MENSCH ÄRGER DICH NICHT
Draußen die Toten im Regen.
Wir aber sitzen im Lichtkreis der Lampe
und spielen Mensch-ärger-dich-nicht.
Du darfst noch einmal würfeln.
Ob sie durch uns deutlicher werden?
So wie das Dunkel die Lampe erfand,
der Tod das „Mensch-ärger-dich-nicht“?
Jetzt fliegst du raus, mein Lieber.
Ach, wüßten die Toten da unten im Dunklen,
ob oben die Lampen noch funktionieren,
bis auch die Sterne ausgelöscht werden.
Mensch, wirf doch die Männeln nicht um.
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Die Dresdner und die Kölner Kunstausübung
Das wohl ist eine neo(n)romantische Standfigur: vor einer Frau auf einem Hocker im rötlichen Licht eines Fensters in Amsterdam wie vor einem Andachtsbild stehen, „vom Donner gerührt“:
weil alle Schönheit der Welt
in einer Hure wohnte.
(„Die Neonikone“)
Vorspiel und Rücklauf: Das Präludium des neuen Gedichtbandes von Thomas Rosenlöcher endet mit der Rückkehr nach Sachsen; das Ich ist wieder in vertrauteren Gefilden.
Im „stillen Grund“ beispielsweise. Der Titel des Gedichtes wäre zu ergänzen: „Ein Gleiches.“ Denn es ist das (ebenfalls 3ozeilige) Gegenstück zu „Friedrichsgrund“ (aus dem 1982 erschienenen Band Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz). Eine Wanderung im tiefgrünen Wald damals, imaginiert wird eine Begegnung mit dem toten Vater, schließlich wird das Ich gar Zeuge seiner Zeugung. Nun eine Schneelandschaft und ein Gang in „immer tiefre Wirrnis“:
Kein Mensch kam mir entgegen.
Nichtmal mein Vater, viel zu lange tot.
Nur noch ein Knochenbündel in der Erde.
Da mir es nun ja doch gelungen war,
ihn zu vergessen, denn ich ging und ging,
nichtahnend, daß ich längst wie er
im Gehn die Arme hinter mir verschränkte.
Und daß vor lauter Frost und Schnee
mir Bart und Haare weiß geworden waren,
als käme er in mir mir selbst entgegen
und keiner stürbe.
Konkret und gleichnishaft sind Rosenlöchers Gedichte, ganz in der Tradition klassischer und vor allem romantischer Erlebnislyrik, deren Motive, Topoi, landschaftlich-seelische Szenerien nochmals beschworen werden, gebrochen freilich durch die Ironie des Modernen. Denn Schönheit, die sie aufrufen, ist nicht Vorschein (im Sinne Blochs), sondern Nachschein und Eingedenken. Gedanke und Empfindung bleiben ganz an Anschauung und Vorgang geknüpft, Bewegung und Begegnung sind Charakteristika dieser Gedichte: Das Ich ist zumeist unterwegs, ob auf Spaziergang, Wanderung oder Reise, ob – jambisch gehend oder trochäisch hüpfend – per pedes oder im Auto. Die Begegnungen sind solche der wunderbaren und staunenmachenden wie der heimlichen und unheimlichen Art, Auslöser jedenfalls sehr bewegter Gefühle. Öfter ist das Ich wie vom Donner gerührt. Die blühenden Kirschbäume führen ein „donnerndes Requiem“ auf:
Da eine jede, jeden Ast
umdrängelnde Einzelblüte
die Summe der Seligpreisungen enthält.
(„Die Blütenfestung“).
Das ist nicht die einzige Baumblüten-Ikone im Band; die Bäume sind an die Stelle der Engel getreten („Engel hab ich mir abgewöhnt“); Gott wird nicht in der Höhe geschaut, sondern in Niederbobritschs Baumbestand, „schiefe Wunder“ auf dem Hang („Die Kirschbaumepistel“). Aber wir wollen nichts verklären, die Beziehungen sind konflikthaft: Das „Fahren-lassen-hin“ als „des Fahrens Sinn“ ist das Signum für den Schad-Stoffwechsel des Menschen mit der Natur („Die Frankreichfahrt“).
