Peter Rühmkorf: Werke 1 – Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Rühmkorf: Werke 1 – Gedichte

Rühmkorf-Werke 1 – Gedichte

FUTURISMO – TEMPS MODERNES – NO FUTURE

Futurismo – Temps modernes – No future −
heute dies und morgen Dunst −
Gerade bis zum nächsten Dauerknutscher,
na, wie ging nochmal der Sinn der Kunst?

Kunst sei, sagst du, was beliebt, gefällt,
doch die Zeilen stellen ziemlich wirr sich;
Mann, es rundet sich schon nicht mehr wie ein
aaaaaaPfirsich
dir die Welt!

Hast Kairos verpaßt?
Pausenlos von Eilpost überrumpelt…
Wie besehn, man reift ja nicht, man schrumpelt,
unaufhörlich klatscht die Leine an den Mast

Ach, es wird, ach angesichts der Nacht, der Sterne
schwinden hin ganz schnell −
Und am Ende räumst du bitte-gerne
dieses fremdenfeindliche Hotel.

Wahnsinnszart, zum Fürchten schön
senkt sich Nachtreif auf dein Unternehmen −
Nimmer soll die Liebe uns beschweren,
Furcht uns lähmen,
nie das Licht ausgehn.

Einen allerletzten Einblick sich ersaugen
− sssssssssssssssssssssssssst! den Zoom −
Bis sich hinter umgedrehten Augen
deine Himmel lichten, Fragen klären
− absolut posthum −

 

Trennzeichen 25 pixel

 

Editorisches Nachwort

Eine Werkausgabe schon zu Lebzeiten des Autors hat stets etwas Janusköpfig-Zwiespältiges an sich: Einerseits dokumentiert sie das Vertrauen von Verlag und Herausgeber auf ein so bald nicht ablaufendes Haltbarkeitsdatum, mithin eine Vitalität dieses Werks; andererseits behauptet sie mit ihrem Anspruch, „das Werk“ zu zeigen, eine Abgeschlossenheit, die leicht als ein Bis-hierhin-und-nicht-Weiter ausgelegt werden könnte. Wie falsch diese Auslegung im vorliegenden Fall wäre, zeigt nichts deutlicher, als daß ein neuer Gedichtband zum 70. Geburtstag des Autors erschienen ist. Diese jüngsten Gedichte sind noch nicht Teil der Werkausgabe.
Mit dem noch nicht abzusehenden, offenen Ende des Werks korrespondieren eine gewisse Unschärfe und Offenheit zu Anfang des hier vorgelegten Bandes: Wann und womit beginnt ein Werk? Der Herausgeber entschloß sich in Absprache mit dem Autor, aus den lyrischen Juvenilia der Jahre 1947 bis 1955 lediglich eine Auswahl von etwa einem Drittel der erhaltenen Gedichte aufzunehmen; bei der Auswahl standen weniger qualitative Kriterien im Vordergrund – (die in dieser frühen Phase der Fingerübungen und der Suche nach einem eigenen Ton auch nur schwer anzulegen wären) −, als das Bemühen, jede der angeschlagenen Tonarten vorzustellen und frühe Ansätze späterer Themen und Techniken zu zeigen. Erst ab dem Jahr 1956 enthält der Band alle Gedichte, die der Autor geschrieben und veröffentlicht hat (was, nach der bisherigen Kenntnis des Hamburger Peter Rühmkorf-Archivs, in eins fällt). Mit dem Beginn der Vollständigkeit ist nicht die Frage nach dem Beginn des Werks entschieden −: aber in diesem Jahr 1956 publizierte der Limes Verlag den ersten Lyrikband Rühmkorfs, womit die Zeit des vorwiegend eigener Kritik und eigener Entscheidung unterworfenen Selbstverlegens in der Zeitschrift Zwischen den Kriegen beendet wurde.
Die Sichtung des bisherigen lyrischen Werks Peter Rühmkorfs ergab sehr rasch, daß jeder Anordnung der Gedichte nach Themen, Formen oder Gattungen ihm nicht gerecht werden würde; einzig die chronologische Anordnung konnte zeigen, wie sich im Längsschnitt „Wachstumslinien“ (ein von Peter Rühmkorf in diesem Zusammenhang verwendetes Wort) durch das Werk ziehen – wie etwa Vorbilder wechseln, wie verehrte Autoren erst nachgeahmt, dann parodiert, schließlich nur mehr zitiert oder leise angespielt werden; wie pubertäre Empörung über den Zustand der Welt engagierter Einsicht in die Entstehungsmechanismen dieses Zustandes weicht; wie sich Politik und Liebe, Marktplatz und Schreibtisch über die Jahre gegenseitig bedingen und doch immer wieder in die Quere kommen; wie einerseits ein Interesse an den einfachen, aber strengen Volks- und Kirchenliedformen bleibt, andererseits sich immer freiere, dennoch durchgearbeitete, komplizierte Langformen herausbilden.
Freilich zeigte sich auch bald, daß diese anzustrebende chronologische Ordnung bestenfalls approximativ erreicht werden konnte. Die Handschriften und/oder Typoskripte der frühen Gedichte fanden sich zwar meist in mit Jahreszahlen versehenen Kladden oder Konvoluten, trugen jedoch in den allerseltensten Fällen genaue Datierungen, so daß die Reihenfolge der Gedichte in der ersten Abteilung innerhalb der einzelnen Jahrgänge von 1947 bis 1952 eine willkürliche sein mußte; in der zweiten Abteilung wurde die Reihenfolge innerhalb der Jahrgänge durch die Erscheinungsfolge in Zwischen den Kriegen bestimmt, sofern nicht eine genauere Datierung dieser Folge widersprach. Von der dritten Abteilung an ist die Anordnung der Gedichte insofern eine chronologische, als sie in der Reihung der Abteilungen den Buchpublikationen Peter Rühmkorfs folgt; innerhalb der Abteilungen wurde die vom Autor bestimmte Reihenfolge der Gedichte in den jeweiligen Publikationen beibehalten.
Zwei Faktoren ließen dieses philologisch inkonsequente Verfahren sinnvoll erscheinen: Zum einen ist ein großer Teil der Gedichte ab 1955 undatiert und kann auch nicht mehr aus dem Gedächtnis des Autors datiert werden; zum anderen will die Arbeitsweise des Autors eine strenge Chronologie gar nicht zulassen.

