machen und „dem schöpferischen Menschen damit ein Gefühl von Unsicherheit, ja Furcht einzuflößen“. Dem steht wieder ein etwas stelzbeiniges Huldigungsgedicht an die Akademie und eine reichlich blechern rasselnde Hymne an Lenin gegenüber – mit Recht ist keines dieser beiden Gelegenheitsgedichte nachgedruckt worden. Andererseits haben solche Pflichtergüsse den Dichter keinesfalls gehindert, fühlbarem Druck von oben zum Trotz, eindeutig Stellung gegen die Mauer zu beziehen. Und wegen der Vollständigkeit des Bildes sollte nicht unterschlagen werden, daß selbst die bittere Desillusionierung der letzten Jahre Huchel keineswegs zu einem Freund des kapitalistischen Westens werden ließ. (Fragen muß man sich allerdings, wie realistisch Huchels Bild dieses Westens ist: während er sich über die Teach-in-Bewegung an amerikanischen Universitäten gut unterrichtet zeigte, konnte er umgekehrt den Verfasser dieser Studie allen Ernstes fragen, ob denn die Tatsache, daß er seine Studenten an einer amerikanischen Staatsuniversität Dissertationen über Brecht schreiben läßt, nicht zu „Schwierigkeiten mit den Behörden“ führen werde.) Ungetrübtes Eheglück mit dem Marxismus der DDR also? Gewiß nicht! Kapitalistisch inspirierter Widerstandskampf gegen den Absolutismus der Zone? Ebensowenig. Rückgratloser Opportunismus? Auch das nicht, zumal Huchels kritische An- und Ausfälle gewöhnlich zur inopportunsten Zeit kamen. Aber ein Mensch mit seinem Widerspruch – und immer noch einer, der, wie vor dreißig Jahren, etwas vertrotzt von sich sagen darf, er lebe „ohne Entschuldigung“.
II
Von Huchels Ruf als Dichter möchte man, in Abwandlung eines bekannten Musilwortes sagen, er sei gut, aber unhörbar. Unter den Anthologien, die in den letzten zwanzig Jahren mit dem Anspruch auftraten, die lyrische Ernte der Jahrhundertmitte einzubringen, findet sich kaum eine, in der der Name Huchel fehlt. Trotzdem ist Huchels Werk selbst unter Kritikern und Literaturprofessoren kaum bekannt, ist die Literatur über dieses Werk beschämend spärlich. Sie besteht zumeist aus Rezensionen, aus Kurzbiographien anläßlich von Preisverleihungen und aus persönlichen Reminiszenzen, aus geburtstagsglückwünschenden Feuilletons und aus Glossen zu Huchels Herausgebertätigkeit. Peter Hamms Aufsatz im Merkur versucht einen ersten Überblick. Dagegen will Eduard Zacks erwähnte Monographie vor allem den Nationalpreisträger eingemeinden, indem sie ihm bestätigt, er habe die Klassiker des Marxismus-Leninismus gelesen und „den Weg zum Realismus gefunden“ – seine Dichtung sei dementsprechend „als fortschrittliche Leistung“ zu werten.
Das öffentlich zugängliche Werk dieses fünfundsechzigjährigen Dichters ist dem Umfang nach gering. Es besteht aus einigen Hörspielen (die aber nicht in demselben Maße wie etwa die Günter Eichs zum eigentlichen Werk gehören) und aus zwei Gedichtbänden: den 1948 im Ostberliner Aufbauverlag und 1949 unverändert in der Bundesrepublik (Stahlberg Verlag, Karlsruhe) erschienenen Gedichten, und dem 1963 bei S. Fischer veröffentlichten Band Chausseen Chausseen. Im wesentlichen eine reduzierte Neuauflage des ersten Bandes ist die 1967 bei Piper erschienene Sammlung Die Sternenreuse, Gedichte 1925–1947, bereichert allerdings durch ein bemerkenswertes frühes Gedicht nach Büchners Lenz. Zusammen enthalten diese Bände knapp hundertzwanzig Gedichte – auf eine vierzigjährige Entstehungszeit verteilt, ergibt dies einen Durchschnitt von drei Gedichten pro Jahr. Natürlich geben solche Zahlen nicht nur Aufschluß über Huchels bedächtige Arbeitsweise, sondern vor allem über seine Grundsätze in Fragen des Veröffentlichens: Huchel war immer ein großzügiger Herausgeber von Werken anderer und ein zögernder seiner eigenen Produktion. Die Kürzungen, mit denen im jüngsten Band der Zyklus „Der Rückzug“ erscheint, sind ein neuer Beweis für Huchels Hang zu rigoroser Selbstkritik. Auch gibt es von ihm so gut wie keine programmatischen Aussagen, ästhetisch-theoretischen Stellungnahmen, kritischen Anmerkungen, Kommentare, Selbstauslegungen oder andere „advertisements for myself“.
Befragt man die gängigen Lexika nach diesem Dichter, so erfährt man fast ausnahmlsos, daß Huchel Naturlyrik schreibe, eine Tätigkeit, die ihn in die Nachbarschaft von Dichtern wie Loerke und Lehmann, Eich und Langgässer, Britting und Piontek rücke. Was soll nun aber mit dieser Etikettierung wirklich gesagt sein? Erstens wohl einfach, daß – erstaunlich genug – alle Gedichte Huchels Landschaft enthalten. Zweitens dürfte mit der Bezeichnung „Naturlyriker“ darauf verwiesen sein, daß ein gut Teil dieses Werks tatsächlich dem Lob der Erde gilt:
Dich will ich rühmen,
Erde,
noch unter dem Stein,
dem Schweigen der Welt
ohne Schlaf und Dauer.
Drittens aber könnte der Begriff „Naturlyrik“ zu der Annahme verführen, Huchel sei gewissermaßen Mitglied einer Schule, deren einziges Interesse den Phänomenen der natürlichen Welt gelte. Dies scheint uns nun in mehr als einer Hinsicht falsch. Zunächst möchten wir den Verdacht aussprechen, daß jener „reine Naturlyriker“, von dessen ausschließlicher Hingabe an die Wunder des wechselnden Jahres die Bücher wissen, nie existiert hat. Vielmehr dürfte der Homunculus dieses Namens der Retorte des einen oder des anderen Kritikers entsprungen sein und seither ein zählebiges, aber rein literaturgeschichtliches Dasein führen. Dazu kommt, daß nicht nur die genannten „Mitglieder der Schule“ sich deutlich voneinander unterscheiden; Peter Huchel unterscheidet sich wiederum unverkennbar von jedem einzelnen von ihnen.
Gewiß könnte man auf verstreute Anklänge an ältere Dichter hinweisen. An Trakl (von dem Huchel übrigens nicht nur mit objektiver Hochachtung, sondern mit persönlicher Wärme spricht) erinnern vereinzelte Stellen, etwa die folgende:
Der Sinnende sucht andre Spur.
Er geht am Hohlweg still vorbei,
Wo goldner Rauch vom Baume fuhr.
Und Stunden wehn, vom Herbstwind weise,
Gedanken wie der Vögel Reise,
Und manches Wort wird Brot und Salz.
Loerkes magische Identifizierungen werden in den folgenden Versen mit angeschlagen:
Durch Wasser und Nebel wehte dein Haar,
Urfrühes Dunkel, das alles gebar,
Moore und Flüsse, Schluchten und Sterne.
Ich sah dich schwingen
Durchs Sieb der Ferne
Den eisernen Staub der Meteore.
Die Erde fühlend mit jeder Pore,
Hörte ich Disteln und Steine singen.
Lehmann hätte wohl Verse wie die folgenden schreiben können:
Die schilfige Nymphe,
das Wasser welkt fort,
der Froschbauch der Sümpfe
verdorrt
oder (aus demselben Gedicht):
Es neigt sich die Leuchte
ins Röhricht hinein.
Der ödhin verscheuchte
Wind kichert allein.
Mancher Leser mag sich ferner vom Ton eines Gedichts wie „Wei Dun und die alten Meister“ an Brecht gemahnen lassen, und vom komprimiert Epischen der folgenden Stelle ließe sich ähnliches behaupten:
Du rolltest durch den Hunger des Volks,
Durch Prunk und Aufruhr alter Provinzen,
Durch Stammesfehden und Lachen von Blut,
Bis dich die Tatze der Wüste begrub.
Dagegen könnte eine unerwartet kapriziöse Prägung wie „irgendstraßfern“ eher von Lasker-Schüler stammen. Und Huchels früher Versschluß:
Im Gras saß ich, mit müdem Haar,
das gelb verschlafen von Lupinen war
klingt wie eine Variation auf Heyms: „Wenn er im Felde schlief mit gelben Haaren“ („Galgenberg“). Trotz solcher Parallelen unterscheidet sich jedoch Huchel, wie gesagt, im ganzen deutlich von jedem einzelnen der genannten Dichter, ebenso wie von Langgässers gnostisch-mystischen Verzückungen, trotz mancher Ähnlichkeit auch von Eichs chinesisch-epigrammatisierenden Verknappungen und von Krolows „intellektueller Heiterkeit“ und beweglicher Anmut.
Man sollte wohl überhaupt von Naturlyrik nicht länger als von einer thematischen Beschränkung – einer Art Mangelkrankheit gewissermaßen – sprechen, sondern sie endlich als das erkennen, was sie ist: eine lyrische Technik, die sich mit den verschiedensten Themen, Absichten und Haltungen verbinden läßt. Dazu wird man lernen müssen, zwischen der Natur als Motiv einerseits und als Matrix möglicher Metaphern andererseits zu unterscheiden. Bei Huchel gibt es in der Tat keine Gedichte, in denen die Natur nicht die letzterwähnte Rolle spielt; das einzige Motiv seiner Lyrik ist sie aber keineswegs und war sie nie. Die ästhetische Grundposition der Naturlyrik scheint uns denn auch durch Ezra Pounds bekannte Maxime genau bestimmt: „The natural object is always the adequate symbol.“ Das Wort „always“ verweist hier ausdrücklich auf eine Vielfalt möglicher Seinsgegebenheiten, die durch das adäquate Symbol des Naturgegenstands erschlossen werden. Und Wilhelm Lehmann nennt einen verwandten Sachverhalt:
Eine schmale Zeichenreihe bemächtigt sich der Saugekraft einiger präziser Details, um vielschichtiger Phänomene innezuwerden.
Diese Formulierung Lehmanns lenkt unsere Aufmerksamkeit zugleich auf eine der Hauptgefahren dieser Technik: die gesamten präzisen Details können sich nämlich unter der Hand in einer Weise vermehren, die der Gesamtökonomie des Gedichts abträglich ist. An Einzelheiten, an atemberaubend genauen Beobachtungen, herrscht auch bei Huchel kein Mangel. Etwa:
Die Mücke im Altweiberzwirne
schmeckt noch wie Blut das letzte Licht,
das langsam saugt das Grün des Ahorns aus.
Oder:
Über Luch und Rohr und Seen
schickt der Winter Nebelkrähen,
Schatten überm blanken Eise
rudern sie im Winde leise.
Oder:
Die Feige leuchtet in klaffender Fäule.
Und weiß und rund wie das Ei der Eule
Glänzt abends der Mond im dünnen Geäst.
Oder:
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?
Oder das unnachahmliche:
Noch webt die Spinne an der Wand
dem Licht die leise Fessel.
Trotz dieses großen Reichtums an Details kommt es aber bei Huchel nie zu den botanischen Wuchererscheinungen, an denen manche Gedichte Lehmanns, aber auch Langgässers, zu ersticken drohen. Huchels Gedichte wahren die Proportion; hier bestimmt immer das Ganze die Teile.