Jeder Weg, den das Ich in Rosenlöchers Gedichten geht, ist zugleich ein Stück Lebens-Weg, Gehen zugleich Vergehen. Und jede Begegnung mit Schönheit und also Vergänglichkeit wird zur Selbstbegegnung, im Andrang der Jahre nehmen die Augenblicke der Verstörung zu, das Todesmotiv durchzieht den Band. Das beginnt mit der Ahnung des lauernden Todes im Grabengrund („Erdsirenen“), reicht über die Erinnerung an den Tod des Großvaters – ein kleines Meisterstück in der Balance von Pointe und Innigkeit („Das Freischützfinale“) –, die Licht-Bilder aus der Kindheit bis hin zum einsamen „Schneegesicht“ im Winterwald, ein Text, dem die heftigen Lebenserregungen im folgenden „Elbtal“ kontrastieren. Das Titelgedicht übernimmt den spöttischen Part und nimmt das eher konservative Dresdner Kunstpublikum auf die Schippe:
In kaum einer Stunde zu Dresden
im Ansturm der Schönheit um Jahre gealtert.
Ist das nicht gar eine ironische Reminiszenz an Platens „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen…“
Was im Teil „Paradies der Betrachtung“ anklingt, wird im Teil „Der letzte Grund“ voll orchestriert. Das Schönheits- verknüpft sich mit dem Todesmotiv. Dem Gevatter Tod – er ist erst recht ständig unterwegs, treppauf, treppab – kann allein die Kunst ein Schnippchen schlagen („Mozart“). Die Kunst als Licht-Blick: Ein Gemälde ermöglicht den Blickwechsel von Lebenden und Toten („Breughels Ikarus“, „Volkszählung in Bethlehem“). Brockes Gottesbeweis wird ästhetisch reklamiert, wiederum ist es der „Kirschblütenzweig“, an dem der (Gattungs-)Blick haftet:
Alle Augen schauen dich an,
die je in eine Kirschblute sehn.
Bis deine Augen ihrerseits
durch fremde grüne Spiegel schwirren.
Bisher Notiertes könnte den Anschein erwecken, daß die Gedichte Dasein und Zeit weitgehend jenseits der Gegenwart verhandeln. Doch gerade das Zusammentreffen von individueller Zeit und historischem Umbruch, von Überschreiten der Lebensmitte und „Wendezeit“ verleiht diesem Band seine Eigenart. Wendezeit ist Westzeit, ein Zweizeiler macht es deutlich:
Die Stunden, die sich rechnen müssen,
von den Sekunden, die zählen, abziehen.
(„Minus“)
Ob in längeren Texten oder in epigrammatischen, spitzzüngig wird das neue Deutschland, in dem zusammengehört, was zusammenfährt, zum Gegen-Stand des Poeten. „Das geistige Zentrum des Orts war der Parkplatz“, heißt es im Gedicht übers Sauerland, in dem der Autor eine Zeitlang lebte und arbeitete und das er nun, glücklich ins Dresdner Weichbild zurückgekehrt, als „Sauerlandexil“ (!) erinnert. Die Gesellschafts- und Mentalitätskritik im englischen Sonett „Das Echo“ gilt u.a. einer „Umsicht“ genannten Geschäftigkeit, „… daß wer wie was wanns wo gibt weiß / und um den eignen Scheiß sich kümmern, Fleiß.“ Beinahe hätte ich das Gedicht wie manches andere als Beitrag zur Ost-West-Diskussion gelesen, wenn mich nicht einige Zeilen stutzig gemacht hätten – und richtig: Als Entstehungsjahr wird im Inhaltsverzeichnis 1988 ausgewiesen, das Gedicht also ein genuines DDR-Produkt, Zeugnis einer Mangelgesellschaft. Was aber bedeutet es, daß die zitierten Verse aktuell anmuten? Rosenlöchers Zeit- und Zivilisationskritik kommt traditionsmächtig von weither: Das „Echo“-Gedicht mit seiner Widerspenstigkeit – Dichters Trotz ist Dichters Glück – ist selbst ein Echo: auf Eichendorff beispielsweise, der vor über 150 Jahren seinen „Unmut“ über das Land äußerte, wo „Die Krämer fahren und das Grün verstauben“.
