Rainer Schedlinski: Die Männer der Frauen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rainer Schedlinski: Die Männer der Frauen

Schedlinski/Hünniger-Die Männer der Frauen

schon bevor sie die wanne betritt, ist sie verschwunden
mit den vorsichtigen beinen, dem verkanteten dreieck
den rücken verläßt zuletzt der entwurf
dieses geometrischen spiels
entlang der taille, auf ein zeichen
wir die säule in den salzigen kristall zerfallen
mit dem wir unsere seele belichten
aus der tiefe der erde entfaltet
wie eine herzlose arischocke
die zu kosten
als ein blinder, der in seinem unerhörten echo verbrennt…

 

 

 

Die Texte Rainer Schedlinskis treiben sich selbst,

aus sich heraus, aus sich aus. Sie pflanzen sich sozusagen fort. Sie verlangen vom Leser, daß ihm des Textes Grund wie sein eigener nicht abhanden kommt.

Sascha Anderson, Druckhaus Galrev, Katalog, 1991

 

Rainer Schedlinskis Lyrik geht von Körpergesten aus,

vom Mißtrauen in die symbolischen Ordnungen: „den körper skizzieren / nur diese mündliche schrift“. Seine Gedichte leben vom „atem des spiels“ und widersprechen gewiß politisch motivierten (soeben wieder falsch genährten) Erwartungen an den Prenzlauer-Berg-Stil. Ein Gedicht beginnt mit dem berühmten Brecht-Zitat „es ist wahr, ich hatte eine schwäche“, Brecht hatte hinzugesetzt: „ich liebte“, bei Schedlinski folgt eine Kette von Liebes- und Abwehrgesten in Terzinen und Liedstrophen, Zweizeilern, Anaphern, Elegien. Das sprachlos machende Deutschland-Thema fehlt nicht: „wie sagen wir uns, wer wir sind?“ Aber tonangebend bleibt doch der poetische Impuls:

es beginnt fast immer mit einem gedicht
das die worte langsam dehnt, damit
sich die volumen zwischen den menschen
vergrößern
in denen wir wohnen…

Alexander von Bormann, Der Tagesspiegel, 8.12.1991

Die Dinge in anderer Sprache denken

Rainer Schedlinski hat, als brillanter Essayist, die Strategie der ästhetischen Verweigerung auch theoretisch reflektiert; eine poetische Sprache bietet die Möglichkeit, aus den verfestigten Diskursen auszutreten und „die dinge in anderer Sprache neu zu denken“. In ungesüßter Sachlichkeit lassen vor allem seine früheren Gedichte die Dinge selbst wieder zu Wort kommen. In den Liebesgedichten des Bandes „die männer der frauen“ wirkt dagegen vieles eher skizzenhaft und entsprechend leicht verdaulich. Die Frauen dieser Gedichte sind austauschbar – sei es „die schönheit mit  den roten haaren“, die den Mantel anzieht und geht, oder „die geliebte, die eines tages beschließt, nicht mehr traurig zu sein / die diesen mann nicht mehr versteht, der zuviel raucht / mit leerem mund und angegriffenem herzen“. Austauschbar sind jedoch nicht nur die Frauen – auch die Sprachfiguren der Gedichte,  in denen nur hin und wieder ein luzider Wortwidersinn aufblitzt: „dann war es das eis / das die sinne schmolz“.