Und auch jener anderen Eigentümlichkeit vieler sogenannter Naturlyriker, daß nämlich die spezifisch menschliche Perspektive sich verflüchtigt, daß, wie Lehmann es einmal ausdrückt, „die Grenzen zwischen Künstler und Naturforscher fast verschwinden“ – auch dieser Neigung begegnet man bei Huchel nicht. An Stelle von rein deskriptiver Objektivität ist es vor allem der Blickwinkel des Kindes, den Huchel in unvergeßlichen Gedichten beschwört. Man muß diese Kindheitsgedichte, also etwa das fast schon berühmte „Die Magd“ oder „Herkunft“, „Der Knabenteich“, „Eine Herbstnacht“, in all ihrer sinnlichen Dichte und Prallheit neben die unendlich verfeinerten und fragilen Rilkes halten, um zu sehen, wie verschieden selbst in ihrer Art vollendete Kindheitsgedichte sein können. Ein besonders knappes Beispiel wäre etwa das folgende:
DAMALS
Damals ging noch am Abend der Wind
Mit starken Schultern rüttelnd ums Haus.
Das Laub der Linde sprach mit dem Kind,
Das Gras sandte seine Seele aus.
Sterne haben den Sommer bewacht
Am Rand der Hügel, wo ich gewohnt:
Mein war die katzenäugige Nacht,
Die Grille, die unter der Schwelle schrie,
Mein war im Ginster die heilige Schlange
Mit ihren Schläfen aus milchigem Mond.
Im Hoftor manchmal das Dunkel heulte,
Der Hund schlug an, ich lauschte lange
Den Stimmen im Sturm und lehnte am Knie
Der schweigsam hockenden Klettenmarie,
Die in der Küche Wolle knäulte.
Und wenn ihr grauer schläfernder Blick mich traf,
Durchwehte die Mauer des Hauses der Schlaf.
„Go in fear of abstraction“, ein weiteres Wort Pounds, das Huchels Lyrik auf den Sprachleib geschrieben scheint – dieser Imperativ scheint in den Kindheitsgedichten geradezu kategorisch befolgt. Huchel verfügt aber auch über mehr als die unter Lyrikern relativ häufige Fähigkeit produktiver Rückerinnerung: in seinen besten Gedichten entsteht der Eindruck, als hätte jeder seiner fünf Sinne sein eigenes, unfehlbares Gedächtnis.
Karl Krolow formuliert die bereits erwähnte Gefahr der Landschaftslyrik dahingehend, daß das Naturgedicht „sich des Einzelnen durch das Aufsuchen von Einzelheit“ entledige. Auch das trifft auf Huchel nicht zu. Vor allem der frühe Band ist reich an merkwürdigen menschlichen Gestalten: Kesselflicker und Ziegelstreicher, Hirten und Schnitter, Bettler und Spinnerinnen und vor allem, immer wiederkehrend, Knechte und Mägde. Huchels Behauptung, er habe „eine bewußt übersehene unterdrückte Klasse im Gedicht sichtbar machen wollen“, klingt wohl etwas zu sehr nach post festum, um ein überzeugendes Programm für seine Lyrik abzugeben; an die Echtheit und Wärme von Huchels Anteilnahme am Los dieser Enterbten oder nie Beerbten rühren solche Zweifel aber nicht. Huchel hat diese Übersehenen nicht übersehen, er hat ihnen aufs Maul geschaut, und mehr noch, auf die Hände. Huchels Hirtenstrophen und Weihnachtslieder verlieren darüber, bei aller Schlichtheit, doch ganz die gewohnte idyllisch-pastorale Behaglichkeit:
Daß diese Welt nun besser wird,
so sprach der Mann der Frau,
für Zimmermann und Knecht und Hirt,
das wisse er genau
– mit dem bezeichnenden Gegenvers:
Ungläubig hörten wirs – doch gern.
Oder:
O Jesu, was bist du lange ausgewesen,
O Jesu Christ!
Die sich den Pfennig im Schnee auflesen,
sie wissen nicht mehr, wo du bist.
Oder endlich, aus dem frühen Pariser Gedicht „Cimetière“:
Weißhaarige Alte, die an der Ecke
wie eine Straßenheilige stand,
über den Schultern die löchrige Decke,
bettelnd gekrümmt die gichtige Hand,
mußt du auch hier ein Obdach suchen?
Teuer sind Grabstein, Gitter und Grund.
Und die Toten würden noch fluchen,
füllte nicht Erde den zahnlosen Mund.
Huchels soziales Gewissen, seine Parteinahme für die Zukurzgekommenen, ist frei von Ideologie, sie ist spontan, und sie kann ihm ein ebenso naiver Ansporn sein wie für Huchels Lenz in dem frühen Gedicht gleichen Namens:
Lenz, du mußt es niederschreiben,
was sich in der Kehle staut:
Wie sie’s auf der Erde treiben
mit der Rute, mit der Pflicht.
Asche in dem Feuer bleiben
war dein Amt, dein Auftrag nicht.
So geht es bei Huchel auch fast nie um das städtische Proletariat – eher schon um die ausländischen Saisonarbeiter auf den märkischen Höfen:
Acker um Acker mähte ich,
kein Halm war mein eigen.
Oder:
Hier ruhn, die für das Gut einst mähten,
die sich mit Weib und Kind geplagt,
landlose Schnitter und Kossäten.
Im öden Schatten hockt die Magd.
Allerdings weiß man von Huchel, daß er die Bodenreform der Zone aus der ersten Nachkriegszeit – eine Reform also, die das Land zunächst auf die verteilte, die es bearbeiteten – zum Gegenstand einer zyklischen Dichtung mit dem Titel „Das Gesetz“ machen wollte. Die Pläne dafür gehen weit zurück; schon eine frühe Zeile wie
Die Erde aufgeteilt gerecht,
wir hättens gern gesehn
hätte dem Ganzen als Motto dienen können. Teile des Zyklus sind bekannt; das Ganze wird dagegen unvollendet bleiben: es ist, wie Huchel selbst nicht ohne Bitterkeit sagt, von den ostzonalen Rückenteignungen und Zwangskollektivierungen der letzten Jahre geschichtlich überholt worden. Mit Recht hat man in Huchels Ablehnung der (ökonomisch durchaus verfechtbaren) Zwangskollektivierungen einen „konservativen Zug“ gesehen – nur sollte dabei nicht übersehen werden, daß es sich um einen Konservatismus ganz besonderer Art handelt, nämlich einen, dessen zu konservierender Status quo ein gutes Stück links von den meisten liberalen Positionen liegt. Gewiß ist Huchel mit dieser bemerkenswerten Spannweite von gegensätzlichen sozio-politischen Neigungen keineswegs allein, besonders nicht unter Lyrikern. Ein überraschender Parallelfall wäre etwa der wohl bedeutendste amerikanische Lyriker der Gegenwart, Robert Lowell, der sich vor einiger Zeit in einem Interview in der New York Times rundheraus dafür aussprach, ein Gedicht müsse vor allem die Widersprüche seines Autors mit einschließen:
One side of me is a conventional liberal, concerned with causes, agitated about peace, and justice, and equality, as so many people are. My other side is deeply conservative, wanting to get at the roots of things, wanting to slow down the whole modern process of mechanization and dehumanization, knowing that liberalism can be a form of death too.
Bei aller Verschiedenheit dürfte sich Huchel in einer solchen Skizze doch wiedererkennen – und nur diese tiefe Widersprüchlichkeit erklärt auch das Paradox, daß ein erzkonservativer Kritiker wie Hans Egon Holthusen vom „erzkonservativen Muster des Weltverstehens“ jenes Dichters sprechen konnte, der vor zwanzig Jahren bewußt und in freier Entscheidung den marxistischen Teil Deutschlands wählte.
Eine weitere bedeutende Ausweitung der Thematik dieses Werks stellen Huchels Kriegsgedichte dar, darunter der apokalyptische „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“. Auch hier ist Landschaft – aber es ist die geschundene und aufgerissene, die zerbombte und verheerte Landschaft des totalen Krieges, zerfurcht von Panzerketten, übersät mit stinkendem Aas. Diese Landschaft dient als Katalysator des Grauens:
Weißbrüstige Schwalbe,
dein Schnabel ritzt
das grau sich kräuselnde Wasser
an Schilf und Toten vorbei
im gleitenden Flug.
Ich hörte den windschnellen Schrei
und sah dich aus lehmigem Loch,
hinter klagendem Draht, entwurzelten Weiden,
wo es verwest und brandig roch.
Zwischen den beiden
Sicheln des Mondes wurde ich alt
wie der blutgetränkte Fluß voll treibender Leichen,
wie der aschig trauernde Wald.
Die alte Frage Brechts, das Gespräch über Bäume betreffend, welches zum Verbrechen wird, „weil es ein Schweigen einschließt über so viele Untaten“ – sie wird von Huchel neu gestellt:
Zarteste Kraft des Halms,
der die Erde durchstößt,
tauiger Ölbaum, Wasser des Bachs,
darf ich euch preisen,
eh nicht der Mensch den Menschen erlöst?
Und sie wird beantwortet durch Huchels Kriegsgedichte. Huchels erster Gedichtband endete noch mit einem Hoffnungsschimmer inmitten des Grauens über die Zerstörungen: dem ausgebrannt Heimgekehrten begegnet
(…) eine Frau aus wendischem Wald.
Suchend das Vieh, das dürre,
das sich im Dickicht verlor,
ging sie den rissigen Pfad.
Sah sie schon Schwalbe und Saat?
Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug.
Da war es die Mutter der Frühe,
unter dem alten Himmel
die Mutter der Völker.
Sie ging durch Nebel und Wind.
Pflügend den steinigen Acker,
trieb sie das schwarzgefleckte
sichelhörnige Rind.
Am Schluß des zweiten Bandes dagegen stehen, mit der Aussicht auf den nächsten Krieg, Verse einer wahrhaft alttestamentarischen Verdüsterung:
Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.
