Was wir tun? Wir befassen uns mit dem Raum,
schweigen, lassen die Toten schlafen.
Schneiden die Bäume, umfrieden den Kompost,
kippen gefangene Mäuse aus der Falle.
Das Abendessen tragen wir uns in den Garten hinaus,
ins Zimmer herein nehmen wir Reisigzweige.
Gelb geben wir sie dem Gartenfeuer zurück,
der süße Rauch wälzt sich durch die Kleiderschränke.
Dem Abend zu beobachten wir vom Fenster aus die Mauer,
reden so, dass wir die Toten nicht wecken.
Lieben uns inmitten der Möbel
mit Körpern, die nicht Gegenteil des Raumes sind.
Petr Borkovec wurde 1970 in Louňovice pod Blaníkem in Mittelböhmen geboren und wohnt in Černošce bei Prag. Er ist Redakteur der Kulturrevue Souvislosti (Zusammenhänge) sowie der Literaturzeitschrift Literární noviny. Als literarischer Übersetzer widmete er sich vorwiegend der Übertragung russischer Poesie (u.a. von Z. Gippius, V. Chodasevič, G. Ivanov, V. Nabokov), übersetzt aber auch in Zusammenarbeit mit Philologen antike Dramen und koreanische Lyrik.
In den Neunziger Jahren veröffentlichte er fünf Gedichtbände: Prostírání do tichého (Ausbreitung ins Stille), 1990; Poustevna, věstírna, loutkárna (Eremitage, Orakelstätte, Puppenremise), 1991; Ochoz (Umgang), 1994; Mezi oknem, stolem a postelí (Zwischen Fenster, Tisch und Bett), 1996 und Polní práce (Feldarbeit), 1998. Für Ochoz wurde er 1995 mit dem Jiří-Orten-Preis ausgezeichnet.
Borkovec hatte sich schon in seinem Erstlingswerk mit einer prägnanten Metaphorik und Poetik vorgestellt, die er von einer Sammlung zur anderen konsequent weiterentwickelte. Nach wie vor aber lotet er in eigenwilligen Interieurs und in Landschaftsskizzen mit ganz konkreten Realitätsbezügen und biografischen Verhaftungen sensible Stimmungen aus und ortet atmosphärische Brüche, überhöht Banalitäten und Hässlichkeiten mittels der dichterischen Form zu geschliffenen Artefakten. Dem Verlangen nach innerer Befreiung und Harmonie steht der Ausdruck der Fremdheit und Unbehaustheit gegenüber, der unter anderem in Anspielungen auf die Lebenssituation und das Selbstgefühl emigrierter russischer Autoren verschlüsselt ist. Doch dienen diese intertextuellen Bezüge nicht nur der Entblößung des dichterischen Ich, sie schaffen einen Kontext, in dem der vordergründige Raum der Gedichte um einen imaginären erweitert und von diesem auch verfremdet wird.
Christa Rothmeier, Nachwort, Januar 2001
Feldarbeit ist eine Art Tagebuch aus der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre. Petr Borkovec dokumentiert darin eine privat bewegte Umbruchszeit und vermittelt Stimmungen aus einem nicht-touristischen, unmagischen Prag: dem Prag der Peripherie, anonymen Plattenbausiedlungen und dem desolaten Villenvorort Černošice, wo er wohnt… Mit Zärtlichkeit und Abstand zugleich erfasst er Lebenssedimente urbaner Zonen, wissend, dass der Körper „nicht Gegenteil des Raumes“ ist.
Edition Korrespondenzen, Ankündigung
– Lyrische Entdeckungen aus Ostmitteleuropa. –
Ein junger Prager Dichter von stiller Perfektion, ein wunderschön gemachtes Buch.
[…] Borkovec pflegt eine leise, strenge Diktion, die sich am Neoklassizismus eines Chodassewitsch und Brodsky orientiert. Seine kunstvoll gereimten Gedichte – häufig Sonette – gleichen Stillleben, prekären Momentaufnahmen, in denen sich Außen und Innen kurzschließen. Dabei entfaltet die Dingwelt einen seltsamen, mitunter metaphysisch-morbiden Zauber. Resopal und Beton, Altane, Gardinen und Zäune geben sich ein Stelldichein, die Espen sind „wie aus Alpaka“, die Styroporkrippe trostlos, die Schreibmaschine – „ein Aschenaltar“. „Vakats“ nennt Borkovec einen Gedichtzyklus, als wollte er das Geschriebene für nichtig erklären. Doch die Worte behaupten sich mit geballter Lakonie. […]
„Leicht ist die Lyra, ohne Gewicht“. Der erste Vers des schönen Lyrikbändchens könnte den Leser täuschen. „Schwer“ ist des Autors Lyra, schwerwiegend, bedeutsam, viel wiegt sie, immer mehr, je öfter man liest, unauslotbar (wie es sich gehört für große Dichtung).
Petr Borkovec, in Mittelböhmen geboren, in Prag tätig, ist erst etwas über dreißig, hat aber schon fünf Gedichtbände veröffentlicht. Der vorliegende Band versammelt Gedichte, die zwischen 1995 und 1998 entstanden sind, allesamt verlockend, verführend, zum Nach-fühlen, Nach-sinnen, Nach-denken, vor allem – zum Wiederlesen.
Besonders „gewichtig“ scheint mir der erste Teil, „Gedichte für Maria Cavina“: Das „nic“/ „nichts“ des ersten Verses kehrt leitmotivisch immer wieder: „Den ganzen Tag Regen und den ganzen Tag Wind,/ der um die überheizte Wohnung streift. Nichts zu tun. /… / Das Nichts bearbeiten…“; „… ich will nichts, nur schauen, schauen, schauen, / hingerissen…“; „Der Abend beutelte das Licht. Regen setzte ein. / … / Wir zündeten uns eine süße Zigarette an. / Liebste, es ist nichts. Nein. Was gibt es hier zu fürchten? / Wir umarmen uns. Schlendern dahin. Werden zusammen schlafen.“ usw.
Die Bedrohung durch das „Nichts“, die Vereinsamung, Vereinzelung, das Fremdwerden trotz aller Natur und Häuslichkeit, auch in der Zweisamkeit: „… / Der Wald wuchs nicht in mir in dieser verhangenen Nacht. // Als wir zurückkehrten und hinter den Wolken hervor / der Mond herausrann – schwer, süß, weiß –, / hob ich einen Ast hoch, du gingst hindurch, ich ließ ihn los. / Wir schritten dahin. Hielten uns. Allein. Aller Dinge bloß.“
Hervorzuheben ist auch die gediegene, schöne Gestaltung des zweisprachigen Bandes und vor allem die prägnante, völlig unprätentiöse Übertragung durch Christa Rothmeier. (Die geradezu raffinierte Einfachheit des tschechischen Textes – asyndetisch gereihte Wortgruppen, Hauptsätze dominieren- lädt nebenbei ein zur Auffrischung von Tschechischkenntnissen).