Sieglinde Geisel

Mit dem Wind drehen sie die Mühlen

… Höchst individuell und unverwechselbar zeigt sich die Poesie des Magdeburgers Rainer Schedlinski. Markante Erstzeilen bestimmen die Gedichte des Mannes, der sich ausgibt als „die frau, die ich nicht bin“. Wird da nicht die sensible Sehnsucht nach dem weiblichen Anteil im Mann signalisiert? „…ich lief durch namenlose treppenhäuser“, …„um den durst zu durchwaten zur quelle“ oder… „in den rückwärtigen zimmern sind die jungen bei gott in diesem schrein die nagelbetten sind so leer“, starke, verdichtete Aussagen.
Pausenlos hört dieser Dichter in sich hinein, neue ungehörte „Bilder“ und Träume. Er bringt ohne Schonung das als seine Wahrheit erachtete vor – davon ist der Gedichtband bis zum Bersten gefüllt. „Die Männer der Frauen“, so der Titel, bekommen mit einem Mal ein besonderes Gesicht und Gewicht. Immer wieder: das unlösbare Rätsel „Frau“.
Wie fremd sind und bleiben Frauen Männern der Art eines Schedlinski? „die schönheit mit den roten haaren zieht den mantel an und geht – einfach so, obwohl viel noch zu sagen wäre.“ Wie anders dagegen der Mann: „das ist das system ariadne, die männer der frauen verschwinden gelegentlich ohne ziel…“
Rätselhafte Männer, oder ist endlich einer da, der tiefverborgene Männerbefindlichkeiten offen ausspricht? „…ich habe dich verlassen, um diesen körper zu verlassen, der mich umbringt“ oder „man möchte sagen; dass es dennoch etwas zu sagen gibt, was man aber nicht mitteilen kann…“ so feinnervig konnte er also sein, Rainer Schedlinski, können „Männer der Frauen“ sein, und sie können froh sein, wenn jemand Wort findet für das Verborgene, das zu sagen Männer sich selten trauen. Wer würde wagen, ungeniert zu behaupten: „die umarmung war das loch in dem ich dich verlor…“
Nichts Verlogenes scheint sich einzuschleichen, und die Infragestellung eigener Wahrnehmung zeugt von Offenheit – notgedrungener Offenheit? Schedlinskis Gedichte kehren das subjektive Erlebnis objektivierend nach außen. Leidenschaftlich wendet er sich auch zeitkritischen Themen zu, die ostdeutsch akzentuiert sind. „…in den schrebergärten stochert die geduld“, – „wie sagen wir uns wer wir sind?“

Wer, wenn nicht der Dichter wäre autorisiert, seine Sorge vor der „verflachung“, „vor dem schaurigen anblick des gläsernen menschen“ und „der behörde des körpers“ zum Ausdruck zu bringen.

Christa Fenzl

„den körper skizzieren ohne die sprache“

– Rainer Schedlinskis Lyrikband „die männer der frauen“. –

„es beginnt fast immer mit einem gedicht“, beginnt Rainer Schedlinski seinen neuen Gedichtband, „das die worte langsam dehnt, damit / sich die volumen zwischen den menschen vergrössern / in denen wir wohnen, in der mitte des abends / drehen wir plötzlich das leere glas um / und sehen ohne gesehen zu werden“. Es sind melancholische Beobachtungen und subtile Bewegungen, die „die männer der frauen“ prägen. Es sind reflektierende Liebesgedichte. Die grossen Gefühle und die Ermattung, die Müdigkeit, sie schliessen sich nicht aus – Rainer Schedlinski schreibt vom Abschied, von dem, was zu sagen bleibt, und von dem, was sich zwar sagen lässt, aber im Leben besser aufgehoben ist als im Buch: „den körper skizzieren ohne die sprache“.
Schedlinski gilt seit seinem 1998 bei Aufbau erschienenen Lyrikdebüt „die rationen des ja und des nein“, das in einer erweiterten Ausgabe 1990 von Suhrkamp übernommen wurde als einer der bemerkenswertesten Vertreter der jungen DDR-Literatur. Das Buch hat zwar Längen und Schwächen, aber seine besten Gedichte entwickeln eine lakonische Raffinesse, die vom Folgeband einiges hat erwarten lassen. Der ist nun im Druckhaus Galrev in ansprechender Aufmachung erschienen (zusammen mit Klaus Michael ist Schedlinski Geschäftsführer). Schedlinski zeigt im Band „die männer der frauen“ zwar erneut seine Begabung, aber es ist kein überzeugendes Buch.
Zwei ganz verschiedene Pferdefüsse sind vorhanden: das Konzept der Textzusammenstellung und seine Vorliebe für Poetisierungstechniken. „die männer der frauen“ beschränkt sich angenehmerweise auf eine überschaubare Textmenge, und in den ersten Dritteln variiert Schedlinski den lakonischen Tonfall und das Thema des Alleinseins. So wird eine Atmosphäre aufgebaut, die sich mit dem Schluss des Buches schlecht verträgt. Denn gegen Ende wirft er eher unterschiedliche Sprechhaltungen und politische Motive hinein. Da gibt es Gedichte mit traditioneller Reimstruktur, die zwangsläufig zu einer ganz anderen Klangfarbe führen:

im anfang fiel das fleisch vom fleische
gerechte führen immer streit
der beste held ist eine leiche
mit allseitig geprägter persönlichkeit

es war nicht leicht, die welt zu loben
wo immer nur bahnhof verstanden
war denn der überbau offen oben
als wir in richtung heimat verschwanden?

man musste seine stimme geben
die hohen tiere adelt ekel
ist es der mars, auf dem wir leben?
dies deutschland ist ein menetekel

Wer eine solche Form wählt, entscheidet sich für ein feierliches Versprechen, er schiebt die Menschen, Vorgänge, Gegenstände und Wörter von sich weg und zwängt sie im Kunstraum zu einer steifen Ordnung zusammen, und durch dieses Auseinanderklaffen entsteht das Hohle, das Pathos. Auf der gegenüberliegenden Buchseite kann man sehen, dass die Form das Gedicht ist. Inhaltlich geht es um das gleiche Thema, aber nun entscheidet sich Schedlinski für das entgegengesetzte literarische Verfahren und verzichtet auf das gebundene Sprechen, indem er einen Redefluss installiert, der von einem einmontierten Zitat ausgeht, das einem Maschinenbauer zugeschrieben wird: „man hat uns immer erzählt wie schön hier alles ist und nun stellt sich heraus man hat uns die ganz Zeit belogen und betrogen“ Aus diesem O-Ton (?) macht Schedlinski einen gewitzten Text, durch Blocksatz betont er das Entfernen von Poetisierungstechniken, versteckte Reime (geschickt-erstickt-bestückt-geschickt) erhöhen das Aberwitzige und dienen der rhythmischen Beschleunigung. Diese beiden untypischen Sprechweisen wirken in dem Buch deplaziert, die eine ist anachronistisch, die andere hat Zukunft.
Der zweite Pferdefuss gefährdet die den Band tragenden Gedichte. Mitunter gelingt es Schedlinski eine unverwechselbare melancholische Atmosphäre zu entfalten, aber seine Vorliebe für Poetisierungen ist hierfür störend. Selten passiert es ihm, dass er das Lakonische übertreibt, so dass nur Belangloses auf dem Papier seht, dass der Lyriker also zum Fotoapparat mutiert, ungleich häufiger verliert er in die andere Richtung die Balance. Schedlinski mag Wie-Vergleiche, Personifikationen, und leider auch noch Genitiv-Metaphern: „du hast mich zum gast deines hungers gemacht“, „der traum des pfahls in deinen augen“, „die schwarze flora der stirn“. Genitiv-Metaphern sind nur dazu gut, zu verklären: es sind Seifenblasen, dem Leser wird dunkel raunend etwas vorgemacht.
Der wohl gelungenste Text des Bandes ist der einzige mit einem Titel.

theseus zur rolle der frau

das gras wächst, wir aber werden
erwachsen, vermehren uns
mit geschlossenen augen
um besser zu sehen, damit

ein gegenteil entsteht, das ist
die überzeugung, ist die kunst
des sterbens, inflation
der sinne, am ende der futurismus

der zwecklosen mittel, das ist
das system, ariadne, die männer
der frauen verschwinden
gelegentlich ohne ein ziel

Die erotischen Skizzen von Uta Hünniger, ebenfalls Mitte der 50er Jahre geboren und in Ostberlin lebend, bereichern, mit Ausnahme der Umschlaggestaltung, das Buch nicht.

