Stefan Heym: Ich aber ging über die Grenze

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Stefan Heym: Ich aber ging über die Grenze

Heym/Hussel-Ich aber ging über die Grenze

MORSESONG

In Bangkok fand ein Bankkrach statt,
die Regierung wurde bald der Lage Herr.
Eine Dame der höchsten Gesellschaft hat,
nervös von ihres Kindes Geplärr,
aaaaain dunkler Mitternacht
aaaaaihr Baby umgebracht.

aaaDie Apparate ticken.
aaaStenotypistinnen nicken:
aaaPunkt Punkt Strich – Strich Punkt Strich –
aaaHaben Sie gehört? Haben Sie gesehen?
aaaAuf Papierband das ganze Geschehen!
aaaStrich – Punktum!

aaaaaBleiche
22 arbeitslose Männer
schluckten gestern tödlich Gas.
Und der fabelhafte Motorrenner
lief, als sei das nur zum Spaß
aaaaa150 Stunden
aaaaagleich 2000 Runden –

aaaDie Maschinen ticken.
aaaTotenköpfe nicken:
aaaPunkt Punkt Strich – Strich Punkt Strich –
aaaHaben Sie gehört? Haben Sie gesehen?
aaaAuf Papierband das ganze Geschehen!
aaaStrich – Punktum!

Große Herren tafeln an reichen Banketten,
ihre Damen zeigen Fleisch.
Wohlfahrt wird die Welt vom Hunger retten –
Offizielles Mitleidsgekreisch.
aaaaaÄcker früchteschwer.
aaaaaErnte ins Meer –

aaaSchiffsschrauben ticken.
aaaDampfermasten nicken:
aaaPunkt Punkt Strich – Strich Punkt Strich –
aaaHaben Sie gehört? Haben Sie gesehen?
aaaAuf Papierband das ganze Geschehen!
aaaStrich – Punktum!

In Europa, Asien, Afrika
rühren sich die Millionen.
Petroleum – Streiks – Amerika –
an allen Enden Rebellionen!
aaaaaKanonenrohre gleißen.
aaaaaMorsebänder reißen –

aaaGewehre ticken.
aaaPanzertürme knicken:
aaaPunkt Punkt Strich – Strich Punkt Strich –
aaaHaben Sie gehört? Haben Sie gesehen?
aaaMorsefetzen, die verrückt im Winde wehen!
aaaStrich – Punktum!

 

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Die Anfänge eines Schriftstellerlebens

Er ging über Grenzen, der junge Helmut Flieg, als Emigrant, als Jude.
In einer fremden Sprache, der englischen, fand er ein Zuhause. Mit seinen in englischer Sprache geschriebenen Romanen wurde er unter dem Namen Stefan Heym weltbekannt.
Dass sein Schriftstellerleben mit Gedichten begann, blieb im Dunkel. Im Stefan-Heym-Archiv in Cambridge finden sich in der Box A I annähernd 300 Gedichte. Viele sind in der Zeit zwischen 1930 und 1936 veröffentlicht, in Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien. Manches ist verloren gegangen. Das früheste veröffentlichte Gedicht erschien in der sozialdemokratischen Chemnitzer Tageszeitung Volksstimme am 1. Februar 1930. Helmut Flieg war damals gerade 16 Jahre alt.
Er schrieb Gedichte in Chemnitz als Schüler, in Berlin als Student, in Prag als junger unbekannter Emigrant. Aus verschiedenen Gründen benutzte er, nachdem er Chemnitz wegen der Veröffentlichung eines Gedichts verlassen musste, mehrere Pseudonyme – Melchior Douglas, Gregor Holm, Elias Kemp, und Stefan Heym, den Namen, den er später beibehielt. Aus der Zeit in Berlin und Prag finden sich in Zeitungen und Zeitschriften Veröffentlichungen von Gedichten und Texten unter diesen Namen.
Stefan Heym hat über die Anfänge seines literarischen Lebens und die ersten Jahre des Exils kaum gesprochen. Es war eine schwere und existentiell bedrohte Zeit. Vielleicht hat er darum den Blick zurück auf die Gedichte gescheut. „Let sleeping dogs lie“, sagte er einmal.
In seiner Autobiographie Nachruf finden sich einige kurze Bemerkungen zu dem Gedicht „Exportgeschäft“. Da heißt es „… ein bestenfalls mittelmäßiges, dilettantisches Gedicht über eine sehr nebensächliche Episode in der blutigen Geschichte der deutschen Armee“. Der junge Gymnasiast hatte das Gedicht in der Schulstunde geschrieben und war in der Pause in die Redaktion der Volksstimme gelaufen, um es dem Kulturredakteur Carl Meyer zu übergeben. Am nächsten Tag, dem 7. September 1931, in der Zeitung gedruckt, löste es einen politischen Provinzskandal aus, in dessen Folge er gezwungen war, die Schule in Chemnitz zu verlassen und schließlich, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, im März 1933 aus Deutschland weg über die Grenze nach Prag zu gehen.
Hätte er das Gedicht nicht geschrieben, so heißt es im Nachruf, es nicht veröffentlichen lassen, „wäre er vermutlich im Lande geblieben wie andere seinesgleichen und mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölkchen über Auschwitz geendet“.
In den Gedichten erkennt man Gedanken und Themen, die sich in den späteren Romanen, Erzählungen, der Publizistik wiederfinden. Ein Lebensgefühl, ein Zeitgeist wird reflektiert. Hier spiegelt sich eine kritische Sicht der sozialen Verhältnisse, der gesellschaftlichen Widersprüche, in die der junge Helmut Flieg sich einmischte, wie Stefan Heym es bis zum Ende seines Lebenstat.
Peter Hutchinson sagt 2009 in seinem Essay „Stefan Heyms Exile Poetry as the Foundation for his later Fiction“ in German Monitor Vol. 71:

Die Exilgedichte sind von grundlegender Bedeutung für Heyms spätere literarische Entwicklung… Die Welt der Gedichte mag wohl eine der Trauer, Armut und Ausbeutung sein, aber immer ist da ein Gefühl von Hoffnung und Widerstand, zuweilen auch Trotz erkennbar – ebenso ist später in den Romanen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, das Ideal der Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung gestaltet.