Da auf meinem Arbeitsgebiet meist die drei, vier, fünf oder sechs Gedichte gleichzeitig um einen Lieblingsplatz an meinem Herzen streiten – mit bereits abgesegneten Verbindungen hier und scheinbar unzertrennlichen Bettgemeinschaften dort – ist es oft nur eine Frage der aktuellen Anziehungskraft, wer bei solch einem Kompetenzgerangel schließlich die Oberhand gewinnt. Das Resultat, alles andere als erbaulich: daß gesicherte Anciennitätsansprüche plötzlich wieder fraglich erscheinen und alles, was nicht wirklich niet- und nagelfest in unserer Sympathie verankert ist, auf diesen neuen Interessenmagneten fliegt.

So beschreibt Peter Rühmkorf im Nachwort zu seinem Buch Aus der Fassung (Zürich 1989) die parallele Entstehung seiner Gedichte aus einem über Jahre hinweg gesammelten Vorrat an initialen Einfällen, Kleinstformulierungen, Mosaikbausteinen (vom Autor „Quanten“ genannt), eine Entstehung, die sich selbst über mehrere Jahre hinziehen kann und die (wie geschildert) durchaus nicht eingleisig und gradlinig verläuft. So markieren denn die im Apparat genannten Daten zur „Niederschrift“ etwa den Zeitraum, in dem das jeweilige Gedicht seine danach nicht mehr wesentlich veränderte Form angenommen hat. Bei diesen Daten mußte sich der Herausgeber auf die Angaben des Autors verlassen – der schiere Umfang des Materials – (allein für das Gedicht „Selbst III / 88“ legt Rühmkorf in dem Band Aus der Fassung rund 700 DIN-A4-Seiten „Quanten“, Notizen und Frühfassungen vor!) – verbat eine Autopsie – sie hätte den vorgegebenen Zeitrahmen dieser Edition um ein vielfaches gesprengt. Die Materialfülle erklärt gleichzeitig, warum die Ausgabe keine Textvarianten der Manu- und Typoskripte bietet, geschweige denn eine historisch-kritische ist. Nur etwaige (seltene) Varianten in den vom Autor selbst beaufsichtigten Buchausgaben wurden berücksichtigt sowie Druckfehler beseitigt. Die Sichtung der im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Hamburger Peter Rühmkorf-Archiv liegenden Manuskriptkonvolute muß späterer Forschung vorbehalten bleiben.
Die vorliegende Edition versteht sich als Studienausgabe, d.h., sie will nach der Lektüre zu einer weiteren Beschäftigung mit den Gedichten verleiten. Sie bietet zu diesem Zweck im Apparat außer Entstehungs-, Erstveröffentlichungs- bzw. Erstlesedaten einen bei zeitgenössischer Lyrik eher ungewöhnlichen Einzelstellenkommentar in Form von Wort-, Sach- und Personenerklärungen. Dies geschieht aus der Erfahrung heraus, daß immer seltener mit Lesern zu rechnen sein wird, die über die noch vor wenigen Jahrzehnten selbstverständlichen Kenntnisse in antiker und christlicher Mythologie, in Geschichte und Politik, in Volks- und Kirchenliedern usw. verfügen, die nötig sind, um die über das gesamte lyrische Werk Rühmkorfs gestreuten Anspielungen nicht nur zu verstehen, sondern überhaupt erst einmal auf den Gedanken zu kommen, daß da etwas angespielt sein könnte. Daneben verlangt auch das einer noch viel kürzeren Halbwertszeit unterworfene „niedere Kulturgut“ der tagespolitischen Ereignisse, der Werbesprüche und der Markenartikel, das bei Rühmkorf einen so großen Stellenwert hat, zunehmend nach Erläuterungen.