Das Literarische Kabinett hat sich – wie unsere Zuhörer wissen – schon immer auch der Lyrik gewidmet. Für alle Liebhaber von Gedichten, habe ich heute eine Entdeckung vorzustellen, die ich unlängst gemacht habe: es handelt sich um den jungen Verlag Korrespondenzen in Wien. Dieser österreichische Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, zeitgenössische europäische Lyrik zu publizieren. Unternehmerisch sicher ein gewagtes Unterfangen. Aufgefangen wird dieses Risiko aber durch eine große Portion Idealismus und eine treffsichere literarische Auswahl. Reizvoll an den wunderschönen, bibliophilen Ausgaben ist die Tatsache, dass alle Texte zweisprachig abgedruckt werden. Selten kommt man als Leser normalerweise in den Genuss, einen Blick auf das Original werfen zu können. Und auch wenn man des Tschechischen oder Polnischen nicht mächtig ist, gewährt dieser Einblick eine Ahnung von der klanglichen Schönheit des Ursprungstextes. Individuell wird der jeweilige Gedichtband auch durch den Abdruck einer handschriftlichen Manuskriptseite des jeweiligen Autors auf der ersten Seite. Es scheint dann fast so, als habe der Autor eine persönliche Widmung für den Leser hinterlassen.
Einer der Autoren, die der Wiener Verlag Korrespondenzen herausgibt, ist der Tscheche Petr Borkovec. Borkovec’ Gedichtband Feldarbeit ist – wie mir der Herausgeber Franz Hammerbacher berichtete – ein entscheidender Faktor gewesen, den Verlag Korrespondenzen überhaupt zu gründen. Borkovec ist ein junger Tscheche, in Mittelböhmen geboren, einunddreißig Jahre jung und wohnhaft in Prag. Nein, gemeint ist nicht das Prag der Touristen, die magische Altstadt, sondern das unspektakuläre Prag der Peripherie, das Prag der Plattenbausiedlungen mit Vorortkinos am Stadtrand und grauen Vorstadtzügen.
Der zweisprachige Gedichtband Feldarbeit ist eine Art Prager Tagebuch aus der zweiten Hälfte der neunziger Jahre.
Borkovec greift die ihn umgebende Realität nüchtern auf. In seiner Bearbeitung aber werden selbst die hässlichsten Details sprachlich geschliffen zu Schönheiten, ohne jedoch die Wirklichkeit zu überhöhen. Eine ungewöhnliche Metaphorik fällt auf und fesselt. Ich kann es nicht anders sagen, sie begleiten einen, auch wenn man das Buch längst geschlossen hat. Ein Gedicht beginnt so:
So früh schon Herbst. Unwetter. Regen.
Mit kleinen Strichen beginnt eine Situation vor dem geistigen Auge des Lesers zu entstehen: dann fährt Borkovec fort, spricht von „abgerackerten Sonnenblumenrücken“ auf den Feldern und „Striemen wilden Weins an den Katen“, das kurze Aufbäumen letzter Ahnungen vom Sommer, „ein minutenlanger August“ blitzt auf und dann klatscht der Regen, eine „Plache auf klitschnasser Pritsche“, lautmalerisch die letzten Assoziationen wieder fort.
Bemerkenswert auch die Farbgebung, über die Borkovec’ Gedichte verfügen: das Blindenweiß der Fensterrahmen, das sanfte Weihnachtsblau, krautgrün das Durcheinander von Soldaten, die teefarbene Sonne am Abend…
Dass ein fremdsprachiger Text im Deutschen noch so wirken kann, wie er wirkt, ist zweifelsfrei einer bravourösen Übersetzung zu danken. Selbst wenn einmal die strenge Form des Sonetts, die bei Borkovec mit einer unerhörten Leichtigkeit daherkommt, in der Übersetzung aufgegeben werden muss, büßt der Text dennoch nichts mehr von seiner Kraft ein. Großes Lob daher an die Übersetzerin Christa Rothmeier.
Borkovex, der Dichter und Übersetzer und Kulturredakteur, hat in Tschechien seit 1990 fünf Gedichtbände vorgelegt. Die tschechische Kritik bescheinigt ihm souveräne Handhabung tradierter dichterischer Mittel und gleichzeitig die frühe Entwicklung einer markanten eigenen Stimme. Man ist gespannt auf die nächsten Gedichtbände von Borkovec, die hoffentlich bald im deutschen Sprachraum folgen werden.
Bei der Herausgabe des Gedichtbandes Feldarbeit hatte der Verleger Franz Hammerbacher von Anfang an die Idee, dass er den Schauspieler Otto Sander für eine Lesung auf CD gewinnen müsse. Und dies ist ihm gelungen. Otto Sander hat nach Einblick in einige wenige Gedichte von Borkovec begeistert zugesagt, mehr noch, er kannte vier von ihnen bereits auswendig, als er zu Aufnahmen ins Studio kam. Diese CD mit Gedichten von Borkovec ist seit November – also ab sofort – über die Buchhandlungen zu erhalten. Sie sei wärmstens empfohlen.
Wir haben nun im Literarischen Kabinett das große Vergnügen und die Ehre, diese CD mit dem Schauspieler Otto Sander und zwei der Gedichte des Tschechen Petr Borkovec einspielen zu dürfen. Unser großer Dank dafür geht an dieser Stelle an den Verlag Korrespondenzen in Wien.
In Wien hat ein neuer kleiner Verlag eröffnet, mit engagierten jungen Männern und einem eher melancholischen Programm. Feldarbeit von dem 1970 in Mittelböhmen geborenen Lyriker Petr Borkovec gehört zu den ersten gediegen gestalteten Büchern des Verlags. Limitierte, nummerierte und signierte Auflagen von 500 bis 700 Exemplaren zumeist, immer mit schwarzem Lesebändchen und einem ebensolchen Deckblatt. Der Blick ist nach Osten gerichtet: Tschechien, Slowenien, Polen, Slowakei, Judith Herzberg aus den Niederlanden, Ilse Aichinger aus Österreich, ein länderübergreifendes Programm, mit Sorgfalt editiert, angemessener Preis.