Aus Anlaß seines 100. Geburtstages erscheint zum ersten Mal eine Auswahl der frühen Gedichte von Stefan Heym, die Anfänge eines Schriftstellerlebens. Die Gedichte gehören der deutschen Sprache an. Es finden sich keine Gedichte in englischer Sprache.

Inge Heym, Vorwort

Lieder an die Zeit

– Anmerkungen zu Stefan Heyms frühen Gedichten. –

Romane wie Kreuzfahrer von heute, Der König-David-Bericht oder Ahasver haben Stefan Heym zu einem der wohl interessantesten deutschen Schriftsteller der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht. Nahezu unbeachtet blieb Zeit seines Lebens, dass er seine ersten literarischen Erfahrungen zunächst auf gänzlich anderem Terrain sammelte – mit Gedichten. Dabei hatte er bereits als Oberschüler und junger Student, aber auch später als vor den Nazis geflohener Exilant bemerkenswert viele dieser vielfach zeitkritischen, mitunter satirischen, oftmals dezidiert politischen Arbeiten veröffentlichen können. Doch sie gerieten fast alle in Vergessenheit. Nur sehr verstreut wurden einige wenige von ihnen später nachgedruckt. Die vorliegende Auswahl ist Zeugnis dieser frühen Schaffensperiode; darunter sind viele unveröffentlichte Gedichte, Sie erlauben neue Einblicke in die von Unsicherheit und Bedrohung, aber immer wieder auch von Zuversicht geprägten Anfänge eines sich über sieben Jahrzehnte erstreckenden Schriftstellerlebens. Sie verraten manches über die Entwicklung des jungen Autors, über seine Zweifel und Hoffnungen, die politischen Einflüsse, denen er unterlag, die bewegten Zeiten und die bisweilen misslichen Verhältnisse, in denen er insbesondere ab 1933 zu leben und zu schreiben gezwungen war.
Die literarische Karriere des 1913 als Helmut Flieg in der sächsischen Industriestadt Chemnitz geborenen Stefan Heym begann früh. Sohn einer liberalen jüdischen Unternehmerfamilie, debütierte er als Sechzehnjähriger mit einem pazifistischen Gedicht in der sozialdemokratischen Lokalzeitung Volksstimme. Es mag überraschen, dass ausgerechnet dieses, in einer Auflage von immerhin mehreren Zehntausend Exemplaren erscheinende Arbeiterblatt dem jugendlichen Dichter aus bürgerlichem Hause als erstes ein Podium bot. Doch der junge Heym hatte unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und ihrer Folgen frühzeitig Kontakte zur örtlichen sozialistischen Jugendbewegung geknüpft; Bekannte aus der jungen jüdischen Generation hatten in deren Reihen führende Positionen inne. Von ihnen, so Stefan Heym rückblickend, kam „der entscheidende Schub“ für seine Entwicklung vom „Sohn des Chefs“, wie es im Titel eines seiner biografisch beeinflussten Gedichte heißt, zum politisch denkenden und handelnden Menschen. Und ihre Themen wurden immer deutlicher auch die seinen: die gesellschaftlichen Widersprüche der späten Weimarer Republik, der Kampf gegen Krieg und Militarismus, gegen Massenarbeitslosigkeit, Armut und soziales Elend, der Glaube an eine bessere Zukunft.
Nach anderthalb Jahren, im Spätsommer 1931, folgt der erste, seinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflussende Skandal. Nationalsozialisten und Rechtskonservative entfachen eine Kampagne wegen seines „Exportgeschäft“ betitelten satirischen Gedichts, das in diesem Band erstmals wieder in der damals publizierten Fassung abgedruckt wird. Mit Kernaussagen wie: „Wir haben in Mördern großen Export“, gerichtet vor allem gegen die Kriegstümelei spießbürgerlicher Patrioten, nahm der junge Flieg darin erkennbar Anleihe bei Kurt Tucholsky. Dessen berühmt-provokanter Satz: „Soldaten sind Mörder“ war nur wenige Wochen zuvor in einer Glosse in der Zeitschrift Die Weltbühne zu lesen gewesen. Sie dürfte neben anderen Texten Tucholskys aus jener Zeit dem jungen Dichter Pate gestanden haben, als er sich – nach eigener Erinnerung während einer Unterrichtsstunde – daranmachte, seine bissigen Verse zu schmieden. Anlass sich mit dem Treiben deutscher „Instruktionsoffiziere“ in China auseinanderzusetzen, bot dem Achtzehnjährigen die außenpolitische Affäre um ein Frachtschiff der Bremer Reederei Rickmers, das Mitte August in Shanghai beschlagnahmt worden war. Es hatte große Mengen Waffen und Kriegsgerät ausländischer Fabrikate im Wert von mehreren Millionen Reichsmark nach China geliefert. Der Fall löste erhebliche diplomatische Verwicklungen aus. Am Rande berichteten Korrespondenten von mehr als einhundert deutschen „Militärberatern“, die in China Soldaten ausbildeten – angeblich auch im völkerrechtlich verbotenen Gebrauch von Giftgas als Kampfmittel.