Natürlich kann und will der Kommentar nicht die eigene Handbibliothek und das eigene Nachschlagen des Lesers ersetzen – angestrebt wurden knappste Erläuterungen als erste Hilfestellungen. Prinzipiell wurden alle Wörter, Begriffe und Namen kommentiert, die nicht im DUDEN stehen, bzw. deren DUDEN-Erklärungen den Leser im Kontext des Gedichts auf falsche Spuren setzten. – Die eher beispielhaft gedachten Hinweise auf Anspielungen und Zitate anderer Dichter erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit – der weitgefächerten Lektüre des Autors Peter Rühmkorf kann allenfalls sein Leserkollektiv auf die Spur kommen.
Dem Herausgeber bleibt die angenehme Pflicht, drei Personen zu danken, ohne deren Arbeit diese Ausgabe der Gedichte Peter Rühmkorfs nicht zustande gekommen wäre:
Herrn Wolfgang Rasch (Berlin), der in ungewöhnlich freizügiger Art die Erstveröffentlichungsdaten der Gedichte aus seiner in Entstehung begriffenen Gesamtbibliographie zu Peter Rühmkorf zur Verfügung stellte;
Herrn Helmut Schenkel (Rendsburg) vom Hamburger Peter Rühmkorf-Archiv, der kompetent und findig Archiv- und Bibliotheksrecherchen übernahm;
schließlich Peter Rühmkorf selbst, der durch Ideenreichtum, Auskunftsbereitschaft, Geduld und Ungeduld Motor der Arbeit war. – Ein persönlicher Satz sei zum Schluß gestattet, dessen Wahrheit ein Literaturwissenschaftler nur im Umgang mit einem lebenden Autor erfahren kann: Der Dichter hat immer recht.

Bernd Rauschenbach, Nachwort, Februar 1999

 

Peter Rühmkorf: Werke 1 – Gedichte

Nach dem von Wolfgang Rasch edierten Erinnerungsbuch Die Jahre die Ihr kennt folgt in der Werkausgabe jetzt die von dem Arno-Schmidt-Spezialisten Bernd Rauschenbach besorgte Ausgabe der gesammelten Gedichte. Sie präsentiert die Texte, darunter auch viele unbekannte, in ihrer chronologischen Reihenfolge. Rühmkorf hat sich nie als einen Ausgelernten betrachtet; der Dichter hat viele Schulen durchlaufen und vielen Meistern über die Schulter geblickt. Am liebsten bewegt er sich in literarischen Hochspannungsfeldern, und aus der kritischen Zusammenführung von Antagonismen hat er stets seine eigenen Zündfunken gezogen. Wo man ihn einseitig auf die Benn-Schule festlegen möchte, stehen auf einmal solche erklärten Antipoden wie Brecht, Majakowskij und Whitman dagegen, und wenn man glaubt, ihm die Rolle des Parodisten zuweisen zu können, gehen ihm die schlichtesten Versstrophen volksliedhaft über die Lippen, sodass man jedes Herkommen darüber vergisst. Dies im historischen Längsschnitt wie in der stratigraphischen Schichtung der Gedichte überzeugend aufgehellt zu haben, ist das besondere Verdienst des Herausgebers Rauschenbach, der in seinen kenntnisreichen Kommentaren Anspielungen auf den mythologischen Prometheus so ernst nimmt wie Herkunftsvermerke für einen „Prometheusgasbrenner“.