Petr Borkovec schreibt in bester tschechischer Tradition. Gemäß dem vorangestellten Motto von Josif Brodskij:
Landschaften im Gedächtnis behalten
hinter Fenstern in den Zimmern
von Frauen
hinter Fenstern in den Wohnungen
Verwandter,
hinter Fenstern in den Arbeitsträumen
von Kollegen…
entstehen vor dem Leser Innenräume, selbst dann, wenn „Ein Turmfalke landet auf einem Föhrengipfel“.
Der Fensterrahmen umzäunt den Blick, und dieser ist gehalten durch den Raum, der den Blickenden umgibt und im schützenden Abstand hält. Es ist ein zärtlicher und ein melancholischer Blick. Und schaut man auf das dem Deutschen gegenüber gestellte tschechische Original, so sind die Endungen gereimt, nicht alle, aber viele. Auch sehen die Gedichte aus, wie klassische Gedichte eben aussehen. Nur der Inhalt ist heute, das heißt Verlust. In dem Zyklus „Gedichte für Maria Cavina“, die verfasst wurden zwischen September 1995 und September 1997, findet sich das Gedicht mit dem Titel „Daheim“, tschechisch „Doma“: Petr Borkovec wohnt offenbar in einem untouristischen etwas verkommenen desolaten Villenvorort von Prag, umgeben von uncharmanten Plattenbausiedlungen. Ein Blick aus dem Fenster:
Staub. In der Essnische der Duft von Kaffee,
(…)
Ein Abgrund. Unten brennt kaltes Licht
über jedem Geschäft. Ein bunter
Staubwirbel gleitet die abschüssige Straße hinab.
Die Düfte aus den Läden schaukeln wie Äste.
Eine Fleischerei. Textilien. Der Kanon
der Häuser an beiden Seiten ist längst überholt.
Fast kommt es einem Tagebuch der Blicke gleich. Und sieht es mal nach einer sinnlichen Berührung aus, wie im folgenden Text:
Das Licht klatscht aufs Gesicht
wie ein gelber Lappen vollgesaugt mit Wasser
und Pril
folgt zugleich der Rückzug ins Betrachten:
Ich lebe nicht, ich kreise über dem eigenen Sein,
sicher kein Engel, und auch nicht wie ein Vogel –
eine von überaus sorgfältiger Hand
aus bunten Fäden in die Luft gestickte Initiale.
Doch, wie hieß es vorhin? „Ich will nichts, nur schauen, schauen, schauen / hingerissen – doch wie ein Zuseher nur.“ Und gäbe es diese Blicke nicht… Vielleicht machen sie die Gegend erst bewohnbar. Die Gedichte sicherlich. Übersetzt hat sie Christa Rothmaier, die auch die Prosa des großen mährischen Dichters Jan Skácel ins Deutsche übertragen hat.
Schnee fällt, schwebt herab. Alle zwei Tage.
So still, so rhythmisch leben wir.
Das schreibt einer, und man meint, er lege einen aufs Zeitliche geeichten Seismografen in die Stille und in das Schweben, von denen er spricht nahezu in der Geste des Statuarischen oder im Nu des Entschwindens. In solchem Entschwinden gerinnen die Leichtigkeit und Beiläufigkeit eines Déjà-vu zu einem stillgewordenen Moment, in dem die Welt der Dinge allen Raum einer Innerlichkeit bietet, um sich dort anzusiedeln. Es ist „die Hecke, der nasse Schnee, die Gardinen/ an der Glastür auf den Balkon, / das nackte Gorgonenhaupt / am Marmorhimmel“, und es redet eine davon wie der Engel vom Klee, von dem Walter Benjamin schreibt, er sähe aus, „als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.“ Dass die Entfernung dann einher kommt mit der Distanz, welche jede allegorische Erstarrung wieder lösen müsste, lässt auf ein unmerkliches Ahnbares hören:
Ein ungewolltes Aufschimmern der Unterwelt,
ein blassblauer Seufzer der Erinnerung.
Petr Borkovec aus Prag ist ein Lyriker, dessen Klang allmählich und leise hervorbringt, was sich zwischen Annäherung und Entfernung, zwischen Innen und Außen, zwischen Verschweigen und Benennen ansiedelt. Er müsste dem Diktum des Jazzpianisten Thelonius Monk folgen, der meint, das Wichtigste sei, was man nicht spiele, also beinahe das Ausgesparte, das, was besagt oder bespielt wird, indem man es nur aus der Umzäunung bemisst. Am 8. Juni wurde Borkovec in der Secession Lana der N.C. Kaser-Preis verliehen, am 22. Juni wird er in München den Hermann-Lenz-Preis entgegennehmen. Der Kaser-Lyrikpreis, der von den Stiftern Markus Vallaza und Paul Flora überreicht wurde und von einer ergreifenden Laudation von Michael Donhauser begleitet war, ehrte nun einen jungen Dichter, der sich einer lautlosen Aufmerksamkeit, einer gebannten Flüchtigkeit entlang schreibt, von der man fast meinen könnte, sie gehöre keiner Verlässlichkeit zu, gäbe es nicht einen gezielten Willen, der gerade das Flüchtige und jedes Verscheiden vertraut den bewohnten Dingen an die Seite stellt wie der Melancholiker des 19. Jahrhunderts.
Lautlose Stille,
brockiger Schnee –
im Bug der Schleife sich türmend.
kein Rhythmus, kein Druck, kein scharfes Motiv.
Nur das Braungrün der eigenen Augen,
so oft erforscht, so vertraut.