Ausdrücklich sei auf die Gedichte „Die Flaschenpost“ und „Benedikt verbrennt die Engel“ hingewiesen, die in großen zeitlichen Bögen die Geschicke des geteilten Deutschland ganz als Individualgeschichte mit ihren auseinanderdriftenden Erfahrungen und Gefühlen zur Sprache bringen. Zumal das letztere ist mit der Leuchtkraft seiner Bilder, dem Lakonismus wörtlicher Rede und balladesken Elementen als poetisches Resümee geteilten Lebens ein Glanzstück.
Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 511, Januar/Februar 1997
Von Kleinzschachwitz in die Welt
Die Dresdener Kunstausübung ist die dritte Sammlung mit Gedichten, die Thomas Rosenlöcher nach Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1983) und Schneebier (1988) vorlegt. Er erhielt im Dezember 1996 für sie den Strittmatter-Literaturpreis des Brandenburgischen Umweltministers. Auf einen neuen poetischen Ton hatte er uns schon mit seinem Dresdener Wendetagebuch Die verkauften Pflastersteine (1990) vorbereitet, indem er unerwartete Vorgänge in eigenwillige Bilder und Wörter brachte. Die neuen Gedichte zeigen, daß der Autor auch nach der Wende vor allem der poetische Landvermesser seines unmittelbaren Lebensumkreises, der Elblandschaft, des Kulturraums Dresden und seiner näheren Umgebung ist. Hier notiert er jetzt die rasanten Veränderungen einer im Umbruch befindlichen Lebenswelt. Er läßt in seinen Gedichten Bilder entstehen, notiert Eindrücke und Befindlichkeiten dieses Vorgangs. Im Beobachten und Beschreiben von noch Vorhandenem, von Landschaft und Lebenswelt will er drohendem Verlust entgehen. Er sucht idyllische Fleckchen, schafft Bilder, in denen die Sehnsucht nach der Idylle zugleich ironisch unterlaufen wird, weil sie so heil nicht ist. Von seinem Ort bricht er in die Welt des Neonlichts auf, um von dort ins Herkunftsgebiet zurückzukehren. Die Gedichte dieses Bandes setzen sich der dabei unvermeidlichen Spannung aus. Sie betrachten und registrieren die unmittelbare Umgebung, wobei Momente von stiller Andacht, Lebensdankbarkeit aufscheinen. In Versen über bedrohte Wiesen und Kirschbäume entstehen ergreifende Naturbilder. Den Hang zur Idylle verteidigen diese Gedichte als Menschenrecht. Zugleich sind diese Orte der Zugluft der unaufhaltsamen Zivilisation ausgesetzt. Im Bild der „Neonikone“, das als Motto gleichsam dem Band vorangestellt ist, hält er die Befindlichkeit zwischen solch gespannten Polen fest; damit gibt er zugleich ein treffendes Bild für die Entwertung des Menschlichen in der Verwertungsgesellschaft. Als Ergebnis der Spannung zwischen dem letzten, beinahe noch heilen Naturflecken und der Neonwelt des zivilisatorischen Zeitalters notiert er das „Minus“ als Lebensmaxime:
Die Stunden, die sich rechnen müssen, von den Sekunden, die zählen, abziehn.