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 30.8.1991

Die Unaufgeklärtheit der Revolution

… Den Gedichten ist ein nicht diskursiver Ansatz eigen, der das scheinbar Bekannte, Vertraute und Gesicherte auf das Niveau des Unerwarteten hebt. Die literarischen Mittel, derer der Autor sich dabei bedient, sind auf den ersten Blick konventionell, vergleicht man sie mit den Permutationen und Atomisierungen des Wortkörpers in Gedichten anderer Autoren seines Umfeldes. Das Unverwechselbare bei Schedlinski ist die Vorgehensweise, geschlossene semantische Einheiten so ineinander zu verschachteln, daß deren jeweiliger Sinn zusammenbricht und Metastrukturen entstehen. Eine Welt des disparaten und Unvereinbaren breitet sich aus, die das lyrische Subjekt mehr zu deuten weiß. Der Standort der Figur wechselt mit den Erscheinungen, die ihr begegnen oder imaginiert unterlaufen. Er bleibt unbestimmt und hinterläßt keine Koordinaten im Text, womit ein Denken der Ebene seines Wissens, auf der es lediglich Bestätigungen sammelt, enthoben ist. In einem leisen, unaufdringlichen, mitunter bizarren Ton lassen die Gedichte Bilder zu, deren Bedeutungsgeschichte verlorengegangen zu sein scheint und die jenseits einer realen Ordnung ineinandergreifen. Eine Textwirklichkeit entsteht, die über wieder erkennungsfähige Zeichen den Kontakt zur Realwelt hält, ohne diese zu kopieren.

es ist kein wunder, daß die zeit uns nicht verfehlt
wir ziehen unsre kindheit aus dem fluß, der schmerz

ist eine umkehrung der welt
und was wir denken nennen ist

nur die geduld des fleisches
wir haben eine tiefe in uns eingebohrt

die unsere einsamkeit beseelt, die zeit
erstarrt und legt sich zu den kindern

Aber es passiert auch, daß metaphorische Konstruktionen zum Selbstzwecke geraten, der sie unnahbar und hermetisch werden läßt. Verse wie „rumpf an rumpf die stimmen verschmolzen / mit dem mund unterwegs / der traum des pfahls in deinen augen / die lichtreflexe bis auf die knochen“ bauen ich ihrer Unzulänglichkeit Spannungen eher ab, oder sie werden an anderer Stelle, wo sie an Realitätsbezug gewinnen, plötzlich rhetorisch: „wieder bin ich der sorgende, liebende / der die spüle repariert, während du / dahinter auf dem kühlschrank sitzt / der dir eine tasse bringt, gegen den husten“ usw.
Ein bißchen schwer haben es auch jene Gedichte, die sich einer formalen Regel unterwerfen, diese dann aber durch Rhythmusanomalien oder falsche Reime nur unzureichend bedienen. Vielleicht hatte nicht alles in diese Auswahl gemußt, insgesamt aber weist sie Schedlinski als einen Dichter von Rang aus, dessen großer Vorzug es ist, Philosophie nicht nur zu besitzen, sondern sie auch noch in Bildsprache übertragen zu können. Die Gedichte sind, wie der Titel es vorsichtig mitteilt, erotische Gedichte, und sie sind es auch dann noch, wenn sie sich bemühen, es nicht mehr zu sein. Die dauernde und bis zum Rollenwechsel durchgespielte Bezogenheit auf das andere Geschlecht bildet den Reaktionshintergrund dieser lyrischen Texte, die vordergründig mit männlichen Anliegen beschäftigt sind, mitunter auch politische Motive aufnehmen. Der eigentliche und durchaus philosophisch zu nennende Ort aber, den sie meinen ist der Körper. Der Körper als Gegenstand des Denkens und im letzten als Obsession.