Es spielt das Zeitliche in die Lyrik Borkovecs hinein und bestimmt als ein leiser Rhythmus auch die Räume, die der Dichter bewohnt, betritt, wieder verlässt oder gerade als Schauplätze und Orte benutzt, in denen sich nichts zu ereignen hat als ein absichtsloses Schauen und ein Bedenken, welches der Wirklichkeit entlang lauscht, um ihr alle Bestände und Intensitäten lyrischen Sprechens abzutrotzen. Es ist vom frühen Herbst die Rede, vom „minutenlangen August“, „über Nacht war der Oktober niedergesunken auf den Perron“, jemand „schreitet um den Aprilmorgen / wie um ein Bett herum“ und immer wieder legt sich eine Jahres- oder Tageszeit als Wechsel einer Dauer nieder, die letztlich im Aufzählen, im Erzählen eines wunden immergleichen wirksam wird. „So hat / die dunkelbraune Zeit lange den Raum geduldet. / So wie das Meer den Strand erduldet…“ Und so wie die Zeitlichkeit en passant, und doch eben in der Notwendigkeit der Dinge, die sie streift, durch die erzählte Wirklichkeit und das Epische der Texte zieht, gewinnen auch die Räume und Orte eine Dimension des kurzen Innewohnens, der vorübergehenden Annäherung eines Ichs, das sich schließlich gewiss zu werden versucht in der Anteilnahme durch die Sprache. Es ist beinahe der Gestus des Flaneurs, des streunenden oder schlaflosen Vagabunden, der in der Lyrik Borkovecs die Dinge und Anteile einer fragil erscheinenden Welt beschaut und sie, aufgeschreckt oder sich ihnen angleichend, stabil werden lässt im Raum der Worte. „Hinter dem Fenster Prärie. Beinharter Sonnenschein. / Ein neues Daheim. Neue Gleichgültigkeit. // Augen und weiße Untermiete/ belauern wir einander. […] Ich schlafe hier ein Ornament unter Ornamenten. // Dämmerungen der Prärie, eine, zwei, unendliche.“
Und vielleicht ist es auch – auch nur in der still gewordenen Gelassenheit gegen eine Haltlosigkeit, die „aller Dinge bloß“ ist, – der Müßiggang des Flaneurs, der sich an die Dinge verliert, sich in ihrer Bedeutungslosigkeit verfängt als in einem Ineinanderwirken von Nichtstun und dem des Nichts Tun. „Was wir tun? Wir befassen uns mit dem Raum, / schweigen, lassen die Toten schlafen. / Schneiden die Bäume, umfrieden den Kompost, / kippen gefangene Mäuse aus der Falle. […] Lieben uns inmitten der Möbel / mit Körpern, die nicht das Gegenteil des Raumes sind.“
Fast möchte man meinen, hier schreibt einer um Begegnungen, die keinen Verlass und keine Gewähr bieten, die alle um ein stilles Innehalten kreisen, ohne einen bewohnbaren Raum anzuzeigen. „Worauf verlässt du dich? Aufs kalte Blut des Fensters? // Selbst dieses gibt es nicht.“ Doch wirkt in den Gedichten Borkovecs die Verlässlichkeit der lyrischen Sprache, welche die Bilder und Räume, die sie aufsucht, fast zärtlich einer eigenen, inneren Welt zuordnet.
Den ganzen Tag Regen und den ganzen Tag Wind,
der um die überheizte Wohnung streift. Nichts zu tun.
Wie einen Bissen im Mund die Bücher im Regal
umdrehen mit den Augen, die Landkarte der feuchten Wände.
Das Nichts bearbeiten und seinen feinen Stil.
Eine Marmorknospe, kaum aufgebrochen,
in den Wellen durchnässter Rasenflächen.
Regen. Die Überschwemmung badet sich.
Den ganzen Tag Regen. Strand, Wals und Gestalt,
Haus, Türfüllung und Fensterbretter
von genauen, regelmässigen Meisseln bearbeitet.
Aus dem Regen eine Stimme, die hinter der Mauer schimpft.
Und das Wasser rinnt vom braungebrannten Rücken,
im Sand liegt ein geblümtes Kleid.
Es waren nicht meine eigenen Worte, die mich über die letzte Regenzeit zu Hause hinweggetröstet haben, nicht die meiner Freunde, mit denen ich gemeinsam am Fenster saß und hinausstarrte.
Ich wusste mir schon nicht mehr zu helfen, immer frierend und nach dem Winter schnell feucht bis auf die Knochen beim Holzholen im Schuppen. Trübsinnig trank ich Kaffee und strich an den Büchern vorbei, ohne aus der bunten Klaviatur an den drei Wänden auch nur eines hervorzuziehen.
Es war dieses Gedicht von Petr Borkovec aus dem Band Feldarbeit, der nun in Deutsch, d.h. zweisprachig erschienen ist, mit der ich die Regenzeit gut überstand.
Manchmal sind es fremde Augen, welche die Dinge im eigenen Raum wieder beleben. Ein Blick ist zu Gast, und man führt ihn herum, stolz auf das Besondere im Gewohnten.
Regen. Den ganzen Tag, und vor mir mein Tisch, vom unsorgfältigen Brotschneiden gekerbt, die Lampe vom Flohmarkt, die schon seit einem Jahr flackert. Rechnungen. Hinter meinem Rücken gurrt der Kühlschrank, schnarrt und schnurrt wie ein Tier, der Wasserhahn tropft, der Nachbar lässt sich ein Bad ein. Der Postbote kommt heute zu spät. – Rechnungen.
Regen. Wieder den ganzen Tag, und ich hör ihm zu bei der Feldarbeit, die er seit Wochen tut. Die Setzlinge auf den Feldern stehen im Wasser, ertrinken, strecken gelbe Fühler in die Luft. Enten landen in den flachen Seen. Es zu sehen und es niemanden wissen lassen zu wollen, macht den Alltag noch nicht poetisch, aber erträglich und manchmal auch schön.
Petr Borkovec wurde 1970 im Mittelböhmen geboren und wohnt heute bei Prag. Er ist Redakteur der Kulturzeitschrift Souvislosti (Zusammenhänge) sowie der Literaturzeitschrift Líterárni noviny. Als literarischer Übersetzer widmete er sich vorwiegend der Übertragung russischer Poesie (u.a. von Z. Gippius, V. Chodasevic, G. Ivanov, V. Nabokov), übersetzt aber auch in Zusammenhang mit Philologen antike Dramen und koreanische Lyrik (Christa Rothmeier, Übersetzerin). In Tschechien gehört Petr Borkovec seit seinem ersten Lyrikband zu den bekanntesten zeitgenössischen Lyrikern. Er veröffentlichte bereits fünf Bücher, das erste im Alter von zwanzig Jahren.
Diese äußerst sorgfältige Ausgabe, auch in ihren Anmerkungen, stammt von einem jungen Wiener Verlag aus dem 9. Bezirk. Büttenpapier, mit Lesebändchen, handsigniert, in limitierter Ausgabe, wie übrigens jedes Buch des Verlages Edition Korrespondenzen. Es lohnt sich, beim ganzen Programm zu verweilen.