Die Stimmung des lyrischen Ich schwankt zwischen Trauer und Sehnsucht, der Ton der Verse zwischen Melancholie und Sarkasmus. Anflüge zum Selbstmitleid werden ironisch gebrochen, der Autor ist sich deutscher elegisch-romantischer Literaturtradition bewußt und spielt mit ihr, um Abstand zu gewinnen. Das Ich sucht einen Ort in der Welt der neuen Widersprüche. Er sieht sich einerseits als „Ostbarbar“ auf der Flucht vor den neuen Segnungen, andererseits als „Stoßstangentier“ eingereiht in die neuen Gewohnheiten. Aus dieser Spannung heraus gibt er in „Auf eine Umfrage von Radio Veronika“ sarkastisch über Befindlichkeiten Auskunft:
DIE DEUTSCHE SEELE
Wo die deutsche Seele ist?
Woher soll ich das wissen.
Am ehesten in Kleinzschachwitz.
Am ehesten in mir.
Aber auch ich bin zur Zeit unterwegs.
Endlos kreisend sucht sie sich
selbst auf den Autobahnen.
Beim Betrachten des letzten Grundes, dem viele Verse des fünften Abschnitts gewidmet sind, mehren sich Melancholie und Todesgedanken. Aber auch sie werden wie aufkommendes Selbstmitleid ironisch gebrochen.
Dort in der Wälder Schatten.
In den Stämmen knistert der Tod.
Und über dunklen Fichtenzacken
kopfgroß ein Sternlein flüstert.
Vorgestern ging Alexander ins Nichts.
Gestern Rom. Eben der gewisse Wissarionowitsch.
Nur ich lauf noch immer umher.
In Die Dresdener Kunstausübung gewinnt einer aus dem Unzeitgemäßen den Impuls seiner Poesie. Er möchte seinen poetischen Standort in den Lüften beziehen, im letzten blühenden Kirschbaum in den Elbwiesen, bevor „Das Immobilistenballett“ der Betonierer auf der Bildfläche erscheint. Solche Sehnsucht und solche Furcht hält er mit seinen Versen fest.
Ursula Reinhold, Berliner LeseZeichen, Heft 3, 1997
Das sauerländische Exil
– Ganz bei sich: Thomas Rosenlöcher bleibt in Kleinzschachwitz. –
„Dieser Text ist verschwunden.“
Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.1.1997
Thomas Rosenlöcher: Die Dresdner Kunstausübung
Thomas Rosenlöcher hat sich mit seinen zwei bisherigen Gedichtbänden einen besonderen Platz in der deutschen Lyrik erworben. Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1982) und Schneebier (1988) zeigen den Dichter als Spurensucher: nach Schönheit, die doch noch irgendwo vielleicht einen Ort haben müßte, notfalls ,nur‘ in der Dichtung. Die DDR, aber der Westen nicht weniger, bot solchem Programm wenig Anhalt, und die Töne Rosenlöchers wurden immer sarkastischer, dunkler. Schließlich kam eine lange Pause, Rosenlöcher probierte, mithilfe einer an Heine orientierten Reiseprosa das Thema ,Wende‘ zu bewältigen. Jetzt ist er wieder als Lyriker präsent, sozusagen auf eigenstem Terrain.
„Paradies der Betrachtung“ heißt eine Abteilung des neuen Bandes, die den Naturblick vergangener Zeiten, die Selbstversenkung im stillen Grund, noch einmal ausprobiert. Ein Schnee wird da als „ein kleiner Jubel Glück“ begrüßt, die Landschaft erscheint wie ewig, als ob „keiner stürbe“. Und doch kann man das Gedicht „Der stille Grund“ auch anders lesen. In „immer tiefre Wirrnis“ geht das Ich; daß der Bach „nur zu sich selbst noch“ redet, steht immerhin gegen das romantische Credo, daß die Natur zu uns spricht. „So lebte ich. Kein Mensch kam mir entgegen“: das verweist eher auf eine Schneewüste denn auf eine Idylle, wie denn auch das Stieben des Schnees „irrsinnig“ heißt.