Mit dem Abdruck seines Gedichts am 7. September 1931 in der Chemnitzer Volksstimme machte sich Helmut Flieg zur Zielscheibe aller, die sich seit der Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg und seit dem Versailler Vertrag in ihrer deutschen Ehre gekränkt sahen. Zunächst verprügelten ihn nationalistisch gesinnte Mitschüler derart, dass er der Schule für einige Zeit fernbleiben musste. Als er sich weigerte, der Empfehlung der Schulleitung zu folgen und das Gymnasium wenige Monate vor den Abschlussprüfungen vorzeitig zu verlassen, nahmen die Nationalsozialisten sich der „unglaublichen Geschichte“ an. Die von ihnen beeinflussten Chemnitzer Zeitungen thematisierten den „Fall Flieg“ über Tage hinweg in einer Reihe reißerisch aufgemachter Artikel; „Lumpereien im Chemnitzer Staatsgymnasium“ und „Flieg flog… leider nicht“ lauteten ihre Schlagzeilen. Eine der Ortsgruppen der NSDAP veranstaltete eine große öffentliche Versammlung mit angeblich mehreren Hundert Besuchern. „Ein Zeichen jüdischer Frechheit“ seien die Verse, wetterte Parteigenosse Martin Staemmler, einer der damaligen Wortführer, der in den folgenden Jahren als Theoretiker der „Rassenhygiene“ Karriere machen und unter Hitler bis zum Rektor der Universität Breslau aufsteigen sollte. „Wir verlangen, dass ein solcher Lump ausgeschaltet wird aus der deutschen Volksgemeinschaft.“ Im Landtag zu Dresden beeilte sich die Fraktion der Deutschen Volkspartei, bei der sächsischen Regierung öffentlich anzufragen, ob sie bereit sei, die von ihr erwartete Entscheidung über einen Verweis Helmut Fliegs vom Chemnitzer Staatsgymnasium „so zu treffen, dass Wiederholungen derartiger Beleidigungen des deutschen Empfindens durch Schüler staatlicher Anstalten künftig unter allen Umständen unterbunden werden“. Der Unterzeichner der Anfrage, der Abgeordnete Hugo Hickmann, wurde nach dem Krieg Gründungsvorsitzender der CDU in Sachsen, sein Fraktionskollege Johannes Dieckmann sächsischer Justizminister und später Präsident der Volkskammer der DDR. Nicht bekannt ist, ob Dieckmann sich dieser Episode aus seiner Zeit im Dresdner Landtag bewusst war, als er sich 1960 als einer von wenigen Spitzenfunktionären dafür aussprach, dass Stefan Heyms Roman Der Tag X über den Arbeiteraufstand des 17-Juni 1953 in der DDR erscheinen sollte.
Das Kesseltreiben verfehlte seine Wirkung nicht. Helmut Flieg war es in Folge des öffentlichen Drucks unmöglich geworden, seine Schulausbildung in Chemnitz zu beenden. Dem Rat der Familie folgend, deren Mitglieder hohes Ansehen genossen und im Chemnitzer jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben eine Reihe von Funktionen bekleideten, ging er Anfang Oktober 1931 nach Berlin. Dort legte er kaum ein halbes Jahr später an der zwischen Wedding und Prenzlauer Berg gelegenen Heinrich-Schliemann-Schule das Abitur ab und begann ein Studium an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität. Sein Berufswunsch: Journalist. Der Wechsel in die Reichshauptstadt leitete für den jungen Flieg eine neue, sehr produktive Etappe ein, die bis zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten andauern sollte. Schon nach wenigen Wochen erscheinen regelmäßig politische Gedichte aus seiner Feder in der Sozialistischen Arbeiterzeitung, der Tageszeitung der von abtrünnigen linken Sozialdemokraten gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Bald darauf folgen Aufnahmen im Hörfunk, und auch journalistische Versuche werden gedruckt. Noch achtzehnjährig, ist Helmut Flieg erstmals in der Weltbühne zu lesen; die Mehrzahl seiner etwa ein halbes Dutzend Beiträge dort fällt in jene Monate, die der Herausgeber des Blattes, Carl von Ossietzky, wegen eines zum Geheimnisverrat erhobenen Artikels in der Haftanstalt Tegel verbringt. Auch die in Willi Münzenbergs Presse-Konzern erscheinende linke Boulevardzeitung Berlin am Morgen druckt vereinzelt Fliegs Arbeiten, ebenso die illustrierte Halbmonatsschrift Neue Revue sowie das von Leopold Schwarzschild zunächst in Berlin und später in München herausgegebene Tage-Buch. In dieser neben der Weltbühne renommiertesten Wochenschrift der linken Intellektuellen findet sich Mitte Februar 1933 die letzte bekannte Veröffentlichung vor seiner Flucht vor den Nazis.
Als er nur wenige Wochen nach dem Reichstagsbrand Deutschland Hals über Kopf verlassen muss, ist Helmut Flieg mit seinen noch nicht einmal zwanzig Jahren der wohl jüngste literarische Flüchtling unter den deutschen Emigranten. Der „Fall Flieg“ war in Chemnitz nicht in Vergessenheit geraten und hatte ihm dort frühzeitig einen Platz auf den Fahndungslisten der Nationalsozialisten eingebracht. Für den jungen Dichter eine überaus bedrohliche Situation: Sowohl der Chef jenes sozialdemokratischen Zeitungsverlags, in dem seine ersten Gedichte erschienen waren, als auch ein enger Vertrauter der Familie, ein angesehener jüdischer Rechtsanwalt, kamen in den ersten Wochen der NS-Herrschaft gewaltsam ums Leben. Helmut Flieg indes hatte Glück – er hielt sich in Berlin auf, als man in Chemnitz nach ihm suchte. Da er in der elterlichen Wohnung nicht anzutreffen war, wurde kurzerhand sein Vater für einige Zeit verhaftet. Von den Nazis gedemütigt und entrechtet, nahm Daniel Flieg sich zwei Jahre später das Leben. Stefan Heym widmete ihm 1942 seinen ersten, auf Englisch verfassten Roman Hostages (auf Deutsch später unter dem Titel Der Fall Glasenapp erschienen). Die Chemnitzer Nationalsozialisten feierten den Skandal um das Gedicht „Exportgeschäft“ derweil noch über Jahre hinweg als einen ihrer größten politischen Erfolge aus der Zeit vor der Machtübertragung. Noch 1936 erwähnt ihn eine offen antisemitische stadtgeschichtliche Abhandlung als „Beispiel, wie weit die Verjudung des Schulwesens [in der Weimarer Republik] gediehen war“.