Rowohlt Verlag, Ankündigung

 

Das dreiviertel Gedicht-Gesamtwerk

Was soll man groß über Rühmkorf sagen?
Sozi, Intellektueller, Sprachakrobat, Kritiker, Skeptiker. Das alles mag bei der Interpretation helfen.
Aber vergessen Sie für einen Moment all diese Beschreibungen und tauchen sie ein in die Sprachgewalt des Lyrikers. Lassen Sie die genialen semantischen Wendungen auf sich wirken und dann, dann vielleicht denken Sie über Sinn und Inhalt nach.
Das dies nicht immer leicht ist, sei unbestritten. Aber gerade das fordert ungemein und wer sich länger mit den inhaltsreichen Texten beschäftigt wird belohnt.
Wenn Gedichte generell keine Zeilen zum Drüberweglesen sind, so trifft das für diese Werke umso mehr zu.
Sprachlich besticht Rühmkorf durch wahnwitzige Wortkreationen, durch scharfzüngige Vulgarität und manchmal durch aufrichtige Emotionalität. Seine sprachlichen Anspielungen sind oftmals nicht verständlich für die jüngere Generation, wie meine, da er sich auf bekannte Zitate oder Personen seiner Zeit bezieht. Zum Glück befindet sich im Anhang eine Liste mit Erläuterungen zu jedem Gedicht, die diese Anspielungen erklärt, da sich diese Ausgabe als Forsch- und Arbeitslektüre versteht.
Die Gedichte folgen in chronologischer Reihenfolge, und nach veröffentlichten Einzelwerken sortiert, was ich für besonders gelungen halte. So kann man die Wandlung Rühmkorfs verfolgen und man hat keine Schwierigkeiten die Gedichte Zeitgeschichtlich einzuordnen.
Da dieser Band bereits zu Lebzeiten des Lyrikers veröffentlicht wurde fehlen die letzten seiner Werke in diesem Band. M.E. nur der Band Paradiesvogelschiß (auch sehr zu empfehlen).
Da Lyrik immer etwas persönliches ist, kann ich nur aus meiner Warte beurteilen. Rühmkorfs Lyrik berührt mich zutiefst, schafft Resonanz. An seinen Formulierungen hab ich meine helle Freude. Seine Texte fordern mich über die Zeit des Lesens hinaus. Für mich einer der genialsten deutschen Lyriker der neueren Zeit. Da dieser Band auch formal und optisch gelungen ist, kann ich dieses Buch nur empfehlen.

the dying poet, amazon.de, 10.11.2009

 

Bei solchen Voraussetzungen

1. Erster Anlaß: geboren am 25.10.1929 als Sohn der Lehrerin Elisabeth R. und des reisenden Puppenspielers H. W. (Name ist dem Verf. bekannt) in Dortmund.

2. 1934: Lektüre Häschenschule plus Erlebnis Hasenbraten-mit-Grünkohl ergeben Lied „es ging Meister Hase mal durch den Wald“.

3. 1936-40: Krippenspiele, Geburtstags-, Feiertags-, Gelegenheitscarmina. Anlässe: gemischt. 1941: Hymne auf den Läufer von Marathon; Ballade auf den bösen Schloßherrn, der im Spiegel sein eignes Gerippe erblickt; frühe Liebeslyrik à la Scheffel, Baumbach, Heinrich Seidel für Gerda, Lotti, Annemarie, Hilde pp.