Kurt Drawert, Süddeutsche Zeitung, 6.11.1991

Die Eltern sind viel zu nett

– Lyrik auf dem Weg vom Prenzlauer Berg in die Bundesrepublik. –

Noch vor einigen Jahren galten sie als aufrührerisch und subversiv, die Poeten der „Prenzlauer-Berg-Connection“, wie man sie anerkennend und gruselnd nannte. Zwischen Anpassung und Dissidenz hatten sie einen dritten Weg gewählt: die Verweigerung, das Abtauchen in den Untergrund. Zuerst wurden sie ignoriert, dann verfolgt, zuletzt zugelassen. In der langsam zerbröckelnden DDR schien Poesie noch einmal politisch wirksam zu sein: weniger durch brisante Thesen, als durch den Anarchismus der Sprache, durch ein witzig verfremdetes „Kwehrdeutsch“.
Was ist davon geblieben? Wie geht es weiter? Drei Bände der Edition Galrev könnten Antwort geben. Wer heute Sascha Anderson, Bert Papenfuß-Gorek oder Rainer Schedlinski liest, wird ihre Texte nicht mehr nach verschlüsselten Subversionen befragen. Wer über sie urteilt, hat nicht mehr ihr Schreibrisiko abzuschätzen und Moral und literarische Qualität miteinander zu verrechnen. Was bleibt?…
Die Gedichte von Rainer Schedlinski wirken geradezu konventionell. Schedlinski ist ganz altmodisch an Themen wie Alltag und Liebe interessiert, und da lauern natürlich Konventionalität und Sentimentalität. Er läßt sich auf sie ein, doch er findet, gewissermaßen im letzten Moment, den Dreh, um dem Kitsch zu entgehen. Er schreibt etwa: „Was ich brauche ist diese elende liebe / ohne die streifen bekanntschaften.“ Das wäre pubertär, folgte nicht der Vers: „an diesem behaarten ort auf der straße.“ Immer wieder sind es einzelne Zeilen, einzelne Beobachtungen, die zeigen, daß Schedlinski ohne Pseudotiefsinn Wirklichkeit bezeichnen und verwandeln kann. Als Beispiel zwei Zeilen aus einem Liebesgedicht: „mein gesicht ist über den kopf gespannt wie ein trockener film“ und „das lachen zerrt am mund wie elektroden“. Wie genau ist das beobachtet, wie prägnant formuliert. Schedlinski weiß, „die dichter erzählen viel, wenn der tag lang ist“. Deshalb wohl  beansprucht er keinerlei Vorrecht der Poeten aufs Sprachproblem und sagt: „es sind die selben worte, mit denen wir lügen.“ Das Vorrecht des Dichters ist es, präzis zu träumen und zu hoffen. Schedlinski formuliert es in der schönen Maxime „die schiffbrüchigen halten die ufer zusammen“.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.1991

Die Verse, mit denen Rainer Schedlinski das Gedicht eröffnet,

sind syntaktisch korrekt. Die einfachen Aussagesätze, die, wenn nicht semantische Fehlstellen eingebaut worden wären, einer ABC-Fibel entstammen könnten, erweisen sich als bloße Sprachhülsen, die nichts Sinnvolles mehr aussagen. Wenn es an anderer Stelle heißt: „du sitzt in der zelle des bildes / die strecken laufen dir zu / & die denkmäler werden bewacht“, wird klar, dass es vor allem die ideologisch kontaminierten Fertigteile der Sprache sind, die der Lyriker anzielt.
Da seine Kritik vor allem Strukturkritik ist, laufen die Texte Gefahr, in der Kombinatorik der ausgestellten Chimären zu ermüden. Das sollte sich nach den Umbrüchen 1990 und nach der Enttarnung Schedlinskis als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit als handfestes Problem für den Lyriker erweisen.
„der dichter mit der maske aus papier, papier / das nicht errötet“, lautet eines der Motti in Schedlinskis Gedichtband Die Männer der Frauen aus dem Jahre 1991. An den Gedichten dieses Bandes fällt auf, dass sie jenes resignativ-deskriptiven Gleichmuts entbehren, der früher in der vorgespielten Hinnahme von Ich-Täuschung und eines Sprachzugriffs auf die Dinge, bei dem sie in der Worteinkehr ihre Bedeutung verlieren, ausbalanciert wurde. Jetzt dehnt sich die Distanz zwischen Wahrnehmung und Reflexion bis zu jener Schmerzgrenze, in der die Angst körperlich in Lebendigkeitsreste zurückgekrümmt erscheint. In einem Gedicht heißt es:

man möchte sagen daß es dennoch etwas zu sagen gibt
was man aber nicht mitteilen kann
ohne diese mumie zu zerstören
die uns ans herz gewachsen ist