Stefan Heyms Weg ins Exil führte ihn zunächst nach Prag und zwei Jahre später nach Chicago. Bis Anfang 1937, da er in New York im Alter von dreiundzwanzig Jahren die Herausgabe der antifaschistischen Wochenzeitung Deutsches Volksecho übernahm, stieg die Zahl der von ihm verfassten Gedichte auf knapp zweihundertfünfzig. Ihre Typoskripte haben sich, zumeist datiert und hin und wieder mit handschriftlichen Änderungen versehen, in seinem umfangreichen Nachlass erhalten, der heute im Stefan-Heym-Archiv an der Universität Cambridge verwahrt wird. Hinzu kommt eine Anzahl früher Arbeiten, die nur in ihrer Druckfassung bekannt sind, zu denen aber – wie im Fall von „Exportgeschäft“ – kein Manuskript mehr existiert. Manche von ihnen, so die auf einem Schicksal in Heyms Verwandtschaft beruhende „Schmerzliche Erzählung“, wurden erst nach seinem Tod wiederentdeckt. Anfangs noch stets mit Helmut Flieg gezeichnet, mussten angesichts der Ereignisse vom Herbst 1931 und der dramatisch erstarkenden Nationalsozialisten viele dieser Gedichte zum Schutz seiner selbst und seiner Familie bereits vor der Flucht aus Deutschland unter Pseudonym erscheinen. Melchior Douglas und Gregor Holm lauteten dann für gewöhnlich die Autorenangaben während seiner Berliner Zeit, später in Prag Elias Kemp und bald immer häufiger Stefan Heym.
Heute sind aus jenen Jahren rund neunzig Veröffentlichungen von Gedichten Heyms bekannt. Die meisten fallen in die Zeit des Exils und erschienen in den Zeitschriften der Emigration sowie in der im noch unbesetzten Saarland herausgebrachten, als „einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands“, der SPD-nahen Deutschen Freiheit. Allein Die neue Weltbühne druckte ab 1934 mehr als ein Dutzend; eine stattliche Anzahl fand 1934/35 Eingang in das satirische Wochenblatt Der Simplicus (später Der Simpl). Beide Publikationen wurden in Prag, Stefan Heyms erster Exilstation, herausgegeben, ebenso Der Gegenangriff und die Neuen Deutschen Blätter, die gleichfalls einige seiner Arbeiten veröffentlichten. Mit einer Reihe von Herausgebern dieser mehr oder weniger offen den Kommunisten nahestehenden Publikationen stand der junge Heym in persönlichem Kontakt. Die Schriftsteller Egon Erwin Kisch, F.C. Weiskopf und Ernst Ottwald zählten in Prag zu seinem Bekanntenkreis, auch Wieland Herzfelde, der Chef des angesehenen Malik-Verlags, und dessen Bruder, der für seine politischen Fotomontagen berühmte John Heartfield. „Eines Tages – es war im Winter 1933 – erschien in der Redaktion ein knabenhafter junger Mann und brachte ein Gedicht, in dem die Angstträume Görings besungen wurden“, erinnerte sich der österreichische Journalist Bruno Frei, einer der Gründer des Gegenangriff, gut drei Jahrzehnte später auf einer Konferenz über die Prager deutsche Literatur und die antifaschistische Emigration in der Tschechoslowakei an eine Episode aus jener Zeit. „Der Jüngling nannte sich Stefan Heym; er war eben aus Chemnitz eingetroffen.“ Auch die deutschsprachige bürgerliche Presse Prags, nicht zuletzt das Prager Tagblatt, öffnete sich dem jungen Autor, dem nun das Dichten und Schreiben zur wichtigsten Einnahmequelle für die Finanzierung seines Lebensunterhalts wurde, trotz nicht eben üppiger Honorare. Selbst demokratische tschechische Zeitungen druckten mitunter seine Arbeiten. Gelegentlich hat Karel Čapek, der damals wohl bedeutendste Schriftsteller der Tschechoslowakei, persönlich deren Übersetzung übernommen.
Nach seiner Übersiedlung in die USA gelangten bis 1937 mehrere Gedichte Heyms in den in Moskau herausgegebenen deutschsprachigen Zeitschriften Internationale Literatur und Das Wort zum Abdruck, darunter mit „Chicago“ eines der längsten, das er je verfasst hat. Aus einem Briefwechsel mit Johannes R. Becher aus dem Jahr 1936 ist bekannt, dass die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR (Veegar) erwog, unter dem Titel Anklagen einen Band mit etwa fünfzig Gedichten Stefan Heyms herauszubringen. Das Vorhaben wurde aber nie verwirklicht. Die stalinistischen Säuberungen innerhalb der Kommunistischen Partei begannen in jenen Monaten, kurz nach dem ersten Moskauer Schauprozess, ihre verhängnisvollen Schatten auch auf die in der Sowjetunion lebenden deutschen Exil-Literaten zu werfen. Heyms einstiger Prager Weggefährte Ernst Ottwald wurde bald darauf eines ihrer prominentesten Opfer.
Stefan Heyms eigene Erinnerungen an seine frühen Veröffentlichungen waren eher nebulös. Eine Zeit lang hielt er das folgenreiche Gedicht „Exportgeschäft“ vom September 1931 für sein erstes überhaupt. Offenbar erst im Zuge der Recherchen zu seiner 1988 erschienenen Autobiografie Nachruf stieß er auf Manuskripte, die Monate früher entstanden waren. Ein „sonderbarer Fall von Amnesie“, urteilte Heym. Fortan galt ihm „Exportgeschäft“ nicht mehr als der erste seiner ernsthaften literarischen Versuche, sondern als seine erste Veröffentlichung. Aber auch diese Annahme sollte sich als Irrtum erweisen. Einige Jahre nachdem er Nachruf herausgebracht hatte, tauchte der Abdruck eines Gedichts mit dem programmatischen Titel „Nie wieder Krieg!“ auf. Mit der Autorenangabe „Hellmut Flieg“ war es am 1. Februar 1930 in der Chemnitzer Volksstimme erschienen. Es gilt seither als seine früheste Publikation.