„Wo ist die Mühle?“ fragte mich der Bach.
„Zerfallen“, sprach ich. „Und der Rest zerbaut.“
Doch immerhin gehen viele Gedichte, geht Rosenlöchers Poesie im ganzen noch davon aus, daß da, „im Untergraben, in der tiefsten Dumpfe, / von Laub verschüttet, noch ein Rauschen“ ist. Das ins Wort zu bringen, scheint, wie die Gedichte zeigen, kein ganz vergebliches Unterfangen. Und es klingt wie eine Strafe für den Birnbaum, wenn es angesichts seiner Blüte heißt, sein „schwereloses Weiß bleibe verwüstet von Wortlosigkeit“. Das bezieht sich auf den Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes, dem Rosenlöcher ein schönes Gedicht gewidmet hat. Darin heißen die Kirschblüten „gewimperte Seelenklaviere“, und das Weiß der Blüten:
Kein Schnee, der genannt werden darf,
um nicht ihr Weiß zu verfinstern
Eine überbietende Geste – Brockes hatte angesichts eines blühenden Kirschbaums bemerkt:
Ich glaubt’, es könne nichts von gröss’rer Weisse seyn,
Es schien, ob wär’ ein Schnee gefallen
Der Blick auf die Natur soll diesen beiden Dichtern zufolge den Menschen aus der Enge herausführen, ihn zur Besinnung bringen, Physikotheologie hat man das genannt, und Rosenlöchers Gedichte zeigen, wie nötig das ist. Wie Natur fast nur noch als Zitat ihrer selbst erscheint, so kann auch dieses Lyrikprogramm sich nur als Hinweis vortragen.
Es müßte dem Leser gelingen, den leisen Humor wahrzunehmen, der die mit dem Erbgut spielenden Verse Rosenlöchers grundiert. Das gilt fürs Titelgedicht, das die „Dresdner Kunstmumien“, ein Uralt-Publikum, freundlich hochnimmt; auch wenn ein neuer Rucksack als „totschick“ gerühmt wird, als „Unsterblichkeitsblase“, nützlich „beim Biedenkopf zum Sektempfang / und unter den Bierbüchsenheinis“. Das Ich, das Rosenlöcher durchaus ähnlich sieht, freut sich am Echo der Zeitung:
Ich habe das Stadtbild belebt
Auf Belebung kommt es dieser Lyrik an, Rosenlöcher sagt auch „Hirngefunkel“ dazu. Er staunt die Sterne an und meint damit gewiß alles, was noch des Staunens wert ist. Es erscheinen auch Zeitbezüge, aber immer sind sie strikt poetisch umgesetzt. Ein großes Gedicht, als Ballade gebaut, heißt „Benedikt verbrennt die Engel“ und führt in die Spätzeit der DDR zurück, mit Ausreisevisum, Spitzeln auf dem Bahnsteig, Zurückbleibenden, mit Wende, Mißtrauen und Resignation. „Totale Kirschblütenverschüttung“ heißt es tadelnd mitten in der Immobilisten-Gier nach 1989: „der Kirschbaum muß weg zwecks Tiefgarage“. Man wollte, daß das linkisch übertreibende Poesie wäre, es gilt aber nicht nur für Kleinzschachwitz. „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ – damit hatte sich Mörike von seiner Zeit abgegrenzt. Rosenlöcher setzt eine paradoxe Formel aus dem Wissens-Erbe der DDR darauf:
Was aber untergeht, scheint zukunftszugewandt
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 4, 1996
Der eigene Ton
oder Das langsame Heraufkommen von Dampfschiffen aus der Flußbiegung
Jürgen Engler: „… daß ich gestern wieder einmal recht spazieren war, so zu sagen unendlich, auf allen Landen herum, um Heerschau über alle Schönheiten zu halten, über lebende und leblose.“ Das ist ein Zitat aus Adalbert Stifters „Feldblumen“. Das „rechte Spazieren“, um Heerschau über die gegenwärtigen wie die vergangenen Schönheiten zu halten – ist das der stille Grund des Gedichteschreibens? Und wie entstehen deine Gedichte? Schon beim Spazierengehen?