Der jüngste Gedichtband des 1970 geborenen tschechischen Dichters Petr Borkovec, Feldarbeit, verdankt seinen Namen einem Skizzenbuch des französischen Impressionisten Camille Pissarro. Die detaillierten Zeichnungen von Bauern, ihren Gerätschaften – da habe er Analogien entdeckt. „Dieser Band ist ja auch sehr visuell“, erzählte Borkovec am Donnerstag in der Buchhandlung Lesezeichen, wo er daraus und auch aus neuen, noch nicht ins Deutsche übertragenen Gedichten las. Ein weiteres Mal zu Gast in Dresden, nach seiner Poetik-Vorlesung im Frühsommer.
Die Dresdner Bohemistin Jana Kubista, die neben ihm an dem kleinen runden Lesetisch mit der darüber hängenden nackten Glühbirne saß, trug nicht nur die Übersetzungen vor und dolmetschte, sie konnte die Zuhörer auch zu Lebens- und Schreib-Umständen des Autors hinführen und wichtige Hintergründe zu seinen Versen darlegen. An den Wänden die Arbeiten aus Papier von Petra Schulze zu Gedichten von Borkovec, rhythmisch bewegte Miniaturen darunter. Schließlich Katrin Meingast, die mit ihren Cello-Improvisationen unmittelbar auf das Gelesene reagierte. Ein Zusammenspiel, das diesen Abend zu einer rundum gelungenen Inszenierung machte.
Feldarbeit – dieser Titel sei auch ein wenig Provokation, erläuterte Borkovec. Weil ja nicht er sich die Hände schmutzig mache, sondern andere dabei beobachte. „Ich bin kein Salon-Revolutionär, sondern ein Salon-Landwirt“, fügte er scherzhaft hinzu.
Borkovec’ Gedichte schweben nicht frei im Raum, sie sind in der Gegend angesiedelt, wo er wohnt: Cernosice, ein etwas heruntergekommener Villen-Vorort, 20 Kilometer von der tschechischen Hauptstadt entfernt – das „nicht-touristische, nicht-magische Prag“ (Kubista). Einen Ort, wo Jugendstilornamente abbröckeln, macht Borkovec zur poetischen Provinz.
Er hat eine Art lyrisches Tagebuch der 90er Jahre geschrieben. Einfühlsam beobachtete Details verknüpft er miteinander, gewinnt alltäglichen Dingen, dem Vorortzug 005 zum Beispiel, eine metaphorische Dimension ab, assoziiert überraschende Verbindungen, hier etwa: die zwischen dem Blau des Zuges, dem Fluss und dem Himmel. Es ist, als schlösse er mit seiner Gabe, durch die Dinge hindurch, unter ihre Oberfläche zu sehen, die Vorstadt, dieses traurige Schmuddelkind, in die Arme.
Mag sein, dass ihm hier die Zeichen vergehender Zeit so deutlich wie kaum anderswo begegnen. Immer findet sich in den Gedichten beispielsweise Staub. Dabei wird nichts zur Idylle geschönt, Schmutz begegnet einem, was nicht schon abgestorben ist, scheint eben dabei zu sein. Die einstigen Konturen verlieren sich. Doch Borkovec holt das ins Gedicht, ordnet es in diese strengen Formen, die er bevorzugt, hebt es so auf.
In einem der Gedichte aus dem Band needle-book (Nadelbuch), der im kommenden Jahr auf Deutsch erscheinen soll, ist von einem weggeworfenen, nassen Stück Papier die Rede, das einer aufhebt. Unbrauchbar Gewordenes, Vergängliches im Beschreiben zu bewahren – darin sieht Borkovec sein künstlerisches Credo.
Besuchen wir als Erstes Petr Borkovec, der in seinem Gedicht „Hand, Himmel, Treppe“ ganz deutlich Innen- und Außenraum in Bezug setzt.
Endloser Wechsel von Fenstern und Spülen, goldener Fenster und silberner Spülen, die Augen am Glas, die Hand unter dem Wasser. Hier haben die Dächer keinen Feind; Jetzt am Abend, wenn sie faul in den Sonnenstreifen Ihren Fang vom Nachmittag verdauen, verschnaufen Portale, Gesimse, Fenster und Treppen, schwärmen aus zu ihrer Mäusearbeit, bewahren flink und genau ihr Geschlecht. Und die Turmfalken ringsum versuchen sich zweistimmig, kommen über die erste Strophe nicht hinaus. Die Hand im heißen Wasser schwillt an und wird weich, so wie der Himmel kurz darauf. Sie hörten ein Gedicht aus dem Band Polní Prace (Feldarbeit) von Petr Borkovec. Für diesen Band, der vor zwei Jahren in der deutschen Übersetzung in der Edition Korrespondenzen erschien, erhielt er den Hubert-Burda-Preis und den Norbert-C.-Kaser Preis. Zu diesem Buch interviewte ich Petr Borkovec und seine Übersetzerin Christa Rothmeier. Zunächst interessierten mich die Haupt-Themen des vorliegenden Buches:
Zwei Hauptmotive kann man aber schon feststellen. Eines ist das eheliche Zusammenleben am Rande der Stadt. Diese Peripherie oder dieser Stadtrand hat aber einen besonderen Charakter, denn dieses Cernosice, wo ich wohne, ist ein berühmter Villenvorort. Aber nach dem Krieg ist er sehr herunter gekommen. Das war formal bestimmend, nämlich für die Form dieser fragmentarisierten Sonette. Das zweite Hauptmotiv ist ein Zyklus von Zimmergedichten, wo die Dinge registriert werden.
Borkovec versteht sein Handwerk und wendet mit Vorliebe tradierte dichterische Formen wie das Sonnett an, was aber mit pointiert eigener Stimme geschieht. Er begreift seine Gedichtbände als Zyklus, der innerhalb eines längeren Zeitraumes entstanden ist. Was ist nun die Hauptmotivation dieser Gedichte generell?
Die Hauptinspiration, warum er das geschrieben hat, war, dass die Generation vor der Generation seiner Eltern weggegangen ist, nämlich durch den Tod verschwunden ist und damit sind ihm diese Räume abhanden gekommen. Und dieser Zyklus bewahrt diese Räume und ist gleichzeitig ein Zeugnis von der Bemühung, wie man so etwas künstlerisch aufbewahren kann.
Zu diesen bewahrenswerten Räumen gehört vor allem das Dorf Lounovice pod Blaníkem in Mittelböhmen, in dem er 1970 geboren wurde. Inzwischen lebt er in Cernosice am Stadtrand von Prag. Petr Borkovec arbeitet als Dichter, Übersetzer und Kulturredakteur. Von ihm erschienen bereits fünf Gedichtbände, der sechste ist in Vorbereitung. Für Ochoz, sein 1994 in Tschechisch erschienenes Buch erhielt er den Jiri-Orten-Preis. Auf Deutsch erschienen die Auswahlbände Aus drei Büchern (1995) und Überfuhr (1996) in der österreichischen Edition Tannhäuser und der neue Band Feldarbeit in der Edition Korrespondenzen.