4. November 1942: Flugblatt „Novembertage“ gefunden. Seitdem ständige Lektüre von Flugblättern. Fortbildung durch Radio London, Stimme Amerikas, Soldatensender Calais, politische Witze, Volks- und Hetzpoesie. Eigene Variationen auf Kriegs- und Nazilieder: „Werft an die Motoren / Gebt Holzgas hinein / Der Krieg ist verloren / Für Hitler, das Schwein.“

5. 1943/44: Liebeslyrik bei schwankendem Angebot behauptet. Übernahme Chefredaktion Der lachende Georg (St. Georg: Schutzpatron des Stader Athenaeums). Anschläge selbstverfertigter Flugblätter an Aborttüren und Schwarzen Brettern. Karikatur Schuldirektor mit gesenkter Nazifahne auf dem Dach des Pennals: „Auf den Zinnen seiner Burg: hockt der zitternde Lykurg / Doch so langsam dämmert’s ihm: / Jetzt ist Schluß mit dem Regime.“

6. 1944 – Anfang 45: Schanzen, W-E-Lager, Volkssturm. Überall vorzeitig entwichen. Bildungserlebnis: „Werden euch schleifen, daß euch das Blutwasser im Arsch kocht“ (Bannführer Bargans), „Werden dafür sorgen, daß die Drückeberger, die sich nicht freiwillig melden, den Krieg nicht überleben“ (Lagerleiter Goethe) plus „Heilig Vaterland in Gefahren / Deine Söhne sich um dich scharen“ (R.A. Schröder) als unverbrüchliche Einheit. März 45: Einberufung zur Wehrmacht. Nicht befolgt. Entwurf Geusendrama.

7. Kriegsschluß bis 1947: Schwarzhandel, Stehgeigerei, Falkenkabarett. Das Bleibende: Eindruck von tanzwütigen Bauern, die die Brettlbühne stürmen und demontieren. Konsequenz: Rückzug aus der Öffentlichkeit auf deutschen Expressionismus: „Es lenzt, die blauen Beulen sind gebrochen, / Auf bleichen Wangen prangen frühe Blattern. / Die jungen aufgeregten Winde flattern / Ums frische Grün des Schimmels an den Knochen.“ und subjektivistische Sachlichkeit: „Kommt, gebt mir was zu fressen! / Ich bin der erste große deutsche Nachkriegsdichter; / Nur fehlt mir Fett und Eiweiß.“ pp.

8. 1948: Währungsreform plus Ausbruch Zwangsneurose. Herausgabe Schülerzeitschrift Die Pestbeule. Privatistische und Tendenzlyrik alternierend.

VERZEIHUNG

 

Haben Sie den Menschen gesehn?
Zwischen Bittesehr und Dankeschön
Ein wenig Mode ein wenig Müller
Als Lieblingsdichter Friedrich von Schiller
Von 18-20 revolutionär
Pubertät zu Ende Abitur Militär
Zu Befehl!
Das Gewehr
98
Hat einen brünierten Lauf
Einerseits schießt man andererseits spießt man
Lehrer Friseure Arbeiter auf
Was gibts sonst neues?
Kinos und Kirchen zur Erbauung
Das Herz intakt, noch klappt die Verdauung
Bis auf die Juden −
Sonst Keller Storm und Meyer
Die Füße im Feuer
Und wie mans schreibt, im Duden 
N SU HSV DRP
DP NWDR
Dr. hc BBC
Fahn und Sä
Bel und noch mehr
Und dann grüßen Sie bitte recht schön!
Aber vorher Füße abtreten!
Stiiiiii iistannnnn!
Wir treten zu Beten
Verzeihung
Haben Sie den Menschen gesehn?

9. 1950: Beginn Studium in Hamburg. Wohn- und Kunstkommune Hamburg-Lokstedt. Zusammen mit K.R. Röhl Studentenkabarett Die Pestbeule – KZ-Anwärter des dritten Weltkrieges. Stück Die im Dunkeln sieht man nicht. Einwöchiges Gastspiel in Werner Finks Mausefalle. Saal wird jeden Abend bis zum letzten Platz leergespielt. Presseecho DIE WELT: „Der dreckige Kitsch von vorgestern, noch schnell alsterexistentiell frisiert, soll doch hoffentlich nicht morgen Kunstersatz werden?!“ Gelernt und gemerkt: daß Pressefreiheit auf Papier steht, das ganz bestimmten Leuten gehört. Reaktion Kabarettdirektor Hochtritt: „Da schmeißen Sie doch gleich ne blutgefüllte Schweinsblase auf die Bühne!“ Gelernt und gemerkt: daß Borcherts Kabarettdirektor mitten aus dem Leben gegriffen und gar keine Karikatur ist.