III
Von Hofmannsthal stammt das Wort, in der Dichtung sei der eigene Ton das, worauf es allein ankomme. Diesen eigenen Ton hat Huchel früh gefunden und nie wieder verloren. Nicht, als ob er sich nicht entwickelt hätte. Aber diese Entwicklung ist frei von Sprüngen und Überraschungen; sie ist auch frei von Brüchen und Enttäuschungen. Vergleicht man die beiden Gedichtbände Huchels, so finden sich bedeutende Entfaltungen, Umschichtungen, Gewichtsverlagerungen. Wenn jedoch ein alter Förderer Huchels, der Kritiker Willy Haas, das Hauptmerkmal der späten Gedichte in einer „tiefen und wahren Vergeistigung“ sieht und sich von ihnen ausgerechnet an den späten Hölderlin erinnern läßt, so scheint uns dies ganz dazu angetan, den Liebhaber irrezuführen und den Kenner zu verstimmen. Huchels Werk kennt keine philosophischen Ambitionen oder Prätentionen; es hat mit der Tradition des Dichter-Sehers nichts gemein. Huchel ist zwar nicht – wie uns ein anderer Kritiker glauben machen will – ein „treuherziger“ Dichter (dagegen zeugt seine hohe editorische Intelligenz), aber doch ein im besten Sinn naiver und vor allem ein Dichter mehr der Sinne als des Geistes. (Kaum weniger abwegig scheint, uns auch Werner Wilks Versuch, Huchel mit Eichendorff in Verbindung zu bringen.) Richtig ist an der Behauptung von Willy Haas, daß die späten Verse Huchels kühler, trockener und spröder wirken, daß sie weniger welthaltig und zugleich weniger klangvoll sind, daß eine Art Hypertrophie des Gesichtssinns begleitet ist von einer relativen Atrophie der anderen Sinne. Während der frühe Band noch idyllische Zustände kennt, ist der späte ganz auf einen elegischen Generalbaß abgestimmt, der sich bis zum abgründigen Pessimismus verdichten kann. Leitwörter dieser späten Gedichte, die chiffrenartig immer wieder auftauchen, sind „Schatten“ und „Tote“, „Herbst“ und „Winter“, „Starre“, „Stille“ und „Nebel“, „Felsen“ und „Schnee“. Rätseln und Trauern, Klage und Anklage treten an die Stelle von Staunen, Bewundern und Lob. Dem entsprechen andere Wandlungen. Der frühe Band enthält kaum unstrophische Gebilde, der späte kaum regelmäßig strophisch gegliederte: die Metapher allein bestimmt den Vers, und sie tut es auf Kosten von Metrum, Syntax und – zuweilen – Nachvollziehbarkeit. Freie Rhythmen herrschen vor, kristallisieren sich aber bemerkenswert oft zum elegischen Grundmotiv des adonischen Verses. Das rhythmische Bild von Gedichten wie „Le Pouldu“ oder „Winterpsalm“ ist – darin Trakls „Grodek“ verwandt – ganz von diesem Vers bestimmt: „Hängt sich ein Schreien“, „Einfalt des Landes“, „Feuer der Distel“, „Rücken der Klippe“, „Zottige Pferde“, „über der Dünung“, „perlende Fäden“ sind nur einige Beispiele aus dem ersten; die folgenden adonischen Verse stammen alle aus dem zweitgenannten Gedicht: „Kälte des Himmels“, „Stieß sich am Trugbild“, „Alles Verscharrte“, „soll ich es heben“, „zeigen dem Richter?“, „Kehle des Schilfrohrs“ und so weiter. Die Verwendung des Reims sinkt von fast 100 Prozent in den frühen Gedichten auf weniger als 25 Prozent in den späten. Und während die Dichte des metaphorischen Sprechens in Huchels Werk ständig steigt, nehmen umgekehrt die sprachlich (durch Wörter wie „als ob“, „wie“ etc.) expliziten Vergleiche dauernd ab. Der Gebrauch des Wortes „Ich“ und seiner Perspektive findet sich in der Hälfte der frühen Gedichte, aber in weniger als einem Drittel der späten. In den letzten Gedichten mehrt sich dagegen die Verwendung der uneigentlichen Du-Form, die man aus den Spätgedichten Benns kennt: ein gespaltenes Ich hält einsame Zwiesprache mit sich selbst. Deutlich, nämlich auf weniger als die Hälfte, geht ferner die Zahl der Neuprägungen zurück – eine stilistische Qualität, denen die frühen Verse viel von ihrer Kraft und Frische verdanken. Wörter von einer Prägekraft wie „mondhörnig“, „rauhreifübereist“, „nebelsaugender Strauch“, „zeisiggrüne Vogellast“, „distelsausende Nacht“, oder (in einem einzigen Gedicht, und durch die Wiederholung des daktylischen Versfußes noch strukturell gestützt) „Schattenwind“, „Schwalbenjahr“, „Nachtgeläut“, „Küchenrauch“ und „Krähenwald“ – solche Wortprägungen finden sich im Spätband nur noch vereinzelt. In dem Maße, in dem sie abnehmen, nimmt aber eine verwandte Erscheinung zu – die für die zeitgenössische Lyrik so bezeichnende Genitivmetapher. Hans Egon Holthusen hat im überhandnehmen solcher Genitivverbindungen („Kleingeld aus der surrealistischen Ladenkasse“) ein Zugeständnis Huchels an modische Zeitströmungen gesehen. Abfällige Bemerkungen dieser Art sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Genitivmetapher, mit ihrer kühnen Verbindung weit auseinanderliegender Bereiche, eben tatsächlich so etwas wie ein Miniaturmodell aller schöpferischen Tätigkeit darstellt und daß ihre Faszinationskraft deshalb keineswegs äußerlich, sondern sehr wohl begründet ist. Zudem hätte ein Blick auf Huchels frühen Band den Kritiker belehren können, daß die Verwendung der Genitivmetapher bei Huchel bis in die zwanziger Jahre zurückreicht und ihrem In-Mode-Kommen deshalb nicht folgt, sondern durchaus vorausgeht: „Moder des Himmels“, „Hürde des Nebels“, „des Todes Säbelkorb“, „des Windes Webstuhl“, „der Trauer Hunde“, „Schutt der Nacht“, „Lauch der Armut“, „Rost des Sommers“ sind nur einige Beispiele solcher Verwendung im frühen Werk Huchels. Ferner ließe sich zeigen, daß andere Lyriker (etwa Celan, Nelly Sachs, auch Goll) in ihrer Vorliebe für die Genitivmetapher Huchel um nichts nachstehen und vor allem, daß die wirklichen Funde die bloß manieristische Routine bei Huchel weit überwiegen, Fügungen wie „Fuß der Frühe“, „Schultertuch der Nacht“, „Faden stürzender Jahre“, „Speicher der Stille“, „Steinschlag roher Worte“ oder „Maul der Verwesung“ scheinen uns durch Holthusens „Kleingeld aus der surrealistischen Ladenkasse“ nicht abgetan. Und schließlich sollte es offensichtlich sein, daß isolierte Metaphern überhaupt nicht kritisch „widerlegt“ werden können, weil solche Strukturorgane ihre wahren Kräfte nicht im Zustand der Amputation, also unter Lokalanästhesie, entfalten, sondern nur dort, wo sie innerhalb einer geprägten Gestalt zu wirken vermögen.
Mehr als einmal taucht in Auseinandersetzungen mit Huchels später Lyrik der Begriff des Surrealismus auf. Die möglicherweise engen Beziehungen zwischen Naturlyrik und Surrealismus sind bekannt – wie fließend die Grenzen hier verlaufen können, zeigt besonders eindringlich das Werk Karl Krolows. Surrealistische Anklänge auch bei Huchel – gewiß. Der programmatische Surrealismus à la Breton enthält aber auch wichtige Aspekte – der poetologisch etwas fatale Begriff des Unbewußten, die automatische Schreibweise etc. –, von denen sich bei Huchel keine Spur findet. Zur Charakterisierung von Huchels Spätwerk wäre man deshalb eher versucht, den Begriff des „Imagismus“ auch für die deutsche Kritik nutzbar zu machen. Mit diesem Begriff könnte, in Vereinfachung Poundscher Thesen, die Tendenz bezeichnet werden, einzelnen Bildern immer größeres Gewicht und immer größere Freiheit zu geben, bis solche Bilder schließlich zum einzig angestrebten Selbstzweck werden: Die Selbstherrlichkeit der Metapher geht zum Teil auf Kosten traditioneller Syntax, die bis auf Blöcke rein nominaler Nennungen abgebaut werden kann. Auch gefährdet solche Freiheit nicht selten den Gesamtnexus. Dieser kann so sehr geschwächt werden, daß der Eindruck überaus scharf gesehener, aber voneinander völlig unabhängiger Einzelbilder entsteht. Ein Beispiel dafür wäre etwa das Gedicht „Hinter den weißen Netzen des Mittags“, das es schwerhaben dürfte, sich gegen den Vorwurf der Privatheit zu verteidigen. In Huchels späten Gedichten ist das Metaphernarsenal durch biblische, mythische, historische und persönliche Bezüge noch bedeutend erweitert. Die Landschaft, immer noch das Herzstück von Huchels Metaphernwelt, bezieht nun, außer der Mark, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer auch Frankreich, Italien, Polen, Bulgarien, Rumänien, ja sogar Vorderasien mit ein; sie kann aber auch, statt der eigenen Anschauung, mythologischen Quellen entstammen oder diese Elemente verbinden. Und das ästhetische Schwergewicht in Huchels Spätwerk, seine Kraft und seine Eigenständigkeit, ruhen ganz in der Kühnheit und Treffsicherheit dieser Metaphern – von der „nachmetaphorischen Schreibweise, die ein Lyriker wie Heißenbüttel für das Zeitgemäße hält, hat diese Lyrik nichts. Was hingegen Krolow von sich sagt – „in einem gewissen Sinn ,interessiert‘ mich am Gedicht die Metapher am meisten“ –, das darf wohl auch für Huchel gelten, zumal für seine späteren Gedichte. Damit schließt sich aber ein Kreis bis zurück zu Hofmannsthal. Denn auch für ihn war, wie für Huchel, der uneigentliche, der bildhafte Ausdruck „Keim und Wesen aller Poesie: jede Dichtung ist durch und durch ein Gebilde aus uneigentlichen Ausdrücken“.
Während Huchels später Gedichtband alles Persönliche mehr und mehr ausklammert oder doch sublimiert, beweisen in jüngster Zeit entstandene Verse des Dichters, daß dieselbe imagistische Grundtechnik auch durchaus persönliche Themen entwickeln kann:
EXIL
Am Abend nahen die Freunde,
Die Schatten der Hügel.
Sie treten langsam über die Schwelle,
Verdunkeln das Salz,
Verdunkeln das Brot
Und führen Gespräche mit meinem Schweigen.
Draußen im Ahorn
Regt sich der Wind:
Meine Schwester, das Regenwasser
In kalkiger Mulde,
Gefangen
Blickt sie den Wolken nach.
Geh mit dem Wind,
Sagen die Schatten.
Der Sommer legt dir
Die eiserne Sichel aufs Herz.
Geh fort, bevor im Ahornblatt
Das Stigma des Herbstes brennt.
Sei getreu, sagt der Stein.
Die dämmernde Frühe
Hebt an, wo Licht und Laub
Ineinander wohnen
Und das Gesicht
In einer Flamme vergeht.
Aber auch im Angesicht eines solchen zugleich bedeutenden und mühelos nachvollziehbaren Gedichts läßt sich nicht, mit Zack, behaupten, sein Autor habe „den Weg zum Realismus gefunden“. Huchels Weg scheint uns in genau umgekehrter Richtung zu führen. Und so muß also letzten Endes zugegeben werden, daß Huchel im Sinne ostzonaler Literaturpolitik sozusagen mit Recht in Ungnade gefallen ist und mit Recht gemaßregelt wurde, daß vom Band Chausseen Chausseen mit Recht keine Auflage in der Zone erschienen ist. Denn mit „sozialistischem Realismus“ haben Huchels späte Gedichte tatsächlich nichts gemein. Selbst von einem so großzügigen Essay wie Brechts „Über Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“ (der sich ausdrücklich dagegen wendet, „der realistischen Schreibweise vom Formalen her Grenzen zu setzen“) sollte man nicht erwarten, daß er Huchels Verse willkommen hieße. Denn auf Grund von ästhetischen Kriterien, die sich, in Brechts Worten, „von den Bedürfnissen unseres Kampfes“ ableiten, sind Huchels späte Verse ein für allemal nicht zu rechtfertigen. Ob sich allerdings diese Kriterien ihrerseits ästhetisch rechtfertigen lassen (und die damit verbundene Methode der Stillegung politisch), muß ebenfalls gefragt und wird ebenfalls verneint werden. Der Ton verschiedener westöstlicher Schriftstellerkongresse der letzten Jahre legt zudem die Annahme nahe, daß die Stunde für den sozialistischen Realismus als allein seligmachendes Dogma auch in den Oststaaten geschlagen haben dürfte.