Wie lange er sich zu dieser Zeit bereits an zeitkritischen Versen versuchte, ist unbekannt. Mit knapp dreizehn Jahren, so erinnert sich Stefan Heym in seinen Memoiren, habe er für sich entschieden, „ein Schiller“ werden zu wollen. Der Drang, seinen Gedanken und Empfindungen dichterisch Ausdruck zu verleihen, könnte ihm in die Wiege gelegt worden sein, mutmaßte er. Auch sein in der preußischen Provinz Posen aufgewachsener Vater, Mitinhaber eines Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Textilunternehmens, „hätte lieber geschrieben als mit Trikotagen gehandelt“, sagte er einmal in einem Interview.
Der Künstler, so Heym an anderer Stelle, habe in seinem Elternhaus als „Respektsperson“ gegolten, „der Dichter gar, dessen Wort gedruckt, dessen Name auf einem Buchrücken eingeprägt war, [als] eine Art Hohepriester“. An erster Stelle nennt er Thomas Mann; Stefan Zweig und Romain Rolland erwähnt er als zeitgenössische Lieblingsschriftsteller seiner offenbar literarisch recht interessierten Mutter. Auch Heinrich Heine genoss, wegen seiner jüdischen Wurzeln als „einer von unseren Jungs“ apostrophiert, in der Familie allem Anschein nach großes Ansehen. Als eigene Vorbilder indes kristallisierten sich zunächst Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Walter Mehring heraus; auch Bertolt Brecht und einige der im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller organisierten deutschen Autoren sollten nicht ohne Einfluss auf sein Schreiben bleiben.
Von seinen frühesten Arbeiten der Emigrationszeit künstlerische Reife zu erwarten, wäre in Anbetracht der Jugend und Unerfahrenheit des Autors wohl vermessen. Stefan Heym selbst beurteilte seine in jenen Jahren entstandene Dichtung später eher zurückhaltend. So äußerte er etwa in Bezug auf „Exportgeschäft“: „Es war kein sehr gutes Gedicht. Aber es war ein sehr gut gemeintes Gedicht.“ Ähnlich heißt es im Nachruf über eine Arbeit aus der Emigrationszeit, diese sei „nicht sehr formvollendet, aber mit viel Herz geschrieben“. Manches entstand überdies nicht zuletzt aus materieller Not – das Couplet „Auf kapriziöse Art zu singen“, verfasst offenbar für ein Prager Varieté, kann als Beispiel dafür gelten. Gerade bei der vielfach stark didaktisch geprägten Verarbeitung aktueller gesellschaftlicher und politischer Themen kam es dem jungen Heym offensichtlich vor allem auf die Botschaft an, weniger auf die Gestaltung. Damit trug er nicht nur den Bedürfnissen seiner Abnehmer Rechnung, die ihre Publikationen vor allem als Instrumente im tagespolitischen Meinungskampf der zwischen Sektierertum und Einheitsfront schwankenden linken Nazi-Gegner begriffen. In seinem Verständnis von „Kunst als Waffe“ sah er sich vielmehr in einer Tradition, die weiter zurückreichte als die der parteipolitischen Zielen untergeordneten Agitprop-Bewegung der Weimarer Republik. „Ist Dichtung um ihrer selbst willen da? L’art pour I’art?“, fragte er 1936 in seiner an der Universität Chicago gefertigten Magisterarbeit über Heinrich Heines Poem „Atta Troll“ aus dem Jahre 1843. „Hat die Dichtung das Recht, in Zeiten wie in denen, da Heine lebte, sich in den Elfenbeinturm zurückzuziehen, schöne poetische Bilder zu produzieren, die das Leben vielleicht vergnüglicher aber auch sonst nichts machen?“ Die Konflikte damals, so Heym später rückblickend, mögen nicht die gleichen gewesen sein wie die der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts, „wohl aber wiederholen sich Konstellationen und Charaktere“.
Anders als Heine, dem er sein Leben lang verbunden war, machte Stefan Heym sich nicht wegen seiner Gedichte einen Namen, sondern in erster Linie als Romancier. Bereits Hostages, sein überaus positiv besprochener und bald auch verfilmter Debütroman von 1942 über den Widerstand in dem von den Nazis besetzten Prag, wurde in den USA ein Bestseller. Es war das erste von siebzehn größeren Prosawerken, die er im Laufe von sechs Jahrzehnten verfasste und die zum Teil überaus hohe Auflagen erreichten. Hinzu kommen Erzählungen, Märchen, Publizistiksammlungen – Gedichte aber spielten in Heyms schriftstellerischem Schaffen fortan keine Rolle mehr. Eine der wenigen Ausnahmen schrieb er anlässlich der Hinrichtung des in den Vereinigten Staaten wegen Atomspionage verurteilten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg im Juni 1953; zu einer Zeit, da Heym und seine erste Frau Gertrude die USA bereits verlassen und sich in der DDR niedergelassen hatten. Das Gedicht wurde in der SED-Parteizeitung Neues Deutschland gedruckt. Heym nahm es unter dem Titel „Eine Minute lang“ in einer deutsch- und einer englischsprachigen Version in seinen 1954 erschienenen Sammelband Im Kopf – sauber auf. Es sollte, soweit man heute weiß, das letzte Gedicht bleiben, das er veröffentlichte.