10. 1951: Zusammen mit Werner Riegel hektografierte Monatszeitschrift Zwischen den Kriegen. Schreiben mit gespaltener Feder: einerseits private Eliteratur andererseits politische Aufklärartikel. Gründung Literatur- und Jazz-Keller Anarche. Die Presse zur Premiere: „Die erste Kostprobe aus diesem Labor war fürchterlich. Man las ein ausführliches Prosastück, das selbst den ganz gewiß nicht weichlichen (aber im Manifest auch geköpften) Amerikaner Norman Mailer zu unwilligem Erröten veranlaßt hätte. Erschreckt blickten die Zuhörer in einen unappetitlichen Abgrund von wollüstigem Pessimismus, verklemmter Sexualität und seelischer Leere. Jung und revolutionär? Mitnichten: vergreist und verlogen“ (Ludwig Schubert). Unvergeßliche Lehre: daß politische und Kulturreaktion immer noch zwei Backen eines Arsches sind.

11. Seit 1955 Mitarbeit am STUDENTENKURIER, heute KONKRET. Politische Leitartikel „Zum 8. Mai“, „Und sie bewegt sich doch!“ „Bombensichere Chancen“, „Nach Ostland geht unsre Fahrt“, „Dezente Diktatur“, „Rebellion in der Westentasche“, „Der Satellit verliert sein Gesicht“, „Blumen für Dulles“, „Und dem Kanzler was Gottes ist“, „Links liegengelassen“, „Oil ins Feuer“ pp. unter den Pseudonymen John Frieder und Johannes Fontara. Als Leslie Meier Literarglossarium „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof“. Rückblickend: Einsicht in dialektische Zusammenhänge nicht nur zwischen politischen Anlässen und kommentierenden Auslassungen, sondern auch zwischen Träger und Schreibart. Reisen nach Polen und China. Bleibende Eindrücke: polnische Plakate und chinesisches Bildungstempo.

12. Ab 1958 Lektor im Rowohlt Verlag. Begreifenlernen Lohn- und Brotschriftstellerei als entfremdete Arbeit. In dialektischem Gegenschlag: Schreiben als Wutanfall: politische Oden, Hymnen, Gesänge. Versuche, wenigstens dem Bewußtsein der eigenen Bildungsschicht auf die Beine zu helfen. Reaktion der eigenen Bildungsschicht: Reaktion. Friedrich Sieburg: „Für unsern Autor sind die Aussichten hell, wir werden ihn bald beim Rundfunk, als Redakteur oder Lektor, sehen, und überall wird er seinen Hauptberuf als Revolutionär ohne ernste Störungen weiter ausüben können. Wir brauchen solche Leute, unsere Gesellschaft bedarf der verlorenen Söhne, der Umstürzler und Bußprediger; wir sorgen dafür, daß sie nicht im biblischen Schweinekoben oder im Dachstüblein verkommen, sondern ihren sicheren Platz am Diplomatenschreibtisch finden.“ Gelernt und gut behalten: die politische Reaktion beginnt mit dem Umdekorieren. Sie lügt gerissener als noch vor sieben Jahren.

13. Ab 1962: wachsende Lustlosigkeit an den Kulturverarbeitungsbetrieben. Interesse für Untergrunds-, Randständigen- Volksliteratur. Beschäftigung mit Schülerlyrik, anonymer Massenpoesie, Laienkunst. Zunehmend Unbehagen an bürgerlichem Stimmungssubjektivismus und eigener Privilegiertensyntax. Seit 1964 Versuche, Politik aus dem privaten Rahmen des Gedichts auf breitere Bühnen zu tragen. Neu dazu gelernt: daß die Staats- und Repräsentationsbetriebe nichts dazu gelernt haben. Ihre Weitherzigkeit ist reine Deklamation. Ihre politische Offenheit zumindest durch präventive Blitzerfolgsklauseln blockiert.

14. 1970: zwei Theaterstücke fertiggestellt und wirtschaftlich bankrott. Erfahrung, daß wer sich mit Marx und Engels wirklich auf Gesellschaft einläßt, und nicht aufs Gnadenplätzchen innerhalb der feinen Society, zunehmend proletarisiert. Bei solchen Voraussetzungen: warum schreibe ich? Nun erst recht, meine Herrschaften.