Ingo Seidler, Neue Deutsche Hefte, Heft 117, 1968
Auf der zweiten „Bitterfelder Konferenz“ im April dieses Jahres sagte Walter Ulbricht:
Die Schriftsteller und Künstler mögen sich stets ihrer nationalen Verantwortung bei der Entwicklung unseres Staates bewußt sein. Es ist die wichtigste Aufgabe des Künstlers, Menschen zu überzeugen, sie für den Sieg des Sozialismus, für die Freundschaft der Völker, für den Frieden, zum Kampf gegen alles Reaktionäre zu begeistern.
Entpathetisiert heißt das: Die Kunst macht Politik, treibt Agitation, wenn auch mit anderen Mitteln; sie steht im Dienst der Gesellschaft, sie beteiligt sich aktiv am „Aufbau des Sozialismus“. Das Wochenend-Feuilleton der SED-Zeitung Neues Deutschland erscheint unter dem programmatischen Titel „Die gebildete Nation“; und die Parole „Froh und kulturvoll leben“ ist ungeniert im Munde vieler DDR-Funktionäre. Gewiß: Kunst und Literatur sind ohne Bezug zu Politik und Gesellschaft schwerlich denkbar. In Zeiten der Revolution bildeten Dichter, Maler, Bildhauer, Intellektuelle ihre Avantgarde; das gilt für Blok, Jessenin, Majakowski wie für Erich Mühsam und Ernst Toller. Möglicherweise hängt das mit dem Utopischen in Kunst und Revolution zusammen, mit dem, was Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung nennt. Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Knechtschaft, revolutionäre Aktion gegen die Zwingburgen der Gewalt – an solchem Tun wird Kunst immer ihren Anteil haben. Hat aber das Neue sich etabliert, zur politischen Norm konsolidiert, kommen für die Sänger des Aufbruchs härtere Tage. Schulbeispiel: die kulturelle Entwicklung in der UdSSR während der dreißiger Jahre. Wie aber, wenn ein Verwaltungsakt die Revolution ersetzt, wenn – wie in der DDR – Besatzungsdekrete gesellschaftliche Veränderungen beschließen, die von sich aus zu realisieren nie in der Macht der dortigen „Arbeiterklasse“ gelegen hätte? Dann muß die ideologische Begründung nachgeholt, dann müssen alle Federn in Tätigkeit gesetzt werden, um revolutionäres Bewußtsein zu imaginieren; dann werden Kunst und Literatur auf die Straße befohlen zur Demonstration für nicht Erkämpftes sondern Oktroyiertes. Mit anderen Worten: weil in der DDR Revolution nicht stattfand, wurde an deren Stelle ein Apparat revolutionärer Gesten aufgebaut und bis auf den heutigen Tag tabuisiert. Im Bereich der Kunst und der Literatur sind es die des „sozialistischen Realismus“.
Zugegeben: die Anfänge des „sozialistischen Realismus“ in der Literatur sind durchaus achtenswert; sie knüpfen an die russische Erzählertradition an; am Beginn stehen Gorki und Scholochow. Indessen führte der Stalinismus zur Simplifizierung und Dogmatisierung – außerdem blieb die Literatur bei den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts nicht stehen –, so daß „sozialistischer Realismus“ für kommunistische Schriftsteller von Rang heute kein verbindliches Rezept mehr ist. Darüber hat Louis Aragon in seiner vor zwei Jahren gehaltenen Prager Rede keinen Zweifel gelassen. Eindeutiger noch als auf dem Gebiet der Epik zeigen sich die Grenzen dieses proletarischen „Sakral-Stils“ in der Lyrik. Weder die Gedichte eines Brecht, Eluard, Neruda, Alberti noch die eines Attila József, Hikmet oder Jiri Wolker lassen sich an der Elle des „sozialistischen Realismus“ messen. Oder, um mit Brecht zu sprechen: „Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.“ „Die Sprechweise (…) eines wichtigen Menschen“ aber läßt sich nicht gängeln, sie gehorcht ihren eigenen Gesetzen auch dann, wenn diese im Widerspruch stehen zu denen des jeweiligen politischen establishment und der in ihm herrschenden Ideologie. – Dies als Vorbemerkung zu dem in der DDR lebenden Schriftsteller Peter Huchel und seinem kürzlich in der Bundesrepublik erschienenen Gedichtband Chausseen Chausseen.
Peter Huchel (geboren am 3. April 1903), mit Günter Eich der bedeutendste unter den deutschen Lyrikern der älteren Generation, ist seit Ende 1962 ein isolierter Mann. Damals legte er die Chefredaktion der von der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form nieder – keineswegs freiwillig, sondern unter organisiertem Druck. Seinen Abgang gestaltete er zur Demonstration. Taktisch unklug und doch als Reaktion imponierend, ließ Huchel das letzte von ihm redigierte Heft der Zeitschrift mit Brechts Rede „Über die Widerstandskraft der Vernunft“ beginnen, mit Sätzen wie folgenden:
Angesichts der überaus strengen Maßnahmen, die in den faschistischen Staaten gegenwärtig gegen die Vernunft ergriffen werden, dieser ebenso methodischen wie gewalttätigen Maßnahmen, ist es erlaubt, zu fragen, ob die menschliche Vernunft diesem gewaltigen Ansturm überhaupt wird widerstehen können. Mit so allgemein gehaltenen optimistischen Beteuerungen wie „Am Ende siegt immer die Vernunft“ oder „Der Geist entfaltet sich nie freier, als wenn ihm Gewalt angetan wird“, ist hier natürlich nichts getan (…)
Schließlich aber, um das Maß individueller Obstruktion voll zu machen, nahm Peter Huchel den West-Berliner Kunstpreis an. Die Folge ist nun, daß selbst liberalere Geister unter den DDR-Funktionären bei Nennung seines Namens fanatisch sich verhärten. (Huchels politische Schuld besteht darin, daß er, von 1948 an Chefredakteur von Sinn und Form, diese Zeitschrift zur wichtigsten literarischen Revue in Deutschland machte!)
Dennoch: Huchel ist kein Widerstandskämpfer, kein Mann der „inneren Emigration“ oder gar ein dezidierter Feind des Sozialismus. Weder das eine noch das andere wäre ihm seiner Natur und seiner Herkunft nach möglich. Er begann in den zwanziger Jahren zu schreiben und zu publizieren. Wie er es damals mit der Politik – genauer gesagt mit dem Marxismus – hielt, darüber gibt sein „Lebenslauf“ (abgedruckt 1931 in Willy Haas’ Literarischer Welt) recht deutlich Aufschluß. Um weiteren Verleumdungen von hüben und drüben vorzubeugen, sei hier das Nachwort Huchels zu dieser autobiographischen Skizze zitiert:
(…) er hat sich nicht an dem Start nach Unterschlupf beteiligt. Seine Altersgenossen sitzen im Parteibüro, und manchmal geben sie sogar zu, daß es aus irgendeiner Ecke her nicht gut riecht. Immerhin, sie haben ihr Dach über dem Kopf. Aber da ihm selbst die marxistische Würde nicht zu Gesicht steht, wird er sich unter aussichtslosem Himmel weiterhin einregnen lassen. Sie winken aus der Arche der Partei, und er versteht ihren Zuruf. Der lautet: „Wir können dir anhand des Unterbaus nachweisen, daß du absacken wirst, ohne eine Lücke zu hinterlassen!“ Aber dagegen hat er nicht viel einzuwenden, nichts zu erwidern. Sie müssen es wissen, denn sie haben die Wissenschaft. Doch unterdessen schlägt sein Herz privat weiter. Und er lebt ohne Entschuldigungen!
Huchel sympathisierte mit dem Marxismus, aber er trat der Partei nicht bei; sein Weg als Einzelgänger liegt hier schon vorgezeichnet.
Huchel wurde kein „bürgerlicher“ Schriftsteller. Dort wo er aufwuchs, in der Mark, gab es kein Bürgertum, dafür aber kleine Bauern, Taglöhner, Knechte, Mägde, hart arbeitendes, geduldiges Volk, dessen Los ihn betraf und an dessen Leben er teilhatte. Später schreibt er über dieses Volk und seine Sprache im Hinblick auf die Dichtung:
Es ist das Volk mit seiner Sprache: Stake, Stoppelsturz, Hungerharke, Klaubholz, Gröps, drämmern (…) Die Dichtung hat sich, wenn sie in Gefahr geriet, blaß und künstlich zu werden, immer wieder aus der Sprache des Volkes erneuert. Wenn sich der Dichter mit der Sprache der Arbeit, der Arbeitsvorgänge, das heißt mit der Sprache des Volkes beschäftigt, wenn er diese nicht poetisch verbrämt, wohl aber zu seiner eigenen Sprache werden läßt, so wird er im Gedicht ganz neue Wege gehen können.
Huchel studierte in Berlin, Freiburg und Wien; hielt sich längere Zeit in Frankreich und auf dem Balkan auf. Für ihn als Lyriker spielt aber die Begegnung mit anderer Landschaft, mit anderen Menschen eine untergeordnete Rolle. Die entscheidenden Eindrücke – vermutlich schon in der Kindheit empfangen – kommen aus der kargen, bescheidenen Provinz seiner Herkunft, sind im präzisen Wortsinne lokalgebunden – an das märkische Dorf Alt-Langerwisch, an Wald, Fluß, Binsenweg, an Magd und Knecht, Ziegelstreicher, Korbflechter und Holzsammler. Erstaunlich, daß Huchel, dessen poetische Anfänge in die Spätzeit des Expressionismus fallen, davon fast unberührt bleibt, daß er auf seine Umwelt realistisch reagiert – also weder mit sozialanklägerischem Pathos noch mit den magischen Attitüden eines Natur-Lyrikers und erst recht nicht mit den sprachlichen Falsifikaten eines Blut-und-Boden-Idyllikers. Zwar kommt es, da viele Gedichte Erinnerungsgedichte sind, zu Evokationen von Weitzurückliegendem, von Kindheitserlebnissen vor allem, zu Überhöhungen, gewollt archaisierenden Metaphern. Dennoch bleibt der konkrete Bezug zwischen Wort und Ding gewahrt. Dafür ist beispielhaft ein Gedicht Peter Huchels aus dem Jahre 1926:
DIE MAGD
Wenn laut die schwarzen Hähne krähn,
vom Dorf her Rauch und Klöppel wehn,
rauscht ins Geläut rehbraun der Wald,
ruft mich die Magd, die Vesper hallt.
Klaubholz hat sie im Wald geknackt,
die Kiepe mit Kienzapf gepackt.
Sie hockt mich auf und schürzt sich kurz,
schwankt barfuß durch den Stoppelsturz.
Im Acker knarrt die späte Fuhr.
Die Nacht pecht schwarz die Wagenspur.
Die Geiß, die zottig mit uns streift,
im Bärlapp voll die Zitze schleift.
Ein Nußblatt wegs die Magd zerreibt,
daß grün der Duft im Haar mir bleibt.
Riedgras saust grau, Beifuß und Kolk.
Im Dorf kruht müd das Hühnervolk.
Schon klinkt sie auf das dunkle Tor.
Wir tappen in die Kammer vor,
wo mir die Magd, eh sie sich labt,
das Brot brockt und den Apfel schabt.
Ich frier, nimm mich ins Schultertuch.
Warm schlaf ich da im Milchgeruch.
Die Magd ist mehr als Mutter noch.
Sie kocht mir Brei im Kachelloch.