Michael Müller, Nachwort

 

Unveröffentlichte Gedichte des großen deutschen Schriftstellers

Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere schrieb Stefan Heym Gedichte. Erst später fand er im amerikanischen Exil zur Prosa. Im vorliegenden Band wird erstmals eine Auswahl aus den Jahren 1930 bis 1936 veröffentlicht; sie zeigen auf eindringliche Weise, dass sich Stefan Heym schon als ganz junger Mann gegen Nationalsozialismus, Militarismus und Unterdrückung stellte. Mit seinem satirischen Gedicht „Exportgeschäft“ etwa entfachte er 18-jährig einen Skandal, der seinen weiteren Lebensweg nachhaltig beeinflussen sollte. Nationalsozialisten und Rechtskonservative waren so erbost über das den Einsatz deutscher Militärberater in China anprangernde Gedicht, dass Heym seine Heimatstadt Chemnitz verlassen und sein Abitur in Berlin machen musste, wo er in der Weltbühne und anderen engagierten Zeitungen gesellschaftskritische Lyrik veröffentlichte.

C. Bertelsmann Verlag, Ankündigung

 

Was würde er dazu sagen?

– Bisher war fast unbekannt, dass der Schriftsteller Stefan Heym auch Gedichte schrieb. Jetzt erscheint zum heutigen hundertsten Geburtstag das frühe lyrische Werk. –

„Dieser Text ist verschwunden.“

Der uns da, von wo aus auch immer, ein wenig amüsiert über die Schulter blickt, um zu beobachten, wie wir uns aus der Affäre ziehen, wenn es gilt, heute, an seinem hundertsten Geburtstag, an ihn zu erinnern, das ist der 2001 während einer Reise nach Israel verstorbene Schriftsteller Stefan Heym. Wird denn, mag er fragen, sein abenteuerliches Leben angemessen rekapituliert, und werden seine aufsehenerregenden und überaus erfolgreichen Romane auch gebührend gewürdigt? Nein, muss ich zugeben.
Aber in Chemnitz beispielsweise findet am 11. und 12. April eine große internationale wissenschaftliche Konferenz zu dem Thema „Der Jahrhundertzeuge – Geschichtsschreibung und Geschichtsentwürfe im Werk von Stefan Heym“ statt, die zur Prämisse hat, dass „Stefan Heym in fast allen seinen Romanen authentische zeitgeschichtliche oder historische Ereignisse der deutschen und der Weltgeschichte” genutzt habe, “um seine Vision einer ,besseren‘ Gesellschaft zu entwickeln“. Und über Heyms Lebensweg, der ihn von seinem Geburtsort Chemnitz über Berlin sehr früh (kurz nach dem Reichstagsbrand) über Prag ins Exil nach Amerika und von dort als amerikanischen Soldaten wieder zurück nach Europa und in die DDR führte (die er noch 1989 für entwicklungsfähig im Sinne eines demokratischen Sozialismus hielt), kann man sich in seiner Autobiographie Nachruf (1988) hinreichend informieren. Den ironischen Höhepunkt seines Lebensromans erreichte Heym, als er 1994 als parteiloser Direktkandidat der PDS in das zweite gesamtdeutsche Parlament gewählt wurde und dort das Amt des Alterspräsidenten wahrnahm.
Von alledem soll hier nicht weiter die Rede sein. Denn es gibt neuerdings einen bisher nahezu unbekannten Stefan Heym zu lesen: den Lyriker. Von ihm wusste man bisher allenfalls, dass ein Gedicht, das er als Schüler 1931 unter seinem bürgerlichen Namen Helmut Flieg verfasst hatte, einen Provinzskandal auslöste und zum Rauswurf des Verfassers aus dem Gymnasium führte. „Exportgeschäft“ heißt dieses Gedicht, und es kritisiert mit deftiger Ironie die Militärhilfe in Form von Waffen und Experten, die Deutschland damals Tschiang Kai-scheks Kuomintang-Truppen leistete und an der höchste deutsche Militärs maßgeblich beteiligt waren:

Die Herren exportieren deutsches Wesen
zu den Chinesen! Zu den Chinesen!
Gasinstrukteure, Flammengranaten
auf arme, kleine, gelbe Soldaten –
Denn daran wird die Welt genesen…
Hoffentlich
lohnt es sich!

Über die literarische Qualität solcher Verse gab sich Heym später keinen Illusionen hin: „Es war kein sehr gutes Gedicht. Aber es war ein sehr gut gemeintes Gedicht“, schrieb er. Jedoch habe es sein Leben verändert. Hätte er sich nicht dazu entschlossen, es „unter der Schulbank zu schreiben, und hätte er dies Gedicht auch nicht während des protestantischen Religionsunterrichts in der dritten Stunde, von dem er dispensiert war, zur Redaktion der Chemnitzer Volksstimme getragen“, dann wäre Heym auch nicht gezwungen gewesen, „Deutschland bereits im März 1933 zu verlassen; vielmehr wäre er im Lande geblieben wie andere seinesgleichen und hätte mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölkchen über Auschwitz geendet“.
Oft genug hat er dieses Gedicht verdammt, widerrufen hat er es nie. Im Gegenteil. Heym schrieb in den ersten Jahren seines Exils, vor allem in Prag, weitere Gedichte über den faschistischen deutschen Alltag, über Hunger und Arbeitslosigkeit, die junge Männer in die SA trieb, über die Verfolgung der Juden, die Vorbereitung des Krieges, über den Mann aus dem Widerstand, der heimlich Flugblätter verbreitete, und über „die Welt“, die all das ignoriert oder die resigniert:

Die Welt wird erst wach werden, wenn sie spürt,
daß man sie plötzlich vergast.