Wie hier ist es oft nur eine Wendung, die verhindert, dass das Ganze ins Banal-Sentimentale kippt. Aber die Rückwege in die Konventionalität traditioneller Empfindungslyrik sind fast alle versperrt: Die medialen Großszenarien der letzten Jahre, ans Herz greifende Werbewelten oder die umfassende Industrialisierung der Innerlichkeit durch weitgehend standardisierten Erlebnishandel vom Bildschirm bis zum Safari-Park haben ein engmaschiges semiotisches Netz vorfabrizierter Bilder, Gesten, Gefühlsäußerungen, Redeweisen geknüpft, das eine „neue Einfachheit“ selbst in den Bereich der Simulation einfängt. Insofern hätte Schedlinskis Ansatz grundlegender Kritik von schablonierter Sprache und standardisierten Bildern vielfältige Felder poetischen Insistierens in der globalisierten Kultur vorfinden können. Zunächst jedoch scheint es, als habe ihn erst einmal die eigene Geschichte eingeholt:

frei wie ein durchmarsch der farben
ist der weg des verschwindens

als wären es alles nur pappkameraden
belogen, betrogen und blind
wie sagen wir uns, wer wir sind?

Die Frage ist an den Autor zu geben, und sie ist in einen Raum geworfen, der jede öffentliche Stimme, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, verzerrt. – Seit 1991 ist der Autor Rainer Schedlinski verstummt.

Aus: Die Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene der DDR (1976–1989), litde.com

Schriftsteller hinter der Mauer

(…)

Die Namen der Dichter, die sich am Prenzlauer Berg versammelten oder dort wohnten, waren in Italien meist unbekannt. Die in ihrer Heimat namhaftesten waren Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor und Rainer Schedlinski. Sie standen im Ruf, experimentelle Autoren zu sein, die sich dem vom Regime verlangten sozialistischen Realismus verweigerten und sprachliche Neuerungen wagten. Einige ihrer öffentlichen Lesungen hatten sich wenige Wochen zuvor in populäre Kundgebungen verwandelt, ebenso wie religiöse und andere Dissidentengruppen erheblichen Zulauf erhielten und schließlich zu den Tumulten geführt hatten, die Honeckers Führungsposition und das Fundament des Staates selbst erschütterten.
Ich nahm Kontakt zu Schedlinski auf und besuchte ihn in seiner Wohnung. Er war Anfang dreißig, hatte blonde Haare und eine Pagenfrisur, trug eine Brille mit rundem Metallrahmen und machte den Anschein eines jungen, gebildeten, intelligenten und hoffnungslos schlampigen Revolutionärs. Er bot mir Wasser an, etwas anderes habe er nicht. In der Mitte seines Zimmers thronte eine große Badewanne, daneben standen zwei Sessel und eine Liege mit Schaumgummimatratze. Für einen Augenblick stellte ich ihn mir vor, wie er sich – nicht öfter als einmal pro Woche – nackt in diese Wanne setzte und mit Schüsseln warmen Wassers übergoss. Doch auch diese Vorstellung machte ihn nicht sympathischer: Von ihm ging eine Kälte aus, ja, eine feindselige Frostigkeit, die einen auf Abstand hielt. Er hörte nicht auf, mich mit stechenden Augen zu mustern. Ich hatte den Eindruck, er rezitierte einen Text, der eigens für mich geschrieben war. Er war der junge revolutionäre Dichter, Opfer des kommunistischen Regimes, aber angewidert vom Materialismus des Westens, wie er im Buch stand oder in einem schnulzigen Film hätte mitspielen können. Sein Körper, die Kleidung, sogar die Wände der Wohnung drückten eine kompromisslos asketische Haltung aus, all das perfekt dargestellt und inszeniert.
Und ich fiel darauf herein. Ja, ich fiel absolut darauf herein. Ich spürte zwar das Künstliche an ihm, trotzdem sog ich begierig jedes einzelne Wort und jedes seiner Argumente auf. Wir diskutierten über Lyotard und Andrea Zanzotto (dessen Namen er aussprach, als wäre der ein Deutscher: Andreas Hans Otto). Wir sprachen über Italien und Europa, Politik und Ökonomie. Als ich ihn fragte, wie die Gruppe, zu der er gehörte, entstanden sei und aus wem sie sich zusammensetze, erwiderte er in strengem Ton:

Die Dichtergruppe vom Prenzlauer Berg ist nicht deckungsgleich mit der Idee der Boheme, an die du mit Sicherheit denkst. Ihre Mitglieder sind nicht ausnahmslos Literaten, Künstler und Musiker, sondern auch junge Händler und kunstgewerblich tätige Frauen. Wir versammeln uns, wo es uns möglich ist, in Kirchen, im Wiener Café – wir nennen es wc – oder schlicht auf der Straße. Wir waren eine gemeinnützige Gruppe, die die geltende Ordnung ändern wollte. Und in einem gewissem Sinn ist uns das auch gelungen.

Das stimmte. Teilweise war es ihnen gelungen. Auch wegen ihres Engagements war die Mauer gefallen. Aber jetzt? Was sollte nun geschehen? Würden sie sich zurückziehen? Er schnitt eine angewiderte Grimasse:

Du willst von mir wissen, ob ich in Zukunft den Vollzeitdichter abgeben werde? Ich habe ja gesehen, wie meine westlichen Schriftstellerkollegen sind: noch keine zwanzig Jahre alt und schon Konformisten und Arschkriecher. Verlagsfunktionären gegenüber verhalten sie sich auf dieselbe reaktionäre Weise, wie es bei vielen von uns gegenüber Parteifunktionären üblich war. Es ist zum Kotzen.

Auf einmal kam dicker Qualm aus dem Nebenraum. Er stürzte hinaus, um nachzusehen, was los war: Ich hörte ihn fluchen, dann kehrte er wieder zurück und erklärte, der Ofen brenne nicht gut, er habe ihn ausmachen müssen. Anschließend riss er ein Fenster auf. Draußen schneite es, und man drohte zu erfrieren. Unwillkürlich zog ich Mantel, Schal und Handschuhe, die ich auf die Liege gelegt hatte, wieder an. Ich fragte ihn unvermittelt, ob er sich für einen Kommunisten halte. Er antwortete nicht sofort. Stattdessen begann er, von seiner Familie und Kindheit zu sprechen: Er war 1956 in Magdeburg geboren worden und dann nach Dresden umgezogen, hatte Film und Theater studiert und darüber geschrieben. Er erwähnte auch einen in seiner Jugend verfassten Roman: die wahre Geschichte des Buchdruckers Rudi Thiele, der in seinem kleinen Betrieb fünfzehn Mitarbeiter beschäftigt hatte, die mit einem strengen Berufsverbot belegt waren. Es handelte sich um mit dem Regime in Konflikt geratene Intellektuelle, Physiker, Exdozenten der Universität, die er bei sich eingestellt hatte, um sie vor dem Verhungern zu bewahren. Schedlinksi unterbrach sich und meinte, er müsse mal kurz verschwinden, und weil sich die Toiletten im Haus zwei Treppen tiefer befanden, blieb er mindestens eine Viertelstunde fort.
Ich bekenne, dass mich eine unstillbare Neugier packte. Ich begann, in seinen Sachen zu stöbern, linste zwischen die Bücher, zog ein paar Schubladen auf. Eigentlich suchte ich nichts Bestimmtes. Seine irgendwie gekünstelte Art trieb mich an auf der Suche nach einem Beweis, nach etwas, anhand dessen ich seine Ansichten überprüfen konnte. Auch wenn mein Verhalten erbärmlich war, konnte ich es nicht lassen. Ich hätte gerne irgendein Familienfoto entdeckt, ein Notizbuch, vielleicht einen Brief, aber nichts: Die Realität zeigte mir lediglich ihre abweisende Oberfläche.
Als Schedlinski ins Zimmer zurückkehrte, war ich nervös, ja schlecht gelaunt. Er fasste mich blitzschnell von Kopf bis Fuß ins Auge und antwortete auf meine vor einer Weile gestellte Frage:

Als ich jung war, war ich Kommunist, ja. Jetzt ist das anders.