– gehalten am 7. Juni 2002 an lässlich der Verleihung des Norbert C. Kaser-Preises. –
Das Nichtstun, das Nurlesen, denn: Mit dem Baden ist schon Schluss. – ist immer schon Schluss, denn das Baden, es wäre das Leben, welches das Lesen begleitete: begleitet hat in einer Zeit, wo mit dem Baden noch nicht Schluss war – doch jene verlorene Zeit, sie wird hier nicht wieder gefunden, nur das Lesen bleibt, das Lesen als Tatenlosigkeit oder die Tatenlosigkeit als Lesen: das Baden aber, es wäre wohl auch nicht jene Tat, die dem Nichtstun gleichsam gegenüberstünde, eher ist das Baden auch eine Form der Tatenlosigkeit, vielleicht die erste, mit der da nun aber schon Schluss ist, so dass nur die zweite, das Lesen, bleibt – doch ist das Baden ein Nichtstun, das als Vereinigung mit dem Wasser Fülle des Lebens verspricht und ist, Badende sind Begnadete, und also kann es mit den Lesenden nicht viel anders sein, ist auch das Lesen ein Baden, ein Teilhaben an der Fülle in der Tatenlosigkeit: so nun ist es um dieses Nichtstun bestellt, hier, in den Gedichten von Petr Borkovec, es ist ein Nichtstun als Teilhaben, als Antworten, weniger auf die Frage, wer da spreche oder einen hörte, eher auf die Frage, Was tun Sie?, wenn auch die Frage gleichsam rhetorisch gestellt ist und der Fragende dann von seinem eigenen Tun berichtet – das Gedicht, von dem ich nun schon eine Weile spreche, ist, in der Übersetzung von Christa Rothmeier, dieses:
BUNIN AN BERBEROVA, 23. SEPTEMBER 1941
Was tun Sie? Ich nichts.
Ich lese nur – das ist alles.
Mit dem Baden ist schon Schluss.
– das ist alles. heißt es da, so dass ich mich frage, was an jenem 23. September 1941 wohl sonst geschah – von meiner Nichte erfahre ich, per SMS: AM 22.5.1941 BRACH DEUTSCHE KRIEGSMASCHINERIE IN UDSSR EIN, OHNE KRIEGSERKLÄRUNG! Und, nachdem ich ihr, wiederum per SMS, das Gedicht geschickt habe, schreibt sie: IM HERBST 1941 WAREN DEUTSCHEN VOR MOSKAU… ICH LASSE ELLIPSEN, PARABELN ROTIEREN UND SCHREIBE IHNEN KEGEL EIN… (Dabei hatte ich sie, meine Nichte, nicht gefragt, was sie tue.)
Ein anderes Gedicht stellt noch einmal, doch anders, die Frage, jene, diese, indem es beginnt: Was wir tun? – es ist wieder September, 56 Jahre später, und die Antwort auf die Frage spricht wieder von einer Teilhabe, einem Baden als Wechseln zwischen Innen und Außen, Außen und Innen, das ist das Tun, von dem das Gedicht erzählt, das ist auch, was das Gedicht tut, es wechselt, ist Sprache, ist Datum, Tagebucheintragung und Vers, doch als Vers fast ungewunden, unumwunden sagt da Vers um Vers Tat für Tat: doch es ist Schattenarbeit, was sich da als Taten aneinander reiht, es ist nahe dem Nichtstun, dieses Tun wie auch das Lassen, wir schweigen, lassen die Toten schlafen. – heißt es, gleich im zweiten Vers, und gegen Ende variiert das Gedicht dieses Schweigen zu einem Reden, einem leisen wohl, wenn es nahezu wiederholend sagt: reden so, dass wir die Toten nicht wecken. Die beiden letzten Verse dann sind die ersten dieses Gedichts, die durch kein Satzzeichen getrennt sind, und es wird in diesem Zeilenpaar auch wirklich von etwas Ungegenteiligem gesprochen, von etwas Ungetrenntem, von einem Inmitten und von Körpern, womit zwei sich lieben – das Gedicht nun, das so Antwort auf die Frage ist, welche es sich stellt, lautet:
Was wir tun? Wir befassen uns mit dem Raum,
schweigen, lassen die Toten schlafen.
Schneiden die Bäume, umfrieden den Kompost,
kippen gefangene Mäuse aus der Falle.
Das Abendessen tragen wir uns in den Garten hinaus,
ins Zimmer herein nehmen wir Reisigzweige.
Gelb geben wir sie dem Gartenfeuer zurück,
der süße Rauch wälzt sich durch die Kleiderschränke.
Dem Abend zu beobachten wir vom Fenster aus die Mauer,
reden so, dass wir die Toten nicht wecken.
Lieben uns inmitten der Möbel
mit Körpern, die nicht Gegenteil des Raumes sind.
28.9.1997
Was so gelingt, gleicht vielleicht diesem, jenem Akt inmitten der Möbel, es ist ein Reden, das nicht verschweigt, doch schweigt, das sich nicht entgegensetzt, eher einlässt und anverwandelt wird von der Umgebung, die es hervorbringt, von der es hervorgebracht wird – es ist nicht Hassliebe: was hier als Haltung nahezu gepflegt wird, durch die Sprache, ist komplexer, verbindet Prosaisches und Verbildlichung, Distanz und Teilhabe und Trauer – diese Haltung ist vom Geschehenen tiefer geprägt als all jenes tätige Nennen, Wecken der Toten: lobenswerte Dichtung ist komplex, ist gewachsen aus Widersprüchlichem und widerspricht so der Tendenz, nur Widerspruch zu sein, so sehr sie auch Widerspruch ist.
Die bei den Gedichte, von denen ich bis anhin gesprochen habe, sind dem Band Feldarbeit entnommen, der 2001 in der Edition Korrespondenzen erschienen ist – im Folgenden nun möchte ich auf ein Gedicht eingehen, das ich dem Band Aus drei Büchern entnehme, welcher 1995 als RanitzDrucke Nr. 1 in der Buchwerkstatt Thanhäuser von Ludwig Hartinger herausgegeben wurde – die Übersetzung besorgte wiederum Christa Rothmeier.