Geschrieben im Jahr 1934.
Doch Heym verfasste nicht nur unmittelbar politisch-zeitkritische Gedichte. Der junge Flüchtling schrieb sich seine Einsamkeit in der Großstadt und in der Fremde von der Seele, und er bastelte sogar ein paar Liebes-„Sonette an Edna“. Er versuchte sich auch in satirischen Kabarettversen nach der Art seiner Vorbilder Walter Mehring, Erich Kästner und Kurt Tucholsky, deren zupackende, zugleich aggressive und unterhaltsame Schärfe er freilich nicht erreichte. Aber der „Morsesong“ beispielsweise, in dem zu verfolgen ist, wie die sensationellsten und die unwichtigsten Nachrichten aus aller Welt – vom Bankenkrach und dem Kindsmord bis zu Motorsportereignissen, Streiks, Rebellionen und Kriegsvorbereitungen – über die Ticker laufen, atmet durchaus paradigmatisch den Geist der zeitgenössischen Neuen Sachlichkeit, den man aus Gedichten Brechts, Kästners und Hannes Küppers kennt.
Alle Gedichte, die der von der zweiten Ehefrau des Dichters nun herausgegebene Band enthält, hat Heym im Alter von siebzehn bis 23 Jahren verfasst. Sie sind chronologisch angeordnet nach den Lebensstationen Heyms (Chemnitz, Berlin, Prag, Chicago). Einige von ihnen wurden unter verschiedenen Pseudonymen in linken Zeitschriften gedruckt, darunter in der Weltbühne und im Tage-Buch. Die meisten jedoch sind nur als Manuskripte erhalten, die im Heym-Archiv der Universität Cambridge aufbewahrt werden.
Dass es neben den „Frühen Gedichten“, die dieser Band in Auswahl enthält, auch spätere oder gar späte Gedichte Heyms gibt, wie der Titel suggerieren könnte, steht nicht zu erwarten. Das lyrische Werk Heyms bricht praktisch mit den Jahren 1936/1937 ab. „Gedichte… spielen in Heyms schriftstellerischem Schaffen fortan keine Rolle mehr“, schreibt Michael Müller im Nachwort. Nur von einer Ausnahme weiß er zu berichten: Anlässlich der Hinrichtung des wegen Atomspionage für die Sowjetunion verurteilten Ehepaars Ethel und Julius Rosenberg auf dem elektrischen Stuhl des Staatsgefängnisses Sing Sing in New York veröffentlichte Heym am 23. Juni 1953 im Neuen Deutschland sein Gedicht „Für Ethel und Julius Rosenberg“. Heym rief darin – eine Woche nach dem Arbeiteraufstand in der DDR – zu einer allgemeinen Schweigeminute auf:

Während zwei Herzen,
Wunderbare, kostbare Herzen
Zum letzten Mal schlagen

Wenigstens im Nachwort hätte dieses Gedicht in seinem vollen Wortlaut einen Platz finden sollen, zumal es das letzte Gedicht Heyms ist, von dem man weiß.

Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.2013

Ein unbequemer Widersprecher

– Stefan Heym hat ein Leben lang geschrieben, gedichtet und sich eingemischt. Aus Anlass seines nun 100. Geburtstag hat der Bertelsmann Verlag seine frühen Gedichte noch einmal herausgebracht. Und in einem Erinnerungsband schreiben Weggefährten, Freunde und Prominente über ihre Begegnungen mit Heym. –

Am 1. Februar 1930 erschien in der Chemnitzer Volksstimme das Gedicht „Nie wieder Krieg“ des erst sechzehnjährigen Gymnasiasten Helmut Flieg, der als Stefan Heym berühmt werden sollte. Eineinhalb Jahre später veröffentlichte er mit „Exportgeschäft“ ein weiteres Gedicht, in dem er die Deutschen als kriegstreibende Exporteure anklagt:

Wir lehren Mord! Wir speien Mord!
Wir haben in Mördern großen Export!
Hurra!

Wegen dieses Gedichtes kam es zum politischen Eklat. Der Sohn aus einem einflussreichen jüdischen Elternhaus musste das Gymnasium verlassen und legte in Berlin das Abitur ab. Nach Hitlers Machtübernahme war er gezwungen, Deutschland zu verlassen. Zunächst ging er nach Prag, später nach Chicago. Um seine in Deutschland gebliebenen Eltern nicht zu gefährden, veröffentlichte er seit 1933 seine Texte unter dem Pseudonym Stefan Heym.
Annähernd 300 Gedichte hat er zwischen 1930 und 1936 geschrieben. Aus diesem Konvolut hat Inge Heym eine Auswahl getroffen. Mit dieser Ausgabe liegt nun erstmals ein Teil seines lyrischen Werks vor. Die Gedichte zeigen Heym als einen engagierten Autor, der sich gegen soziales Elend und militärische Aufrüstung wendet. Mit der Feder prangert er Zustände an, die nicht hinzunehmen sind.
(…)

Michael Opitz, Deutschlandradio Kultur, 10.4.2013

Grenzgänger und Einmischer

– Der deutsche Schriftsteller Stefan Heym hat neben Romanen auch Gedichte verfasst, seine frühen hat die Witwe Inga Heym nun herausgegeben. Darunter ist heißspornige Klassenkampf-Lyrik sowie bitterer Spott über den Rassenwahn in Nazi-Deutschland. –

EXPORTGESCHÄFT 

Wir exportieren!
Wir exportieren!
Wir machen Export in Offizieren!
Wir machen Export!
Wir machen Export!
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport! 

Wir lehren Mord! Wir speien Mord!
Wir haben in Mördern großen Export! 

Was tun wir denn Böses?
Wir vertreten doch nur
die deutsche Kultur.

Hätte er dieses Gedicht im Alter von 18 Jahren nicht geschrieben und wäre es nicht von der sozialdemokratischen Chemnitzer Volksstimme abgedruckt worden, sinnierte Stefan Heym einmal, wäre er höchstwahrscheinlich als Wölkchen über Auschwitz geendet. So aber wird der junge Helmut Flieg vom Gymnasium geworfen, und seine unfreiwillige Weltenbummelei beginnt. Nachzulesen ist „Exportgeschäft“ nun in dem Band Ich aber ging über die Grenze – Frühe Gedichte, den Inge Heym, die Witwe des großen Romanciers und Publizisten, herausgegeben hat. Die vier Abschnitte des Buches sind nach den Städten unterteilt, in die es Heym zwischen 1930 und 36 verschlug. In Berlin kann Heym sein Abitur ablegen und mit dem Studium beginnen. Er dichtet weiter – unter anderem auch für Ossietzkys Weltbühne. Zum Schutz seiner Familie unter Pseudonymen wie Elias Kemp und Gregor Holm. Heißspornige Klassenkampf-Lyrik entsteht. Funktional und schmucklos, politisch engagiert – zugleich didaktisch. Heym will seine Mitbürger aufklären über die Entwicklungen in Deutschland.
Nach dem Reichstagsbrand flieht der zum linken Intellektuellen avancierende Jude nach Prag. Das für den Band titelgebende Gedicht entsteht: 

Ich aber ging über die Grenze.
Nichts nahm ich mit mir
Als meinen Hass.
Den Pflege ich nun.
Täglich begieße ich ihn
Mit kleinen Zeitungsnotizen
Von kleinen Morden,
Nebensächlichen Misshandlungen
Und harmlosen Quälereien.