Peter Rühmkorf, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 1, Februar 1971

Der Reim des Peter Rühmkorf

Peter Rühmkorf mit nur einem einzigen Kunstgriff zu charakterisieren fällt nicht schwer. In seinen gesammelten Gedichten gibt es nur einige wenige, die nicht gereimt sind. Versuchen wir also, daraus poetologisches Kapital zu schlagen. Es dauerte ja eine ganze Weile, bis der Reim, diese arabisch-chinesische Erfindung, schließlich auch in Deutschland Fuß faßte, wobei die ersten Versuche Otfrieds von Weißenburgs (der als erster Herz auf Schmerz reimte) jahrhundertelang folgenlos blieben – aus einem einfachen Grund: das Deutsche leiht sich dem Reim nur schwer, die Auswahl ist zu klein; was man sagen will, läßt sich durch den Stabreim leichter in ein klingendes Gefüge bringen, da gehen einem von den Nibelungen aufwärts die nötigen Worte nicht aus. Reimlisten sind aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt beschränkt: denn was bitte schön sollte Kettlein mit Deadline oder tänzelt mit gecancelt verbinden? Sie treffen immer eine sehr sonderbare Auswahl, eine Zufallskunde der Welt.
Was etwa reimt sich auf Rühmkorf? Diverse Dörfer bis Düsseldorf, Schorfe, Torfe, Carl Orff und er verworf (macht aber daraus noch ein ganzes Buch). Und was auf Reim? Beim, geheim, Keim, Leim, Oheim, Schleim, Seim und Rüdesheim. Um daraus also ein halbwegs vernünftiges Gedicht zu machen… Doch gerade das ist’s, worauf ich hinauswill: mit dem hinlänglich Vernünftigen hat das alles nichts zu tun. Die Damen, die Bäume und der Wind, weiß Rühmkorf, sind leider auch mit den schönsten Worten nicht nachzuahmen. Es braucht schon eine kasuistische Intelligenz, um das Potpourri von Begriffen, den einem die Reimlisten anbieten, unter einen Hut zu bringen. Einen Freigeist, der in der Zufallsalchemie der Sprache aus Blei sein Gold macht; einen Freibeuter, der die behäbige Galeone des Deutschen zu entern versteht, einen alten Hasen, der in den Versen elegante Widerhaken zu schlagen versteht, einen Akrobaten der Zunge, einen Seiltänzer zwischen dem hohen und dem niederen Ton, mit nichts als der Feder, um die Balance zu halten. Um aus dem Zufall Sinn zu machen, braucht es einen wachen Verstand.

Aber dann, aufeinmalso beim Schlendern
lockert sich die Dichtung, bricht die Schale
fliegen Funken zwischen Hut und Schuh:
Dieser ganz bestimmte Schlenker aus der Richtung
dieser Stich ins Unnormale − 
was nur einmal ist und auch nicht umzuändern:
siehe das bist du

Raoul Schrott, aus: Handbuch der Wolkenputzerei, „Dieser Text ist verschwunden.“, 2005

Carl Hanser Verlag, 2005

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Porträtgalerie: IMAGO

 

 

Wolfgang Gast: Sein Gegengift: Galle, Die Zeit, 20.9.1985

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Reinhard Baumgart: Gesang, Gesinnung, Abendröte
Die Zeit, 20.10.1989

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Iris Radisch im Interview mit Peter Rühmkorf: Einmal noch
Die Zeit, 21.10.1999

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag des Autors:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019

Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019

Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019

Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019

Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019

Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019

Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019

Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019

Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019

Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019

 

„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.

 

„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.

 

„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGIMDbArchiv + Internet Archive + IZA 1 & 2Kalliope
Georg-Büchner-Preis 1 & 2Johann-Heinrich-Merck-Preis
Interview 1, 23
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde OhlbaumAutorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotosdeutsche FOTOTHEKGalerie Foto Gezett + gettyimagesIMAGOKeystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Badische ZeitungDie tageszeitung ✝ Die WeltDie Zeit ✝ FAZ 1 + 2Hamburger Abendblatt ✝ Haus der Literatur ✝ literaturkritik.de 1 + 2 ✝ SpiegelTagung

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

„Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte"

Rondo

o Dorn!? – (nordischer Mond? oder Donner?)

Michel Leiris ・Felix Philipp Ingold

– Ein Glossar –

lies Sir Leiris leis

Würfeln Sie später noch einmal!

Lyrikkalender reloaded

Luchterhand Loseblatt Lyrik

Planeten-News

Planet Lyrik an Erde

Tagesberichte zur Jetztzeit

Tagesberichte zur Jetztzeit

Freie Hand

0:00
0:00