Wenn sie mich kämmt, den Brei durchsiebt,
die Kruke heiß ins Bett mir schiebt,
schlägt laut mein Herz und ist bewohnt
ganz von der Magd im vollen Mond.
Sie wärmt mein Hemd, küßt mein Gesicht
und strickt weiß im Petroleumlicht.
Ihr Strickzeug klirrt und blitzt dabei,
sie murmelt leis Wahrsagerei.
Im Stroh die schwarzen Hähne krähn.
Im Tischkreis Salz und Brot verwehn.
Der Docht verraucht, die Uhr schlägt alt.
Und rehbraun rauscht im Schlaf der Wald.
Die Gefahr solcher Reminiszenz, ins Sentimentale zu geraten, wird hier durch die sachbezogene, mit Realität abgesättigte Sprache, durch die Dinglichkeit der Benennungen gebannt. Huchels Natur fehlt die Heiterkeit, das parkartige Inventar der amönen, klassischen Landschaft; sie ist melancholisch wie die Natur bei Lenau oder Trakl; sie trägt die Signatur ihres Dichters: Schwermut, Trauer, „beschädigtes Leben“. In den Selbsterkundungen dieses Autors tauchen Worte wie Trauer und Dunkel immer wieder auf. Der Titel jener oben zitierten autobiographischen Skizze aus dem Jahre 1931 heißt „Neunzehnhunderttraurig“, und in dem Gedicht „Die dritte Nacht April“ – eine Anspielung auf das Geburtsdatum 3. April 1903 – schreibt er:
Der Havel das Eis, den Kröten den Mund
öffnet April.
Der Himmel war vom Schnee noch wund,
ich kam auf die Welt, es regnete still
in der dritten Nacht April.
Die Milch der Mutter schmeckte gut.
Der Birkbusch wuchs, ich blieb nicht jung.
Die Nacht verdunkelte mein Blut,
der Augen braune Dämmerung.
Der Schatten meines Herzens steht
im kalten Schatten vom April,
dem feldernden, der Lerchen weht,
und in den Bäumen leben will
Mit Günter Eich, Elisabeth Langgässer, Martin Raschke und Eberhard Meckel gehörte Huchel anfangs der dreißiger Jahre zu jener Gruppe junger Naturlyriker, die in der Zeitschrift Die Kolonne ihr Forum hatte. Nach 1933 zog sich Peter Huchel von der Literatur zurück; außer einigen unpolitischen Hörspielen veröffentlichte er nichts. Gegen die Nazis verhielt er sich ablehnend, wie einige damals entstandene Gedichte bezeugen. Doch sind sie Ausdruck eines humanen, nicht eines dezidiert politischen Protestes. Erst 1948 erscheint im Ostberliner Aufbau Verlag von Huchel ein schmaler Band Gedichte, eine Auswahl aus der lyrischen Produktion von 1925 bis 1947. Gelegentlich druckt er Eigenes in der von ihm redigierten Zeitschrift Sinn und Form ab; darunter auch Teile einer größeren Dichtung, entstanden anläßlich der Bodenreform: „Das Gesetz“ (ein maßvoller Lobgesang auf die ersten sozialistischen Maßnahmen). Alles in allem publizierte Huchel auch nach dem Kriege mit großer Zurückhaltung; und obwohl 1949 eine westdeutsche Lizenzausgabe seines Gedichtbandes erscheint, nimmt ihn dort – bis auf einige Freunde und Literaturkenner – niemand zur Kenntnis. In Herders Lexikon der Weltliteratur von 1960 ist über ihn nur folgendes zu lesen:
Künstlerischer Direktor des Ostberliner Rundfunks und Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form, ist Huchel einer der maßgeblichen Kulturfunktionäre der DDR. Er gestaltete vor allem in stimmungsgetragenen Gedichten seine Kindheit und das Erlebnis der brandenburgischen Landschaft.
(1960 war Huchel längst nicht mehr beim Rundfunk; und ein „maßgeblicher Kulturfunktionär“ ist er nie gewesen!)
Erst als er nach dem Tode Bertolt Brechts und Johannes R. Bechers in Schwierigkeiten geriet und schließlich den Angriffen der kleinbürgerlichen Kunstbanausen erlag, wurde er Hätschelkind und Held der westdeutschen Presse. Schwer zu sagen, was ehrliche Anteilnahme, was politischer Opportunismus war. Ein Gutes jedoch hatte diese plötzliche Publizität; 1963, nach fünfzehn Jahren also, erschien Peter Huchels neuer Gedichtband Chausseen Chausseen – der in der DDR bisher nicht veröffentlicht wurde – in einem westdeutschen Verlag, bei S. Fischer in Frankfurt.
Inzwischen ist es um Huchel wieder still geworden – Passierscheine nach Wilhelmshorst werden an seine westlichen Freunde nicht mehr ausgestellt – die Verbannung ist nahezu perfekt. Und politisch hat der Fall Robert Havemann den seinen verdrängt. Geblieben ist jedoch dieser Band mit etwa fünfzig Gedichten; dieser schwerwiegende politische Rechenschaftsbericht.
Der Vergleich mit den 1948 erschienenen Versen bietet sich an. Unverändert ist das Thema Landschaft und Huchels Vorliebe für längere mehrstrophige Texte. Doch fällt auf, daß die neuen Gedichte einen unregelmäßigen Strophenbau haben, das heißt, daß die Anzahl der Zeilen mitunter von Strophe zu Strophe sich ändert, daß Huchel nur noch selten und unakzentuiert den Endreim benutzt, seine Sprache unsinnlicher, abstrakter und zugleich vergeistigter geworden ist. Ebensowenig läßt sich übersehen, daß diese Spiritualisierung auf Huchels Bild der Natur übergreift; die Dinge sind nicht mehr nur sie selbst, sie beginnen Chiffren-Charakter anzunehmen, werden Zeichen für anderes. Das erste, den Band einleitende Gedicht heißt – was kaum Zufall ist – „Das Zeichen“. Schon hier wird die Frage nach der Bedeutung gestellt:
Baumkahler Hügel,
Noch einmal flog
Am Abend die Wildentenkette
Durch wäßrige Herbstluft.
War es das Zeichen?
Mit falben Lanzen
Durchbohrte der See
Den ruhlosen Nebel.
Ich ging durchs Dorf
Und sah das Gewohnte.
Der Schäfer hielt den Widder
Gefesselt zwischen den Knien.
Er schnitt die Klaue,
Er teerte die Stoppelhinke.
Und Frauen zählten die Kannen,
Das Tagesgemelk.
Nichts war zu deuten.
Es stand im Herdbuch.
Nur die Toten,
Entrückt dem stündlichen Hall
Der Glocke, dem Wachsen des Epheus,
Sie sehen
Den eisigen Schatten der Erde
Gleiten über den Mond.
Sie wissen, dieses wird bleiben.
Nach allem, was atmet
In Luft und Wasser.
Wer schrieb
Die warnende Schrift,
Kaum zu entziffern?
Ich fand sie am Pfahl,
Dicht hinter dem See.
War es das Zeichen?
Erstarrt
Im Schweigen des Schnees,
Schlief blind
Das Kreuzotterndickicht.
Der Ton ist abweisender, spröder geworden, zwischen die Bilder schiebt sich – weit stärker als früher – Gedankliches. Das Gedicht weist eine Folge von Ansätzen und Brechungen auf: „Baumkahler Hügel“, „War es das Zeichen?“, „Ich ging durchs Dorf“, „Nur die Toten“, „Wer schrieb“, „Erstarrt“. – Verglichen mit dem vorhin zitierten Text „Die Magd“, dessen poetische Eingängigkeit durch Endreim, Alliteration, durch stark betonte rhythmische Struktur zustande kommt, fällt bei den neuen Versen auf, daß die Sprache begrifflicher, das Wortmaterial karger und unspielerischer als vordem verwendet wird, der Rhythmus härter und unregelmäßiger klingt. Damit sind einige generelle Merkmale der in dem Band Chausseen Chausseen gesammelten Gedichte Peter Huchels genannt. Man könnte, in Anlehnung an ein Wort von Brecht, sagen: diese Verse sind „schlechten Zeiten für Lyrik“ abgetrotzt, gegen enorme Widerstände von außen (und von innen) formuliert. Die Kälte der Einsamkeit, der Isolierung, die Gefahr des Verstummens – weil die Sprache der Trauer, der Melancholie eine sich positiv deutende Gesellschaftsordnung in Frage stellt – sind in sie eingegangen. Schon die Titel einiger Gedichte signalisieren diesen Sachverhalt: „Landschaft hinter Warschau“, „Elegie“, „Nebel“, „Eine Herbstnacht“, „Winterquartier“, „Soldatenfriedhof“, „Polybios“, „An taube Ohren der Geschlechter“, „Warschauer Gedenktafel“, „Winterpsalm“, „Traum im Tellereisen“, „Unter der Wurzel der Distel“, „Psalm“. Schlüsselworte dieser Lyrik sind: tot, wund, schutzlos, Schweigen, unauffindbar, Stille, regengrau, Trauer, Kälte, erstarrt, Angst, streng, trostlos, öde. Die Selbstaussage in den meisten Gedichten ist unüberhörbar. In „Winterpsalm“, Hans Mayer gewidmet, heißt es zum Beispiel:
Da ging ich bei träger Kälte des Himmels
Und ging hinab die Straße zum Fluß,
Sah ich die Mulde im Schnee,
Wo nachts der Wind
Mit flacher Schulter gelegen.
Seine gebrechliche Stimme,
In den erstarrten Ästen oben,
Stieß sich am Trugbild weißer Luft:
„Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.“
Sein Flüstern erlosch,
Von keiner Flamme genährt.
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht.
Ich stand auf der Brücke,
Allein vor der trägen Kälte des Himmels.
Atmet noch schwach,
Durch die Kehle des Schilfrohrs,
Der vereiste Fluß?
Mit dem Bild des in der winterlichen Kälte erstarrten Flusses – eine der Selbstinterpretation dienende Metapher – korrespondiert das Gedicht „Traum im Tellereisen“:
Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
Zerschlagen im Tellereisen.
Wind blättert
Ein Stück Rinde auf.
Eröffnet ist
Das Testament gestürzter Tannen,
Geschrieben
In regengrauer Geduld
Unauslöschlich
Ihr letztes Vermächtnis –
Das Schweigen.
Der Hagel meißelt
Die Grabschrift auf die schwarze Glätte
Der Wasserlache.
Dieses Gedicht, ebenso wie „Winterpsalm“, veröffentlichte Huchel zuerst in Sinn und Form, und zwar im letzten von ihm redigierten Heft. Die Absage an die vulgär-marxistische Forderung, daß Dichtung „positiv“ sein und einen klar erkennbaren gesellschaftlichen Auftrag haben müsse, ist evident. Zur trivialen „Aufbau“-Poesie bilden Huchels Verse eine derart extreme Gegenposition, daß von seiten dieses Dichters vermittelnder Kompromiß sich ausschließt. Dennoch wäre es falsch, sie lediglich als Ausdruck politischen Protestes zu sehen. Vielmehr: sie sind – durchaus folgerichtig – Resultate einer menschlichen und künstlerischen Entwicklung, die der politische Druck lediglich forciert und verschärft hat. Es ist die Stimme eines Dichters, die hier spricht; nicht die eines agitierenden „Klassenfeindes“. Freilich, es ist die Stimme eines an sich und den Verhältnissen leidenden Dichters. Es sind Gedichte der Klage, der Schwermut, der Resignation. Vom Schweigen ist die Rede als der äußersten Möglichkeit des Geistes, der Zeit sich zu verweigern. Die Bilder des Vegetativen, des Feuchten, Fließenden treten zurück zugunsten einer mineralisch erstarrten Welt. Wendungen wie: „Der Hagel meißelt die Grabschrift auf die schwarze Glätte“, „Es zittert das starre Geäst der Metalle“ oder „Ich ging durch den Steinschlag roher Worte“ kennzeichnen die Lage und den durch sie bewirkten Prozeß der Verhärtung. Die Mitteilungen werden spärlicher; poetische Evokationen gewähren dem Ich keine Sicherheit mehr. Dichter und Gedicht riegeln sich ab:
Unter der Wurzel der Distel
Wohnt nun die Sprache,
Nicht abgewandt,
Im steinigen Grund.