In den früheren Gedichten von Petr Borkovec, soweit ich sie aus dieser Veröffentlichung kenne, stellt sich die Frage nach dem Tun noch nicht in der Weise, wie sie, auch unausgesprochen, die Gedichte von Feldarbeit bestimmt – und doch ist es auch da schon zu finden, jenes Tun, und ist ein ähnliches, ein nahezu Nichtstun: es sind dies schon die Gänge und Handgriffe, welche dann immer wieder das Szenarium der Gedichte bilden – und so lauten die letzten beiden Verse des Gedichts 5.XI. aus den RanitzDrucken:
Viel bleibt nicht zu tun – an den Zaun treten,
das Wasser wegstellen, im Finstern bleiben. Fünfter November.
Das sind nun aber kaum Gänge, eher nur kleine Bewegungen im privaten Raum, die zu tun bleiben, also ein An-den-Zaun-Treten, und der Zaun ist die Grenze wie später dann immer wieder das Fenster: diese Grenzen sind gleichsam die innigsten Orte der Tatenlosigkeit – was da so zu tun bleibt, ist nicht das Ergebnis als der Rest, der bleibt, zu tun, nach einem tatenreichen Leben: denn es gibt die aventuire nicht und auch nicht die Heimkehr, denn der da eingetreten ist, ist nicht ausgegangen, und für ihn gibt es auch kein Treffen mehr, keine tjost, und keinen Einzelnen, den er träfe, nur alle, die er sieht – das sagen die beiden Verse, die dem zitierten Gedichtende vorausgehen und mit diesem eine Strophe bilden, sie lauten:
Abend, eine Stimme: – Ohne ausgegangen zu sein, tratst du ein.
Jetzt triffst du keinen mehr, wirst aber alle sehen.
Das Sehen aber ist, dem Stehen entsprechend, am Fenster, die innigste Form der Tatenlosigkeit in all den Gedichten, die dann folgen werden, als Feldarbeit: und so ist dieses Gedicht gleichsam axiomatisch, nicht programmatisch, denn die Dichtung von Petr Borkovec ist keine programmatische Dichtung, auch wenn sie von einem Axiom als einer Annahme ausgeht, einer Annahme nämlich in genau jenem doppelten Sinn, der diesem Wort im Deutschen eigen ist – es ist eine Annahme als ein unabgeleiteter Grundsatz und ist eine Annahme als ein Einwilligen darin, dass viel zu tun nicht bleibt: denn das Ich, das hier als Du angesprochen wird, es bleibt im Finstern, und das bleibt ihm, nebst den Handgriffen in Haus oder Garten, nebst dem Wegstellen des Wassers, zu tun, mehr nicht. Nun aber möchte ich auch die erste Strophe des Gedichts „5.XI.“ einbeziehen in die Betrachtungen, auf welche sich mein Lob des Dichters einstweilen beschränkt, und so sei an dieser Stelle das Gedicht als Ganzes zitiert:
5. XI.
Schon Spätherbst. Abend, Bäume im Garten –
das Fenster voll schwarzer Gesten. Beredter.
Die abgezehrten Züge der Felder. Schlaff hängt der Horizont
von den ausgehungerten Stangen der Wege. Schon Spätherbst.
Abend, eine Stimme: – Ohne ausgegangen zu sein, tratst du ein.
Jetzt triffst du keinen mehr, wirst aber alle sehen. –
Viel bleibt nicht zu tun – an den Zaun treten,
das Wasser wegstellen, im Finstern bleiben. Fünfter November.
Schon Spätherbst. heißt es, und es ist dieses frühe Spätgewordensein ein Synonym für das Wenige, was zu tun bleibt – es gibt da eine Art Demut der Wahrnehmung, eine Demut, nicht Mutlosigkeit, und es ist also dieses Sehen und Schreiben nicht gerichtet, selbst nicht gegen das Großspurige oder Überholspurige: es ist, da es ist, wie es ist, Kritik, ohne zu kritisieren – die erste Strophe, sie realisiert den Fensterblick, den ich als Konstitutivum der Gedichte von Petr Borkovec schon erwähnte: was dort aber als Bestandesaufnahme beginnt, Abend, Bäume im Garten –, wird nicht zur Metapher, sondern erfährt eher eine Metamorphose, denn was da gleichsam Skizze ist, wird in der zweiten Zeile Bühne, füllt sich mit Gesten, beredten – ich deute diese schwarzen Gesten als Geäst, als das dunkle Geäst der Gartenbäume vor dem abendlichen Himmel: doch ob man nun dieser Deutung folgt oder nicht, wesentlich ist, dass die Gesten bei aller Beredtheit stumm bleiben, dass das Bild stumm bleibt, auch in der Folge, wo der Blick sich weitet oder weitergeht hin zum Horizont, der schlaff hängt, ohne dass er verglichen würde, mit einem Feston, einer Girlande aus Blumen und Blättern und Früchten, die lange schon ihre Pracht verloren hätte – doch, zurück, das Stumme oder Stummfilmhafte, es ist noch ein Grundzug der Dichtung von Petr Borkovec, der in diesem Gedicht gleichsam vorweggenommen wird: die poetische Poesie, die sprechende Rede, sie weicht dem Poetisch-Apoetischen, der stummen Beredtheit – und anstatt Keats / Buster Keaton. heißt es später dann, in einem mit „Weihnachten“ 1995 datierten Gedicht. Schon Spätherbst. – die erste Strophe aber dieses Gedichts kehrt am Ende zu ihrem Anfang zurück, so wie das Gedicht als Ganzes mit seinem Ende zu dem Titel zurückkehrt, nichts ist geschehen, nichts getan, nur eines: das Datum in Zahlen, der Titel, „5.XI.“, wird am Ende in das Datum in Worten übersetzt, Fünfter November – mehr ist nicht zu tun, denn der Tag als Datum hat durch die Worte eine sinnliche Gewissheit erlangt, auf die dann wieder, später, so wenig Verlass ist wie vielleicht auf die unberedte Zahl: Worauf verlässt du dich? Aufs kalte Blut des Fensters? / Selbst dieses gibt es nicht. – heißt es, noch einmal, in einem mit Herbst 1997 datierten Gedicht.
Ich habe hier nun von einigen Gedichten gesprochen, habe von ihnen so gesprochen, als wären sie in der deutschen Sprache geschrieben – dass dies möglich war, dass ich von diesen Gedichten sprechen konnte, ohne Abstriche, als wären es deutsche Gedichte, ist das Verdienst der Übersetzerin Christa Rothmeier, die sich für eine Übersetzbarkeit der Gedichte entschieden hat, also für eine Sprache, welche nahe bleibt, den tschechischen Gedichten, und welche eine Eigenständigkeit als Klanglichkeit entwickelt, prosaisch genug, poetisch genug, so dass sich Klang und Prosa da in sonderbarer Schönheit vereinen.