Thomas Rosenlöcher: Nun ja, eine Heerschau ist es gerade nicht, zumal einem wohl bald eine Feldblumenvernichtungsmaschine entgegengeklappert kommt. Und doch will es immer wieder versucht werden, dieses Herumspazieren „auf allen Landen“, um die, wie du sagst, gegenwärtigen und vergangenen Schönheiten ins Auge zu fassen, gerade weil sie längst abgetan scheinen, zumal für das Gegenwartsgedicht – voriges, bald vorvoriges Jahrhundert, nicht wahr –, das rechte Spazieren aber gleichwohl ein Menschenrecht ist. Habe kürzlich im preußischen Kiefernwald ein Auto merkwürdig langsam die Waldwege abfahren gesehen und eine Weile gebraucht, um zu begreifen, daß es ein Pilzfreund war, der vom Auto aus nach Pfifferlingen suchte. Schlimm für die Pfifferlinge, schlimmer für den Pilzfreund. Weil zu Fuß gesuchte Pilze natürlich besser schmecken. – Doch auch hinter meinen Brillengläsern findet das Waldsterben statt. Und während gegen äußere Zerstörungen immerhin protestiert werden darf, geht der Verlust von Wahrnehmungen eher unmerklich vor sich, bis auch die Verluste nicht mehr wahrgenommen werden. Freilich sind die Gedichte der letzten vierzig Jahre voller Verlustmeldungen. Die „Furie des Verschwindens“ erscheint mir hinreichend beschrieben, vor allem von westdeutschen Kollegen. Doch das dauernde „Nein“ und „Nicht mehr“ hat auch im Gedicht zu einer gewissen Abstraktion geführt, die das Verschwinden indirekt affirmiert. Mir jedenfalls erschiene es überflüssig, die nun auch im Osten um sich greifende wohlstandsgesättigte Ereignisloskeit noch einmal von vorn zu beklagen. Und vielleicht ist es auch möglich, im Nein wieder Ja zu sagen. Anstatt Verlust nur zu konstatieren, Vorhandenes zu bewahren versuchen. Entgegen der eigenen Wahrnehmungsunfähigkeit die Dinge erneut anzuschauen, wenigstens im Wort. Kein Hauptweg, bitteschön, eher ein Seitenpfad.
Doch selbst wenn das „rechte Spazieren“ gelingt und die verbliebenen Feldblumen vollständig angetreten sind, müssen nicht unbedingt gleich Gedichte entstehen. Meist geht es bei mir umgekehrt: Je schöner ringsher die Landschaft, desto stummer ich. – Viel zu groß der Abstand, zwischen dem, was ich sehe, und dem, was ich zu sagen vermag. Aber vermutlich ist gerade dieses Spannungsverhältnis eine psychologische Voraussetzung: Stummheit, im wahrsten Sinn des Worts, der „stille Grund“ des Gedichts. Eigentlich schreibe ich, weil mir die Worte fehlen.