Ein Riegel fürs Feuer
War sie immer.
Rückzug auf sich selbst, in den innersten Kreis der eigenen Existenz bewirkt nicht nur Flucht, sondern auch Angriff. So ist unverkennbar, daß Huchels neue Gedichte gelegentlich einen zeitkritischen Ton anschlagen. Doch entsprechend der Ausweglosigkeit formuliert der Autor Kritik nicht als Polemik, sondern – weit schärfer – als eschatologisches Bild, als endzeitliche Vision:
Die öde wird Geschichte.
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand.
Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.
Und in dem Gedicht „Der Garten des Theophrast“ – seinem Sohn gewidmet (!) – schreibt Huchel:
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.
Widerspruch und Absage kommen zum Ausdruck durch die betont strenge Klassizität der Form; eine bewußt historisch orientierte Reminiszenz, das Bekenntnis zur humanisierenden Wirkung der Kultur, zur Tradition des Geistigen enthaltend und schließlich ergreifender Versuch ihrer Überlieferung.
Ob nach diesen Gedichten – Dokumenten einer nicht revozierbaren Entscheidung – die Stimme des Dichters Peter Huchel nunmehr schweigen wird, ist schwer vorauszusagen. Doch wie immer auch! Was die hier vorliegenden Verse bezeugen, spricht für sich selbst, spricht für einen Autor, der seine Wahl getroffen und mit unerhörter Konsequenz das Wort aus dem Jahre 1931 wahr gemacht hat: „Und er lebt ohne Entschuldigungen!“ – Botschaften der Trauer, der Schwermut, gewiß! aber doch auch des Mutes und – der Hoffnung, wie das Gedicht „In Memoriam Paul Eluard“ zu erkennen gibt:
Freiheit, mein Stern,
Nicht auf den Himmelsgrund gezeichnet,
über den Schmerzen der Welt
Noch unsichtbar
Ziehst du die Bahn
Am Wendekreis der Zeit.
Ich weiß, mein Stern,
Dein Licht ist unterwegs.
Franz Schonauer, Das Wort, Heft 11, 1968
I
Momente nur, nicht mehr – drei Mal bin ich Huchel leibhaftig begegnet –; vor allem aber ein Moment in Heidelberg im Jahr 1954 während eines jener von westdeutschen „Petitionskreisen“ organisierten (und, seid sicher, von der DDR finanzierten) „gesamtdeutschen Gespräche“, vorbereitend unter anderem eine „Deutsche Begegnung vom 5.–7. November 1954“ in Berlin, in Ostberlin. Als einer der Delegierten der DDR war Peter Huchel nach Heidelberg gekommen, der zumindest mir als großartiger Lyriker schon vertraut war (wem noch in der Gruppe?); und ich hielt mich gemeinsam mit Hermann Lenz an seiner Seite – Hannes Schwenger schwört bei allen Heiligen, dass es nicht Hermann Lenz gewesen sein kann –; Huchel erinnerte immer noch ein wenig an den in sich gekehrten „Wendenburschen“, als der er kurz nach dem Krieg in der Zeitschrift Ost und West von Günther Birkenfeld vorgestellt worden war:
Und wenn er barhaupt (…) über die märkischen Felder bei Potsdam schweift (…), mit leicht gesenktem Kopf einen sandigen, von hohen Birken gesäumten Flurweg entlanggeht, nein, eher schon entlangdöst, so kommt da aus der Vergangenheit ein Wendenbursche herauf.
Eine Rede bot Huchel in Heidelberg nicht, auch sonst hielt er wohl den Mund, außer im friedlichen, zivilen und wortarmen Gespräch mit seinen beiden Begleitern, da wir durch die Heidelberger Gassen schlenderten. Man konnte den Eindruck gewinnen, als wolle er sich unsichtbar machen, als würde er sich „zurücknehmen“ wollen: Zwei Jahre vor der Heidelberger Tagung hatte Huchel einige Sätze gesagt (geschrieben) – der „Aufbau“-Artikel war mir vor der Veranstaltung in die Hände gedrückt worden –, die er vermutlich schon jetzt bereute. Der Aufsatz war geprägt von einem nicht sonderlich erhabenen Anti-Amerikanismus, der die „Intellektuellen in der tödlichen Umarmung der amerikanischen Kulturpolitik“ treiben sah; es waren Bemerkungen, die die (unausgesprochene) Frage nahelegten, ob nicht an Melvin J. Laskys eigentlich ziemlich großartige Zeitschrift Der Monat gedacht war… Huchel weiter – und es war natürlich Westberlin ins Auge gefasst –: „Wir schreiben das Jahr 1952, und die ersten Vorboten der Barbarei sind schon lange wieder in die Mauern unserer Stadt eingezogen (…) Noch können wir sie zurückschlagen! Und wir werden sie zurückschlagen!“ (Der reinste „Panzerbär!“, um des Himmels willen!) In den Straßen am Neckar schien das alles abgetan und dahingeschwunden, man konnte kaum noch glauben, dass jene über-militanten Sätze von Peter Huchel geschrieben worden waren. Stattdessen (und vielleicht ist es ja eine kleine Demonstration gewesen) beharrte Huchel darauf, „ins Kino“ gehen zu wollen, und zwar mit einer mäkelnden Konsequenz, die an ein Kind erinnerte, das unbedingt ein Schokoladeneis gekauft bekommen will… „Ich will endlich einmal einen richtigen amerikanischen Detektivfilm sehen“, murrte Huchel; kein Zweifel, dass er sich nicht „aus Studiengründen“ diesem Vergnügen widmen wollte. Wir fanden alsbald ein Kino; der Film jedoch ist relativ grau und langweilig gewesen. Huchel, etwas einsilbig:
War nicht sehr großartig, wie?
II
Gleichfalls am Rand der Heidelberger Tagung erlebt: Ich überreiche dem Dichter einen der kulturpolitischen Leitartikel, wie ich sie in jenen Jahren für die in Düsseldorf (nicht in Schwerin) erscheinende Kulturbundzeitschrift Heute und Morgen allmonatlich im edelsten Stil verfasste, und will von dem verehrten Mann wissen, was er davon hält. Es muss da so etwas wie „Dadurch rücken wir der Wiedervereinigung ein gutes Stück näher“ gestanden haben; ich weiß nicht mehr, wodurch, ich erinnere mich nicht mehr an den Inhalt des Artikels. Aber das missmutige Urteil Peter Huchels habe ich heute noch im Ohr: „Hören Sie ’mal!, dadurch – das ist ja das purste Feuerwehrdeutsch! Können Sie nicht auf solche Wörter verzichten?“ (Eine für meine spätere Prosa ungemein folgenreiche Antwort; insofern darf man auch diese Memoire zu den Stückchen rechnen, die ich gerne „Prologe“ nenne.) Seit diesem Moment von vor fast fünfzig Jahren stellt sich die Vokabel „dadurch“ in meinen Schriften nirgendwo mehr ein; soweit sie sich mir anbot, habe ich wie elektrisiert nach Äquivalenten gesucht, seither häufen sich vor allem in meinen Essays Formulierungen wie „solcherart“, „so“ oder „auf solche Weise“, auch sie nicht selten mit schlechtem Gewissen präsentiert. Wie tief mich Huchels schroffes (nein, keinesfalls freundliches) Verdikt getroffen hat, wird durch den Umstand unterstrichen, dass der eigentlich minimale Vorgang modifiziert auch in einem meiner verrückteren Prosastücke, in dem Band Ohne Nennung von Gründen (1985), durchgespielt wird, Jahre nach dem Tod Huchels, nämlich nach der Entdeckung eines fatalen „Dadurch“ in Huchels Sinn und Form, genauer: in einem unter Huchels Federführung in Sinn und Form abgedruckten Gedicht von Johannes R. Becher, „Das Altersgedicht“ überschrieben:
Von den Gedichten meiner Jugend
Unterscheidet sich
Das Altersgedicht
Dadurch
Daß es der Jugend gewidmet ist,
Ihrer Kraft, ihrem Leuchten,
Ihrem strebenden Bemühen
Um den Frieden,
Um das Neue.
(Kommentar beinahe überflüssig: Eine Unsäglichkeit sondergleichen, lieber Peter Huchel; und ich denke manchmal, dass es dieses „Gedicht“ gewesen ist, das Sie nachträglich besonders empfindlich gemacht hat für die Vokabel „dadurch“, vom „strebenden Bemühen“ mal zu schweigen.) In meiner phantastischen Story aus den frühen Achtzigern geschieht es übrigens, dass Johannes R. Becher selber im „Pressecafé“ der Nachkriegsjahre das Verslein meinem Schelmen-Helden Bubi Blazezak vorliest, um die Meinung des „Mannes aus dem Volke“ zu erfahren. Bubi reagiert mit dem Blablabla, wie man es häufig schon bei „Lesungen“ gehört hat;
Man müßte vielleicht häufiger Gedichte hören, und nicht nur hören, sondern vielleicht auch lesen! DADURCH, versucht er sich zu entschuldigen und betont das auch von Johannes R. Becher ausdrucksvoll hervorgehobene Wort aus dem Feuerwehrdeutsch, „dadurch, daß ich hauptsächlich Landschaftsbücher lese…“
Und siehe:
Johannes R. Becher steckt sein Gedicht geschockt wieder ein…
Wie auch ich in Heidelberg im Jahr 1954 meinen wunderbaren Leitartikel (im Stil Thomas Manns geschrieben) rasch weggesteckt habe und nie wieder hervorgeholt.
Adolf Endler, in: Text + Kritik: Peter Huchel – Heft 157, edition text + kritik, Januar 2003
Zu den wenigen Kostbarkeiten meiner Bibliothek gehört Peter Huchels Band Gedichte, erschienen 1948 im Aufbau Verlag GmbH, Berlin W 8, gedruckt von Eduard Stichnote in Potsdam. Ich erwarb das Buch 1961 in einer Karl-Marx-Städter Buchhandlung zum Preis von drei Mark und sechzig Pfennige, nachdem ich es zwischen anderen verstaubten Lyrikbänden in einem Winkel des Ladens entdeckt hatte. Das Buch war ladenneu, andere Käufer hatten es entweder übersehen, oder der Ruhm des Dichters war noch nicht bis in die Industriestadt am Rande des Erzgebirges gedrungen. Einige Jahre zuvor konnte ich bereits aus einem Nachlaß jene Neue lyrische Anthologie erwerben, die 1932 von Martin Raschke herausgegeben im Wolfgang Jess Verlag zu Dresden erschienen war und die neben Gedichten von Walter Bauer, Günter Eich, Theodor Kramer, Elisabeth Langgässer u.a. sechs Gedichte Huchels enthält. Neben diesen beiden Büchern klemmt in meinem Regal noch ein Aktenhefter mit der Aufschrift Chausseen Chausseen, enthaltend ein Typoskript, rasch angefertigte Abschrift des 1963 bei Suhrkamp erschienenen Bandes.