Etwas Unbehaustes gibt es bei Petr Borkovec, so sehr sich seine Gedichte auch mit dem Raum befassen, mit dem Haus, der Wohnung, dem Zimmer, der Küche, dem Garten, der Umgebung: eben dieses Unbehauste habe ich beim Wiederlesen in den Gedichten von Norbert C. Kaser gefunden, dort dann öfter auf abstraktere Räume bezogen, auf das Land, die Kultur, die Religion, die Dichtung – doch gibt es auch bei Norbert C. Kaser Gedichte, wo das Unbehauste sehr konkret wird, so zum Beispiel wenn der Dichter wohl mit Grund gezwungen ist, in einem Schuppen zu nächtigen, wie im folgenden Gedicht:
auf schneestangen
geschlafen
die harten runden knuettel
haben meinen leib
muerbe gemacht
vor dem schuppen
wartet ein lichter
schweizer morgen
auf schneestangen beginnt das Gedicht, und wer nur diesen Vers liest und die Bergwelt kennt, erwartet wohl, als zweiten Vers: sitzt in Hauben der Schnee – erwartet das Winterbild, das vertraute, doch mit dem Wort geschlafen, das dann folgt, wird das Bild ein völlig anderes: die ausgehungerten Stangen der Wege, wie sie bei Petr Borkovec heißen, werden hier zum Ruhelager, die harten runden knuettel, wie Norbert C. Kaser sie im dritten Vers nennt – von knuettel gibt es eine klangliche Brücke zu muerbe, und das Gedicht sagt es auch, dass da einer, mein leib, gleichsam geprügelt wurde im Schlaf, als wäre der Schlaf der Sack gewesen, aus dem die knuettel auf ihn losgelassen wurden: das Bild gibt, vielleicht auch selbstironisch, genau jenes Erwachen wieder, von dem es heißt, dass man wie geprügelt aufgewacht sei, nur setzt es diese Redeweise oder seine Symbolik in eine Bildlichkeit um, die nahezu unsymbolisch von einer Nacht auf einem Haufen Schneestangen spricht – doch was dann folgt, als zweite Strophe, überrascht noch einmal, denn es ist nicht die Reue, also dass da der Abend bereut würde, der jenes Ich dazu zwang, die Nacht auf Schneestangen zuzubringen: die Wendung, die das Gedicht vielmehr nimmt, ist hier, im Rahmen der Laudatio für Petr Borkovec, eine, welche die beiden Dichter in eine Nähe zueinander bringt und dies insofern, als eben jene zweite Strophe zwar nicht den Fensterblick, wohl aber den Blick durch die Schuppentür oder auch nur durch die Ritzen zwischen den Balken umsetzt, sich also an ein Draußen wendet – hell ist der Morgen und überwältigend wohl ist das Blau seines Himmels, doch bei Norbert C. Kaser bleibt das Draußen draußen, wartet, wie es heißt, und wird, so licht wie aufgeräumt, ein schweizer morgen genannt: da kommt nichts Versöhnliches auf, das Verhältnis von Innen und Außen bleibt eines der Fremdheit oder Gleichgültigkeit, deutlicher noch im nächsten Gedicht der Ausgabe mit dem Titel EINGEKLEMMT, welche Hans Haider 1979 für den Hannibal Verlag besorgte – jenes Gedicht lautet:
BESCHNEITES LAND
die fueße sind mir
nicht mehr warm
die großen flocken
verderben in der kneipe
nur laerm der scopaspieler
ist der stille draußen
gleich & das trocknen
meiner fueße
Da gibt es keinen Wechsel als Tausch zwischen Innen und Außen, die Schneeflocken verderben in der Kneipe und der Lärm der Spieler ist der Stille draußen gleichgültig: von diesem Verhältnis der Gleichgültigkeit ist auch er nicht ausgenommen, der Dichter oder das Trocknen seiner Füße, obgleich er es ist, der den Weg, diesmal von Draußen nach Drinnen, gegangen ist und das Verhältnis zwischen beiden so gleichsam hergestellt hat – doch Draußen bleibt draußen, auch hier, wo die Schneelandschaft nur außerhalb des Gedichts, nämlich in seinem Titel als beschneites land Aufnahme findet.
Doch zurück. noch einmal, zum Schlaf – setzt Norbert C. Kaser mit seinem Gedicht auf schneestangen die Tradition des Morgengedichts fort, wenn auch nicht als Ausdruck des Schmerzes über die morgendliche Trennung von der Geliebten, so schreibt Petr Borkovec ein Gedicht, wohin sich das Ich und die Umgebung ähnlich gleichgültig sind wie bei Norbert C. Kaser, nur dass dort der Schlaf am anderen Ende der Nacht, an ihrem Anfang, dem Abend, als Einschlafen eine Vermengung mit sich bringt, welche den Gegensatz von Ich und Umgebung gleichsam ungegenständlich macht jenes Gedicht ist dieses:
Hinter dem Fenster Prärie. Beinharter Sonnenschein.
Ein neues Daheim. Neue Gleichgültigkeit.
Augen und weiße Untermiete
belauern wir einander.
Der Klang der Spülung in der Wand, hinter der Kiefernverkleidung.
Und in mir regt sich nichts.
Milchglasscheiben in der Tür, Einbauschränke –
die neuen Worte stecke ich im Flur
an den Spiegel, neben die Ansichtskarten vom Meer.
Und nichts:
nur die schwere Bettdecke mit kompliziertem Dekor
verfließt mit meinem eigenen stillen Trotz.
Ich schlafe hier ein. Ornament unter Ornamenten.
Dämmerungen der Prärie, eine, zwei, unendliche.
Herbst 1996
Der eigene stille Trotz, er geht hier mit der schweren Bettdecke eine Symbiose ein, während Norbert C. Kasers Trotz in dem Erwachen als Geprügelter gleichsam Nahrung findet – doch es geht nun auch nicht darum, die bei den Dichter in ihrer Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit unter eine Wolldecke zu stecken, wie es im Schweizerischen heißt: beide haben ihre je eigene Größe, so dass ich denke, dass der Preis in Erinnerung an den einen mit Ehre in die Hände des anderen gelegt werden kann.
Herzlichen Dank.
Michael Donhauser, manuskripte, Heft 162, 2003
Petr Borkovec liest „Lido di Dante“
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