TOD DER DICHTER
Was, wenn wir trinken
Die Sterne
Oben
Fühln sie?
Eine Gasmasse
Lacht nicht, zerläuft ein Planet
Noch brüllt sie. Wir
Üben uns, leisezusprechen
Gradstehn gradstehn
Und altern
Stolz
Steinernen Gesichts
Nur das Herz schneller
Januar/März 1977
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Freiheit Akribisch
Alle Kunst ist Mitteilung an andere.
Das Material der Kunst ist die Welt.
(Rainer Kirsch)
„Daß einer um sich blickt, gilt als vom Übel“. Dieser Vers eröffnet das Sonett „Ende der Geschichte“. Rainer Kirsch hat es 2002 geschrieben. Es ist eines seiner letzten Gedichte, ein sarkastischer Abgesang an das, was ihm zeitlebens als poetisches Wertmaß galt: Weltbezug, Handwerksernst, Vernunft, Frohmut, Genussfähigkeit und Sinn für das Schöne. Kirsch resümiert: Blind dem Zeitgeist in den schöpferischen und politischen Abgrund folgend, werden aus Künstlern oberflächliche, Ich-bezogene, mark- und modekompatible Kreative.
Kirschs Unmut erwirkt sein Recht aus Erfahrungen. Als Vertreter jener Literatur, die in der Deutschen Demokratischen Republik weder staatsdevot noch radikaloppositionell war, hatte er beträchtlichen Publikumserfolg.
In den 1950er Jahren studierte Rainer Kirsch in Halle und Jena Geschichte und Philosophie. Von 1963 bis 1965 besuchte er das Literaturinstitut Leipzig. Eingebunden in die ideologischen und ästhetischen Zerrkräfte dieser Zeit trafen ihn Vorhaltungen dogmatisch verhockter Genossen, denen seine Ansichten über das Reparaturbedürftige der Wirklichkeit sowie über die allzu bescheidenen Standards propagierter sozialistisch-realistischer Literatur durchaus als vom Übel galten. Strafender Argwohn brachte Kirschs poetische Stimme freilich nicht zum Verstummen. Anders als die von ihm verachteten unterwürfigen Mitläufer der Neuen Mitte, die, jeder Utopie abhold, 1990 vom Ende der Geschichte faselten. In seinem letzten Sonett erkennt und benennt Rainer Kirsch den Kipp-Punkt jener Ära, die künstlerischer Widerstand gegen Lüge, Heuchelei, Reglementierung, Engstirnigkeit und Banalität kennzeichnete.
Kirsch war, das gilt auch in Anbetracht des aktuellen Lyrikverständnisses ebenfalls als vom Übel, ein Poeta doctus: Die Quellen der Antike, Aufklärung und Klassik anzapfend, übernahm er deren Formen (Ode, Sonett, Distichon usw.) sowie zeitübergreifende „große Stoffe“; stets darauf bedacht, nicht die Bewahrung des „Alten“ zu feiern, sondern es für seine Zeit weiterzuschreiben. Wie seine stil- und geistesverwandten Kollegen favorisierte er als Hauptkategorien der Literatur: Strenge, Einfachheit, Genauigkeit in der Behandlung des Gegenstands.
Rainer Kirsch gehörte der „Sächsischen Dichterschule“ an, deren Existenz auf freundschaftlicher Verbundenheit und gleichen kunstvollen Ansprüchen beruhte. Ein Ergebnisbeispiel dieser die ostdeutsche Lyrik prägenden Dichtersozietät findet sich im letzten Kapitel: Ein poetischer Trilog zwischen Rainer Kirsch, Heinz Czechowski und Karl Mickel.
Rainer Kirsch war Poet, Dramatiker, Librettist, Kinderbuchautor, Kurzprosaschreiber, Herausgeber, Essayist. Als Nachdichter par excellence übertrug er Verse aus dem Russischen, Georgischen, Englischen und Französischen ins Deutsche. Dies tat er akribisch und in aller Freiheit, indem er der These „Poesie ist nicht übersetzbar“ zustimmte und sie gleichsam widerlegte. Ob Nachdichtung, Imitatio oder reine Eigen-Art – Rainer Kirschs Lyrik bietet, was nachdenklich und schön zugleich ist.
Gedichte sind Fenster. Wir sehen durch sie hindurch. Wohin? Auf die Welt, gespiegelt in einem Ich, das sich zum Sprecher aller gemacht hat. (…) Gedichte sind Spiegel der Seele. Was wird gespiegelt? Unser Ich, das unsichtbar ist und sich sichtbar macht, indem es die Welt in einem ernsten Spiel verzerrt.1
Kerstin Hensel, Nachwort
Rainer Kirsch
wollte „bleibende Bilder von der Welt“ schaffen, „intensive Momentaufnahmen“. Diesen Anspruch löste er in souveräner Formenvielfalt und höchster Sprachvirtuosität ein und wurde zu einem der wichtigsten Lyriker. Weltbezug war sein poetisches Wertmaß, Genauigkeit in der Behandlung des Gegenstands seine Maxime, heitere Vernunft die Grundierung seines Dichtens.
„Er konnte komplizierteste Dinge in leichtester, ja anmutiger Gestalt vor unseren Geist treten lassen“, schrieb Dichterkollege Karl Mickel über ihn.
Hundert Gedichte – mit dieser adelnden Zahl hat Kerstin Hensel eine Auswahl aus Rainer Kirschs lyrischem Werk getroffen.
Eulenspiegel Verlag, Ankündigung
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Kerstin Hensel liest das Gedicht „Erste Hoffnung“ auf der Großen Nacht der Poesie des 2. ÖKT in München.
Zum 60. Geburtstag des Autors:
Sabine Brandt: Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.7.1994
Zum 65. Geburtstag des Autors:
Wolfgang Platzeck: Mit sanfter Gewalt
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 17.7.1999
Thomas Kunze: Der Markt ist so rücksichtslos wie die Zensur
General-Anzeiger, 17./18.7.1999
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Michael Braun: Petrarca aus Sachsen
Badische Zeitung, 17.7.2004
Der Tagesspiegel, Berlin, 17.7.2004
Zum 75. Geburtstag des Autors:
Jürgen Engler: Das Wort und seine Strahlung
neues deutschland, 17.7.2009
Torsten Klaus: Rainer Kirsch – ein unbequemer Dichter mit Idealen
monstersandcritics.de, 15.7.2009
Ambros Weibel: Amt des Dichters: Rainer Kirsch zum 75. Geburtstag
ambros-weibel.de, 18.7.2009
Felix Bartels: 75 Jahre Kirsch
felix-bartels.de, 17.7.2009
Zum 80. Geburtstag des Autors:
Hans-Dieter Schütt: Zuversicht statt Optimismus
neues deutschland, 17.7.2014
Burga Kalinowski: Und ohne dieses Wort wäre das Gedicht nichts
neues deutschland, 19.7.2014
Burga Kalinowski: „Mein Inneres lesen“
junge welt, 11.9.2015
Zum 90. Geburtstag des Autors:
3.7.2024 – 28.8.2024 „Zum 90. Geburtstag von Rainer Kirsch“: kuratierte Ausstellung von Helga Grzebytta in der Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf
Zum 10. Todestag des Autors:
Kai Köhler: Das Wie des Schreibens
junge Welt, 4.9.2025
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG + IMDb + Internet Archive + IZA + Kalliope
Porträtgalerie: akg-images + Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + deutsche FOTOTHEK + IMAGO + Keystone-SDA
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