Er machte eine lange, reichlich theatralische Pause. „Hier und heute“, fuhr er fort, „existiert zumindest die Möglichkeit der Utopie. Das westliche System hingegen ist unbeweglich und unveränderlich. Es ruft, wie ich glaube, eine Verselbstständigung der Macht hervor, eine Art von Vernunftterror, der die Mittel tatsächlich zum Zweck erhebt.“ Eine weitere Pause.

Im Geistesleben des Westens existiert keine Utopie mehr.

Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass aber viele seiner Landsleute, kaum dass es ihnen möglich gewesen wäre, keine Sekunde gezögert und sich auf den Weg in den Westen gemacht hätten. Er erwiderte höhnisch:

Gewiss, und was haben sie vorgefunden? Große Supermärkte mit zur Schau gestellten Waren, die sich keiner von ihnen leisten kann.

Daraufhin wollte ich von ihm erfahren, ob der Fall der Mauer für ihn eine gute Sache sei oder nicht. Er lächelte mit einem seltsamen Anflug von Bitterkeit.

Wie mein Freund, der großartige Dichter Sascha Anderson, erklärt hat, sind wir nicht für und nicht gegen den Staat. Unser Standort ist außerhalb.

Ich fröstelte, vielleicht wegen der Kälte, vielleicht weil mich dieser Satz an die beschämenden Slogans der extremen Linken Italiens erinnerte. „Was mich betrifft“, schloss Schedlinski, „bin ich gegen eine Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands. Hier bei uns gibt es eine besondere Kultur. Ich möchte nicht, dass sie von der Geschichte ausgelöscht wird.“
Wir gingen auf die Straße hinunter, um zusammen ein Bier zu trinken. Kurz bevor wir die Wohnung verließen, tat er wiederum etwas, was mich an einen Schauspieler denken ließ: Er wechselte seine Kleider und machte sich ausgehfein.
Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren, verlangte er plötzlich Geld von mir.

Ich habe dir einiges von Ost-Berlin erzählt, ich habe dir erklärt, wie hier die Dinge stehen. Jetzt solltest du mich bezahlen. Fünfhundert Dollar wären in Ordnung.

Das waren ungefähr seine Worte. Ich erstarrte. Wir hätten ein freies Gespräch geführt, meinte ich: Dass auch dies etwas koste, hätte er vorher klarstellen müssen. Kleinlich beharrte er auf seiner Forderung. Wie ich ja wisse, sagte er, würden Persönlichkeiten wie Henry Kissinger, sobald man sie um ihre Meinung bitte, auf einer Vergütung bestehen. Die Situation wurde immer peinlicher. Er verbiss sich in seine Idee, und ich stellte mich an wie ein Geizkragen. Zum Schluss gab ich ihm hundert Dollar, das war alles, was ich bei mir hatte. Auf ein Bier hatte ich keine Lust mehr.
Einige Jahre später erfuhr ich aus dem Fernsehen, Rainer Schedlinski sei ein von der Stasi bezahlter Spitzel gewesen, der in die Gruppe der Dichter und Intellektuellen am Prenzlauer Berg eingeschleust wurde, um sie zu überwachen. Im Nachhinein konnte ich mir das Gefühl von Falschheit und Lüge erklären, das ich bei unserer Begegnung gespürt hatte. Im Übrigen wimmelte es während jener chaotischen Tage in Berlin nur so von Agenten und Spitzeln, und im Grunde hatte auch ich mich wie einer benommen.

Mario Fortunato, aus Mario Fortunato: Spaziergang mit Ferlinghetti. Begegnungen, aus dem Italienischen von Jan Koneffke, Schöffling & Co., 2011

 

THERMALFORCE
für Rainer

Ich lebe in der Mathematik
Sagte ich ihm. Wenn sie
Gut auf die Natur passt
Ist das für mich Physik.

Er gab mir sein Stück
Metall in die Hand und
Als ich es umfasste
Leuchtete eine Birne.

Ingolf Brökel

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Rainer Schedlinski: Abwärts! 1 & 2

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Schedlinski“.

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