Nach „Grenzübertritt“ erfindet er über Nacht noch ein weiteres Pseudonym: Stefan Heym.

Ich musste, nachdem ich in Prag angekommen war, nach meiner Flucht über die Grenze, meinen Eltern irgendwie Bescheid geben und einen Absender auf die Postkarte schreiben. Ich stand also nachts im Postamt in Prag und war gezwungen, mir irgendeinen Namen auszudenken. Und da fiel mir dieser Name ein. Ich weiß nicht woher und warum. Und später musste ich dann natürlich sehr viel unter Pseudonym arbeiten. Und noch viel später, als ich amerikanischer Staatsbürger wurde, habe ich mir diesen neuen Namen verpassen lassen.

Im Prager Exil kommt Heym rasch in Kontakt zu Publizisten und Herausgebern, die der kommunistische Bewegung nahestehen wie Egon Erwin Kisch, F.C. Weisskopf und Wieland Herzfelde. Seine Artikel und Gedichte erscheinen nun in Emigranten-Zeitungen. Heym schießt sich auf die Nazis ein, die seinen Vater in den Selbstmord getrieben haben. Die meisten anderen seiner Familienmitglieder werden in den deutschen Vernichtungslagern den Tod finden. Heym dichtet ein neues SA-Lied, in dem er den Trupp als bierseliges, prügelndes Gesindel darstellt und verbreitet bitteren Spott über den in Nazi-Deutschland um sich greifenden Rassenwahn. In seinem Gedicht „Deutsche Szene“ aus dem Jahr 1934 trennt sich ein Staatsbeamter von seiner jüdischen Geliebten:

Dass ich ein Schwein bin, weiß ich auch allein.
Doch bin ich es aus idealen Gründen:
Ein deutscher Mann hält seine Rasse rein.
Es war sehr schön, doch muss es nun ein Ende finden.

1935 kann Heym dank eines Stipendiums einer jüdischen Organisation Europa verlassen. Bis Abschluss seines Studiums an der Universität von Chicago publiziert er weiter Gedichte und journalistische Gelegenheitsarbeiten. Im amerikanischen Exil wird seine Lyrik stiller und selbstbezogener. Zwar bleiben seine Gedichte politisch, doch mischt sich mehr und mehr Verzweiflung hinein:

Wenn nur die Nacht nicht wäre mit den schweren,
Den jagenden Gedanken. Oh die Nacht,
Sie mordet mich. Ich wollte mich ja wehren –
Doch könnt ich es mit meinen leeren,
So armen Händen gegen diese Übermacht?

Aus dem Jahr 1936 datieren die letzten Gedichte Heyms. Mit Beginn des Krieges wechselt der deutsche Emigrant dann endgültig das Genre und legt mit Hostages seinen ersten Roman vor. Ein Bestseller, dem weitere folgen werden. Insgesamt 19 Romane schreibt Heym, zur Gedichtform wird er nicht noch einmal zurückkehren. Insofern ist der Band Ich aber ging über die Grenze durchaus eine Entdeckung. Sicher keine literarische – dazu sind Heyms Gedichte zu plakativ und eindimensional, zu sehr von der Sache und zu wenig von der Poesie bestimmt. Aber literaturhistorisch dürfte es eine kaum geläufige Tatsache sein, dass der Autor so wichtiger Romane wie des König David Berichts, Collin oder Ahasver als Poet gestartet war. Sicher müssen aufgrund der nun vorliegenden frühen Gedichte Heyms Romane nicht noch einmal neu gelesen werden, aber vielleicht machen manche der in ihren besten Momenten an seinen Säulenheiligen Heinrich Heine erinnernden Zeilen Neueinsteigern Lust auf den Autor Heym.
(…)

Matthias Eckoldt, Deutschlandfunk, 4.4.2013

Gereimte, humanistische Lyrik

Hier zeigt sich Heym als Humanist, der er war und bekämpft in seiner Lyrik latent Krieg und Antihumanismus. Erstaunend, dass er erst 18 Jahre alt war und noch gereimte Verse nutzte. Sehr schöne Gedichte, die man immer mal wieder gerne zur Hand nimmt und die trotz ihrer Beziehung zu den 1930er Jahren zeitlos sind.

caraffa78, amazon.de, 11.12.2013 

Wenig bekannte Frühwerke

Ein schön gestalteter Gedichtband mit Werken aus den Jahren 1930-1936, also der Zeit der Nazi-Machtübernahme und des Exils von Stefan Heym. Ein kompetentes, wenn auch mit zwölf Seiten kurzes Nachwort von dem Chemnitzer Journalisten Michael Müller rundet das Buch ab.
Ebenso wie Willy Brandt und Bertolt Brecht war sich auch Stefan Heym über die Gefahren des Faschismus im Klaren, und ebenso wie bei ihnen hat sein Standpunkt die Zeiten und Gesellschaftsordnungen überdauert. Aus seinen Gedichten dieser Zeit spricht der Schmerz über den Terror in Deutschland, dem er aus dem Ausland weitgehend ohnmächtig gegenüberstand.
Diese Texte sind eine wichtige Ergänzung für diejenigen, die sich für Stefan Heym oder das Ende der Weimarer Republik interessieren. Sie setzen aber auch historische Vorkenntnisse voraus.

Oliver Völckers, amazon.de, 1.11.2013

Sehr zeitbezogen!

Ich mag Stefan Heym – daß er Gedichte schrieb, wußte ich bis jetzt nicht.
Es sind teilweise sehr gute Verse – aber man spürt – natürlich – die Zeit, in der sie geschrieben sind, die Zeit nach der Weimarer Republik und die der Nazis mit dem beginnenden Terror.

Peter Höfner, amazon.de, 15.5.2013

 

 

 

Zum 20. Todestag des Autors:

Marko Martin: Dem IM „Kurt“ erzählte er nichts
Die Welt, 16.12.2021

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1 & 2 + IMDbArchivInternet Archive + IZA + Kalliope
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Stefan Heym: Zeugen des Jahrhunderts.

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