Die Mitteilung derartiger Fakten mag unwichtig erscheinen. Was sie belangvoll macht, ist auch nicht der Umstand, daß sie mit meiner Person in Verbindung stehen, sondern die Tatsache, daß Huchels Gedichte zwar bereits 1951 mit einem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet wurden, Texte von ihm jedoch so gut wie nicht erhältlich waren. Der Lyriker Peter Huchel war nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt; weit mehr Leser kannten ihn jedoch als Herausgeber der international geschätzten Zeitschrift Sinn und Form. Erst nach seinem Ausscheiden als Chefredakteur dieser Zeitschrift erregte er auch als Dichter in breiteren Kreisen die ihm gebührende Aufmerksamkeit in der DDR. Wie oft schuf ein Politikum, auf das ich hier nicht näher einzugehen brauche, die Basis, die auch diesem Dichter jenes Interesse verschaffte, das ihm zukam.
Was Huchels Gedichte für mich persönlich bedeuteten und bedeuten, läßt sich nicht in einem Satz ausdrücken. Seine Bildwelt, der märkischen Landschaft verpflichtet, zog mich an, vielleicht gerade deshalb, weil sie der des Raumes um Dresden nahezu entgegengesetzt war. Huchels Gedichte, in denen er nach 1945 Krieg und Nachkrieg Ausdruck verlieh, lockerten mir die Zunge. Als Epigone vermochte ich nun, wenn auch unzulänglich, einigem von dem Gestalt zu geben, was mich beim Anblick meiner zerstörten Heimatstadt beunruhigte. In unbewußter Selbstüberschätzung schickte ich 1956 einige meiner Gedichte an Sinn und Form. Ich erhielt das klein Manuskript alsbald mit einem Brief zurück, der mit Bedauern darauf verwies, daß meine Verse für eine Veröffentlichung „noch nicht reif genug“ wären, „wenn auch die Arbeiten „Auf Villon“ und „Picasso“ „zweifellos stark Talentproben“ seien. Der Brief schloß mit der Aufforderung: „Wir würden es begrüßen, wenn Sie uns zu unverbindlicher Einsicht einmal andere Gedichte übersenden wollten.“ unter der Formel „Mit freundlicher Begrüßung“ stand wie mit einer Rohrfeder geschrieben eine markante Unterschrift Peter Huchels.
Abgesehen davon, daß ich Huchel sofort beflissen neue Gedichte schickte, die allesamt in einer vereinseitigenden Brecht-Nachfolge standen und die von Huchel mit Recht mit keiner Antwort gewürdigt wurden, vergingen Jahre, ehe ich zu dem Dichter erneut Kontakt aufnahm. Ich hatte für den Mitteldeutschen Verlag in Halle die Herausgabe einer Anthologie deutscher Natur-, und Landschaftsgedichte aus vier Jahrhunderten „übernommen, die 1965 unter dem Titel Zwischen Wäldern und Flüssen erschien. Selbstverständlich war eine solche Sammlung ohne Gedichte Huchels undenkbar. Ich entschied mich für acht seiner Gedichte, darunter „Auffliegende Schwäne“, „Landschaft hinter Warschau“, Gedichte, die, wenn ich mich recht erinnere, Huchel in einem der wenigen Sinn-und-Form-Hefte veröffentlicht hatte, in ,denen er als Dichter in Erscheinung getreten ist. Daß auch die inzwischen bereits „klassisch“ gewordenen Gedichte „Havelnacht“ und „Oktoberlicht“ in dieser Auswahl nicht fehlten, versteht sich von selbst.
Ich bat Huchel um Zustimmung zum Abdruck seiner Gedichte. In einem heute leider nicht mehr auffindbaren Brief schrieb er mir, daß er zwar das angebotene Honorar dringend brauchen könnte, sich jedoch entschlossen habe, in der DDR nicht mehr zu publizieren. Eine Anthologie dieser Art ohne die Gedichte Huchels schien mir sinnlos. Ich entschloß mich, Huchel anzurufen und um einen Besuch bei ihm in Wilhelmshorst zu bitten. Noch heute ist mir, als vernähme ich seine märkisch gefärbte Stimme, eine Stimme, der es schwerfiel, mit Härte zu reagieren. Auf meine vermutlich eindringlich ausgesprochene Bitte um ein Gespräch antwortete Huchel schließlich:
Von mir aus kommen Sie her, aber die Zustimmung zum Abdruck meiner Gedichte kann ich Ihnen nicht geben.
Seltsame Duplizität, von der ich glaube, daß sie nicht nur der verklärenden Erinnerung oder gar einer Sinnestäuschung geschuldet ist: Der Tag, an dem ich mit einem Dienstwagen von Halle nach Wilhelmshorst fuhr, entsprach genau dem, den Ludvík Kundera in seinem Huchel gewidmeten Gedicht „Im Schneesturm“ Gestalt gegeben hat. Nachdem sich der Chauffeur mehrfach verfahren hatte, fanden wir Huchels im Schnee versinkendes Häuschen schließlich doch noch. In einem kleinen Zimmer zu ebener Erde, vollgestopft mit Büchern und Manuskripten, das Huchel als Arbeitszimmer diente Und in dem er Sinn und Form redigiert hatte, saß ich dem Mann gegenüber, dessen Züge neben einer milden Resignation auch die Entschlossenheit verrieten, seinen Widersachern Paroli zu bieten. Huchel blätterte, Zigarette um Zigarette rauchend, in dem Manuskript der Anthologie, mehrfach erwähnend, daß er bedaure, die Zustimmung zum Abdruck seiner Gedichte aus prinzipiellen Gründen nicht geben zu können. Das Thema wechselnd, kamen wir auf die damalige Situation der Lyrik in der DDR zu sprechen. Noch war die Reihe der zwischen 1935 und 1940 Geborenen nicht gelichtet. Huchel betrachtete die damalige, Situation, die, alles andere als konfliktlos war, für die jüngere Lyrik als fruchtbar. Er selbst, ausgeschaltet und quasi in der inneren Emigration lebend, sah in den Spannungen zwischen Lyrik und Öffentlichkeit offenbar ein fruchtbares Moment. Er betrachtete die Chancen der jüngeren Generation ohne Verbitterung und mit Anteilnahme und -interesse. Selbst Opfer einer engstirnigen Kulturpolitik, schien er doch noch daran zu glauben, daß die Stimmen der Jüngeren möglicherweise nicht derart zum Schweigen verurteilt werden könnten wie die seine. Daß er selbst noch einmal zu hohen Ehren kommen sollte – daran glaubte er wohl in diesen Tagen nicht. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß Peter Huchel, noch einmal im Manuskript der Anthologie blätternd, plötzlich mit leiser Stimme sagte:
Also drucken Sie meine Gedichte.
Als ich den kleinen, rauchgeschwängerten Raum verließ, begleitete mich Huchel zum Wagen, in dem der Fahrer ungeduldig wartete. Es dämmerte. In Huchels Gesicht stand Trauer. Sie galt nicht mir, aber eine Situation, die gleichnishaft war. Als ich aus dem Wagen zurückblickte, sah ich Peter Huchel im Wehen des Schnees, dem Auto nachblickend, im immer dichter werdenden Wirbel der Flocken versinkend.
Ich habe Peter Huchel nie wiedergesehen. Erst 1976, als ich zu einer Lesung nach Freiburg im Breisgau reisen konnte, ermöglichte mir der Benn- und Heidegger-Kenner Fritz Werner ein Telefongespräch nach Staufen. Monica Huchel bat mich, nur wenige Minuten mit dem Kranken zu sprechen. Ich erschrak, als ich Huchels müde Stimme vernahm. Er erinnerte sich kaum noch an meinen Besuch in Wilhelmshorst. Erst als ich ihm den Namen Uwe Grünings nannte, den Huchel in seinen Anfängen gefördert hatte, entstand so etwas wie eine Gedächtnisbrücke. Huchel erkundigte sich nach Wilhelmshorst. Ich erzählte ihm von einem Besuch bei Erich Arendt, der Huchels Haus jetzt bewohnte, und beschrieb ihm so gut ich konnte den Zustand von Haus und Garten. Aus Huchels Bemerkungen zu dem, was ich ihm berichtete, klang Trauer über die verlorene Heimat.
Für die in der DDR, die heute über Vierzig sind, ist der Name der Zeitschrift Sinn und Form für immer mit dem Peter Huchels verbunden. Vor mir liegt das Heft 5/6 des Jahrgangs 1962, auf dessen erster Seite lakonisch mitgeteilt wird: „Der bisherige Chefredakteur Peter Huchel scheidet auf eigenen Wunsch mit Jahresende aus.“ Hinter dieser euphemistischen Feststellung verbarg sich eine kulturpolitische Tragödie, die sich vielleicht heute so nicht wiederholen könnte, es sei denn als Farce. Der erste Beitrag dieses Heftes ist Bertolt Brechts „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“. Auf den Seiten 868 bis 873 finden sich die letzten Gedichte, die Huchel selbst noch in der DDR veröffentlichte. Im ersten Heft des Jahrgangs 1982 druckte der vorletzte Chefredakteur der Zeitschrift, Paul Wiens, noch kurz vor seinem Tod in einem Memorial drei Gedichte Huchels, darunter auch das Gedicht „Exil“. Zeichen einer Annäherung? Zu wünschen wäre eine Ausgabe von Huchels Gedichten für die DDR.
Heinz Czechowski, aus: Axel Vieregg (Hrsg.): Peter Huchel, Suhrkamp Verlag, 1986
− Peter Huchel – Schicksal eines Dichters unter der Stasi-Feme. −
Die Nacht seiner Geburt vor nunmehr neunzig Jahren hat Peter Huchel in dem Buch Die Sternenreuse so beschrieben:
Der Havel das Eis, den Kröten den Mund
öffnet April.
Der Himmel war vom Schnee noch wund,
ich kam auf die Welt, es regnete still
in der dritten Nacht April.
Geboren war einer der bedeutendsten deutschen Dichter unseres Jahrhunderts, der seine Stoffe, Motive und Bilder aus der Natur der Mark Brandenburg schöpfte (später auch aus der Landschaft Italiens, aus Irland und den Mythen der Griechen), konkret und zeichenhaft zugleich.
Die Sternenreuse, soeben vom Piper Verlag neuaufgelegt, enthält Gedichte der Jahre 1925 bis 1947. Da agieren Menschen in den Naturabläufen der Jahreszeiten, die mit allen Sinnen erlebt werden und als Düfte, Geräusche und Lichtverhältnisse in den Versen eingefangen sind, dazu die Tierwelt.
Ein Naturdichter also, ein Poet der Provinz gar? Mitnichten. Experten nennen ihn gleich nach Rilke, Trakl, Benn, George und Brecht, sein Name fällt nicht selten noch vor dem Paul Celans. Dennoch ist er den Lesern in der ehemaligen DDR immer noch weitgehend unbekannt – Folgen eines mit System betriebenen Verschweigens.
