− Zu Albert Ehrensteins Gedicht „Friede“ aus Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. −
ALBERT EHRENSTEIN
Friede
Die Bäume lauschen dem Regenbogen,
Tauquelle grünt in junge Stille,
Drei Lämmer weiden ihre Weiße,
Sanftbach schlürft Mädchen in sein Bad.
Rotsonne rollt sich abendnieder,
Flaumwolken ihr Traumfeuer sterben.
Dunkel über Flut und Flur.
Frosch-Wanderer springt großen Auges,
Die graue Wiese hüpft leis mit.
Im tiefen Brunnen klingen meine Sterne.
Der Heimwehwind weht gute Nacht.
Objekt und Subjekt kombinieren sich sanft, ihr Kontakt nimmt elliptisch Gestalt an, raschelt zwischen Auftakt und Nachruf; aus der Jungtier-Wolke steigt ein -ei- und beugt sich zurück ins Fell, lauwarm über den Halmen. Ich sehe: die Erdkrümmung und gekrümmte Rücken. „Friede“ riecht muffig, aus einer Grube tituliert, nicht einholbar, doch empfindlich, und was ich erkenne, ist die aufgespannte Distanz zwischen Puste und Zersetzung. Bogen um Bogen verkapselte Luft.
Eine vor-, post- oder, und diese Unbestimmtheit erscheint mir nicht willkürlich, apokalyptische Stille flickert in Ehrensteins Versen. Rotsonne nimmt Abschied als ulkiger Alptraumball, der wiederkehrt. Zartes und Rauschendes grünt, schlürft, doch das Mittel, das sie weckt, wurde zu spät injiziert. Gäste aus dem All klimpern unterirdisch. Der Text ist ein bunter Rachen.
Die Kritik, daß Sagenhaftes das Reale unterhöhlt, ist mir nur begreiflich, wenn sie den Dreh kluger Mythen nicht anerkennt, den Trotz ihres Narrativs. Der im Matsch hockt, in Gedanken und in den Drähten. Wenn Unbelebtes agiert. Mein Stuhl ist nicht weit davon entfernt, er assistiert mir bei der Arbeit.
Sind Tauquelle und Sanftbach die Kehrseiten-Animationen für eine zertrümmerte Erde? Übersteuerungen einer Klage, ihre Einbildung in das Unmögliche. Ein verschossener Trübsinn. Die Sonne drückt kein Auge zu.
Aber der Frosch-Wanderer, ein Kumpane! Hier hüpft mit, was die Haftballen unter sich antreffen. Hier herrscht keine Isolation. Ein staunendes Gesicht, Mondlichtszenerie, lustig-gruselig, die zum Wiegenlied transformiert, in dem Heimweh eine Krippe umspielt… doch morsch ist sie, morbide klingt hier etwas, ich komme nicht umhin, all den Konsens angenagt zu lesen, Mildes kippt und krabbelt als Made davon…
Albert Ehrenstein, 1886 in Wien-Ottakring geboren, 1950 in New York gestorben, Zeit seines Daseins ein „Sieb-Dach“ über dem „Haupte“ („Wanderers Lied“), „Zerrissener“ und zorniger Widersacher der „Menschenfresserei“ und „Nationalesel“ in „Barbaropa“, war, geht es nach Kurt Pinthus, „Dichter der bittersten Gedichte deutscher Sprache“. Armut und Antisemitismus prägten sein unbeständiges Leben, Selbstzweifel und Einsamkeit. In „Friede“ evoziert Ehrenstein einen Untergang, der die Übergänge in ungewohnter Duldsamkeit auskostet. Kein Ich wütet oder klagt in diesen Zeilen. Tiere, Wasserläufe, Wärme- und Lichtquellen, Wind und Wiesen verstricken sich in einer Harmonie, die, um Berthold Viertels Einschätzung zu Ehrensteins Prosaband Tubutsch (1911) zu variieren, „viel erlebt“ hat, „bevor […][sie] geschrieben wurde“, doch in diesem Fall, so ist zu erahnen, niemals sich selbst.
Ein Wehmut-Sehnsucht-Gemisch scheint am Werk, das wesenhaft unterwegs ist, vorwärts wie rückwärts; das wird und wird und seine Formen switcht, die einander entwaffnen. Dabei steckt es nicht im Vergleich fest; bleibt haltlose, plastische Evokation. Ein im Subtext verbeulter Aberwitz.
Zitiert nach: Jörg Drews: „Nachwort“, in: Albert Ehrenstein: Wie bin ich vorgespannt den Kohlenwagen meiner Trauer. Gedichte, hrsg. von Jörg Drews, 2. erw. Aufl., München 1986: edition text + kritik, S. 181–198, hier: S. 183, 187–191. / Kurt Pinthus, Dichter und Werke. Biographisches und Bibliographisches, in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, hrsg. von Ernesto Grassi unter Mitarbeit von Walter Hess, Hamburg 1959: Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Deutsche Literatur Band 4, S. 340.
Sonja vom Brocke, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019
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