Peter Huchel wurde in Berlin-Lichterfelde geboren und zog als Dreijähriger mit den Eltern (der Vater war Beamter im Preußischen Kultusministerium) nach Potsdam. Die vorindustrielle Welt erlebte er zeitweise auf dem großelterlichen Bauernhof im märkischen Alt Langerwisch. Nach Literatur- und Philosophiestudium an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin, in Wien und Freiburg i.Br. knüpfte er Verbindungen zu den Berliner Publikationsorganen Die Literarische Welt, die seine Erzählungen und Gedichte druckte, und zur Vossischen Zeitung. Durch die Dresdener Zeitschrift für Dichtung Die Kolonne, deren Lyrikpreis er 1932 erhielt, lernte er Günter Eich kennen. Durch ihn kam er zum Rundfunk in Berlin, der 1933 bis 1940 neunzehn Hörspiele von ihm sendete, darunter 1939 die Fontane-Bearbeitung Margarete Minde. Huchel, weder Widerstandskämpfer noch Opportunist, äußerte Politisches in der Nazizeit indirekt und verschlüsselt, indem er zitierte:
Die Stadt,
sie war voll Rechts, nun ist sie eine Mördergrube.
Peter Huchel war kein politischer Dichter, doch als Schriftsteller des Naturmythos und der sozialen Konkretheit mußte er unweigerlich von gesellschaftlichen Konstellationen betroffen sein. Schon 1933 zog sich durch seine Gedichte die Vorahnung von kommendem Mord und Krieg, etwa wenn in „Späte Zeit“ von „Jägern“ und „Dämonen“ die Rede ist. Waren die frühen Gedichte voller archaischer Bilder, die literarische Figuren in der Natur zeigten: den uralten Hirten, die graue Magd, den Fallen stellenden Großvater, den Kesselflicker, so hat sich die Figurenwelt der Gedichte der dreißiger Jahre verändert. Nicht mehr Zimmermann, Schnitter und Hirt treten auf, sondern „der Würger“. („Zwölf Nächte“, 1938). 1939 ist für Huchel die Welt eine „Welt der Wölfe, Welt der Ratten“ geworden. Die Spuren des Menschen in der Natur sind nun Spuren des Krieges. Das Ich der Gedichte ist zum Verfolgten geworden, wie in der „Schattenchaussee“, der dominierende Gegenstand ist nicht mehr die Reuse des Fischers, sondern die Blechmarke des Soldaten. Keine idyllischen Bilder mehr, sondern Härte und Zerstörung. Das Existentielle gewinnt in Huchels Lyrik an Bedeutung und erreicht später, im letzten zu Lebzeiten erschienenen Band, Die neunte Stunde, seinen Höhepunkt.
Da hatte er jahrelange Isolation, Stasi-Bewachung und Diffamierung in der DDR schon hinter sich gelassen, mit ihr aber auch die literarisch produktivste Zeit seines Lebens. Wirkliche Freunde, die zu ihm hielten, hatte Peter Huchel nur wenige. Zu ihnen gehörten Linksintellektuelle wie Ernst Bloch und Alfred Kantorowicz, die ihre Wohnungen ganz in seiner Nähe hatten, als er 1931 bis 1933 in Berlin-Wilmersdorf wohnte. 1934 heiratete er die Rumäniendeutsche Dora Lassel und zog mit ihr bis zu seiner Einberufung nach Michendorf bei Berlin. Einen eigenen Band hatte er bis dahin nicht veröffentlicht, obwohl die Sammlung „Der Knabenteich“ durchaus druckreif vorlag.
Der Huchel-Kenner und Herausgeber Axel Vieregg verweist auf die Gründe: Huchel wollte seine Kindheits- und Landschaftsgedichte nicht als Blut- und Bodendichtung mißverstanden wissen.
Holte ihn die sowjetische Militärregierung im Herbst 1945 aus der Gefangenschaft zur Einrichtung einer Hörspielabteilung zum Ost-Berliner Rundfunk, oder war er bereits am 8. Mai 1945 dort?
Huchel-Biographen streiten sich. Fest steht, daß er – obwohl parteilos Direktor der Hörspielabteilung wurde, als Chefdramaturg und Sendeleiter wirkte, bis er 1948, auf Wunsch Johannes R. Bechers, die Redaktion der neuen Kulturzeitschrift Sinn und Form übernahm.
Als Chefdramaturg suchte er von Anfang an ein humanistisches Konzept durchzusetzen, in dem die gesamtdeutsche Literatur zu Wort kam: eine Brücke zwischen Ost und West und ein Tor zur Welt. Die Zeitschrift Sinn und Form wurde, wie Walter Jens formulierte, zum „Geheimen Journal der Nation“, fast von Anfang an angefeindet von orthodoxen Marxisten, allen voran der SED-Spitzenfunktionär Kurt Hager, der 1957 einen regelrechten Feldzug gegen die Zeitschrift begann. Bereits 1953 hatte man versucht, Huchel als Herausgeber von Sinn und Form abzusetzen, der Zeitschrift unter anderem auch Devisen zu verweigern, so daß Texte von Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll nicht erscheinen konnten, doch vermochte Huchel bis 1962 das in der DDR Machbare auszuloten und das hohe literarische Niveau der Zeitschrift zu halten.
Er wehrte sich sowohl gegen die Politik der SED, indem er Brechts Notizen zu Ernst Barlach druckte, die das „ND“ abgelehnt hatte, mußte aber ebenso gegen Diffamierungen aus dem Westen kämpfen, die in Sinn und Form das „sowjetisch-trojanische Panje-Pferd (Wolf-Dietrich Schnurre) sahen. Andere, unter ihnen Hans Magnus Enzensberger, hatten den Wert der Zeitschrift längst erkannt. Willy Haas, der bis 1933 die bedeutendste Literaturzeitschrift der Weimarer Republik, die Literarische Welt, herausgab, äußerte:
Sie haben diese Ihre Monatsschrift Sinn und Form zu einer der drei führenden geistigen Zeitschriften im gesamten Deutschland erhoben. Ihre Zeitschrift ist und bleibt – hoffentlich für lange – eine der sehr wenigen repräsentativen Zeitschriften Gesamtdeutschlands.
Willy Haas’ Hoffnungen erfüllten sich nicht. Nach dem Tode Brechts 1956 zeterten die Hagers und Abuschs immer dreister. Das Legendäre Heft 5/6 1962 wurde das letzte für Huchel. Es enthielt unter anderem Brechts „Rede über den Widerstand der Vernunft“ und bittere Gedichte Huchels wie „Der Garten des Theophrast“ und „Traum im Tellereisen“, wo es heißt:
Gefangen bist du, Traum.
Dein Knöchel brennt,
zerschlagen im Tellereisen.
Fortan war Peter Huchel isoliert, bespitzelt, verfemt. Öffentliche Maßregelungen durch einen Parteitag der SED, Beschimpfungen durch das Politbüro und am 28. Mai 1963 Verdammung auf der Delegiertenkonferenz des Schriftstellerverbandes. Arnold Zweig, Anna Seghers, Johannes R. Becher und Stefan Hermlin kannten ihn von heute auf morgen nicht mehr.
Einsam und gemieden lebte Peter Huchel mit seiner Frau Monica in Wilhelmshorst bei Potsdam. Kontakte zu den wenigen Freunden, die ihm geblieben waren: Werner Krauss, Hans Mayer, Heinrich Böll, wurden von der Stasi protokolliert, die auch sein Archiv mit Briefen von Thomas Mann, Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Alfred Döblin stahl. Später fand er alles in einem Wilhelmshorster Gemüseschuppen wieder, zerfledert und verschimmelt.
1968 dichtete und sang Wolf Biermann sein berühmtes Lied „Ermutigung“ und widmete es ausdrücklich Peter Huchel. Doch wie sollte der nicht verbittert sein in dieser bittren Zeit? Post erreichte ihn nicht mehr, geschweige denn Einladungen nach Frankfurt am Main und München anläßlich des Erscheinens seiner herausgeschmuggelten Gedichte. 1963 war die Gedichtsammlung Chausseen, Chausseen gedruckt worden, 1967 Die Sternenreuse. 1971 durfte Huchel endlich ausreisen. Einen Kuhhandel mit der DDR, die zuvor die Ausreisegenehmigung von einer Drucklegung seiner Gedichte beim Aufbau-Verlag abhängig machen wollte, hatte er rigoros abgelehnt.
Mit Frau und Sohn ging er zunächst nach München, dann in die Villa Massimo nach Rom, bis er sich in der Nähe von Freiburg in Staufen niederließ. Doch ihm fehlte die Landschaft der Mark Brandenburg, die er in seinen Gedichten festgehalten hatte, in den ländlichen Bildern der „wendischen Heide“, mit ihren Mooren, Teichen und Erlen, den Wäldern voller Bärlapp, Ried und Beifuß, darin der Mensch in seinen alltäglichen Verrichtungen: die Verbindung von Landschaft und Sozialem.
Am 30. April 1981 ist Peter Huchel gestorben, hochgeehrt nur im westlichen Teil Deutschlands. Doch kein geringerer als Johannes Bobrowski berief sich auf Huchel, als er bekannte:
Da habe ich es her. Menschen in der Landschaft zu sehen.
Des Dichters Art, die Zeichenhaftigkeit von Natur aufzugreifen, hat eine ganze Huchel-Schule nach sich gezogen und alljährlich wird der Huchel-Preis vergeben, eine begehrte Ehrung, die in diesem Jahr Sarah Kirsch zuerkannt worden ist. Peter Huchels Verse sprechen von der menschlichen Existenz in Zeit und Raum, klare Worte, die zuletzt in dem Buch Die neunte Stunde alles Beiläufige abgestreift haben, um auf das Wesen des Lebens und Sterbens zu kommen, am Ende eine bittere Mischung aus Geheimnis und Transparenz.
Dorothea von Törne, Neue Zeit, 3.4.1993
Peter Huchel | Stephan Hermlin Zeitzeugen des Jahrhunderts. Literarischer Salonabend im Haus Dacheröden, Erfurt mit Lutz Götze (Manuskript) und Franziska Bronnen (Lesung).
Peter Hamm: Vermächtnis des Schweigens. Der Lyriker Peter Huchel, Merkur, Heft 195, Mai 1964
Franz Schonauer: Peter Huchel – Porträt eines Lyrikers
DU, Heft 11, November 1964
ZUFLUCHT NOCH HINTER DER ZUFLUCHT
(Für Peter Huchel)
Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor
Hier
ruft nur gott an
Unzählige leitungen läßt er legen
vom himmel zur erde
Vom dach des leeren kuhstalls
aufs dach des leeren schafstalls
schrillt aus hölzerner rinne
der regenstrahl
Was machst du, fragt gott
Herr, sag ich, es
regnet, was
soll man tun
Und seine antwort wächst
grün durch alle fenster
Reiner Kunze
GEDICHT FÜR PETER HUCHEL
Erde, zugewiesen auf Zeit und Unzeit
damit er sie unterbringt in seinem Gedächtnis
das die Schöpfung bewahrt für einen Tag des Erinnerns
an den Ruf der Mandelkrähe
das Rollen des Meers und der Steine.
Erde, ausgeschlachtet, nachdem die Götter
abgetreten sind und Welt für Welt
in Eisen gegossen tost und schrottet; er hört
den Abruf des Meers und das Schweigen der Steine
immer unbewohnbarer, in dem letzten
Traum die Rufe der Mandelkrähe.
Christoph Meckel
Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973
Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973
Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973
hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981
Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981
Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981
Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981
Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981
Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981
Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981
Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981
Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981
Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981
Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984
Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991
Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003
Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003
Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003
Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003
Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003
Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003
Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003
Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003
Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003
Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002
Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript
in der fünften Zeile von Peter Huchels eingangs zitierter Sternenreuse muss es korrekterweise heißen:
Das Wasser scholl, es war Gesang,
Wie kommen Sie darauf?
Siehe die Werkausgabe. Bd. 1, S. 83. Er hat recht. Mit freundlichem Gruß,
Hub Nijssen
Hg. des Briefwechsels Huchels