Freilich ist das mehr so ein Grundgefühl, eine Melancholie, die geheimgehalten werden muß. Auch vor mir selbst, weil sonst das Suchen nach Worten zu vorsätzlich wird. So wie wir als Kinder niemals mit offenem Taschenmesser durch den Wald laufen durften, weil sich sonst die Pilze vor Schreck versteckten und wir erst recht nichts fanden. Noch heute klappe ich das Taschenmesser vorsichthalber gleich wieder zu, auch wenn ich den nächsten Pilz schon im Auge habe. – „Ich ging im Walde so für mich hin / und nichts zu suchen, das war mein Sinn…“ – Erst wenn es mir gelingt, den Umstand zu vergessen, daß ich möglicherweise der Lyriker Soundso bin, erst wenn ich mich endlich wieder mit mir selbst zu langweilen vermag, tauchen Stimmungen oder Zeilen auf, die unter Gedichtverdacht stehen. Ursprüngliche Intuition, wenn das nicht zu hochtrabend klingt. Der Impuls, auf den ich wirklich angewiesen bin, ohne den nichts zu schreiben wäre. Und der meist zu heftigem Notizbuchgekritzel führt. In einer kurzen Begeisterungsphase, in der ich mich für Goethe halte. – Und auf die stets Ernüchterung folgt: die zweite Phase, die Arbeit zu nennen ich mich mit mir geeinigt habe. Die aber eigentlich eine Krankheit über Wochen und Monate ist. Weil – ob ich auch das Ganze schon vor mir sehe und manche Zeile auch schon habe – auf dem Papier immer wieder etwas anderes steht, als ich eigentlich dachte. Verteidigung der ursprünglichen Intuition. Suche des eigentlichen Textes; einer unfaßbaren Wolke, knapp über meinem Kopf.
Engler: Die „Suche des eigentlichen Textes“ – ist sie vielleicht davon motiviert, an ein Glücksversprechen des Einverständnisses mit der Welt zu erinnern, wie man es in der Kindheit erfahren hat und es einzufordern?
Rosenlöcher: Ja, an ein Glücksversprechen erinnern, an ein Einverständnis, das trifft es. Und geht schon auf Kindheit zurück, die in meinem Fall ja eine Stadtrand-, eine Elbwiesenkindheit war. Und mit dem langsamen Heraufkommen von Dampfschiffen aus der Flußbiegung zu tun hatte. – Dazu bekenne ich mich gern, auch wenn ich dadurch noch weiter in die Idyllikerecke gerate (Abteilung Harmlosigkeit). Doch Einverständnis einfordern heißt ja eben nicht, dieses Einverständnis zu haben. Und in einem so „verflucht hübschen Nest“ (Carl Maria von Weber) aufgewachsen zu sein kann gerade bedeuten, ein gewisses Sensorium für Verluste entwickelt zu haben. Als ich nach 1990 einige Zeit am Ruhrgebietsrand in einer ziemlichen Nullacht-fünfzehn-Gegend lebte, und nebenan wurde ein Haus abgerissen, ein wirklich schöner Jugendstilkasten, da dachte ich, nur weiter so, denn es war eh egal. Aber in meiner Gegend, na ja, bald ist es auch hier nicht mehr ganz so schlimm. – Idyll schließt für mich auch die Mitteilung über Verluste ein. Die Frage: Wie und wo lebe ich?
Und das ist sicherlich auch ein Schreibantrieb: die Spannung zwischen der eingangs von dir zitierten „Schönheit“ und der eigenen, bescheidenen, Existenz. – Sinnsuche, Transzendenzbegehren. Geht das verloren, wird es für mich wohl auch vorbei sein mit den Gedichten. Weshalb die jetzige Zufriedenheitsgesellschaft schon eine Bedrohung für die Poesie ist; ertappe mich ja längst selbst dabei, ziemlich einverstanden am Tisch einer Autobahnraststätte zu sitzen.
Engler: Manche sehen die Kindheit als entscheidend an für die „Konditionierung“ zum Dichter, andere meinen, daß ihr Einfluß auf das Erwachsenendasein überschätzt wird, und sehen die im weiten Sinne pubertären Jahre gegen Ende des zweiten Lebensjahrzehnts als prägend an, erst recht, wenn sie in gesellschaftlich unruhige Zeiten fallen. Und welche Rolle spielt der Nachahmungseifer, welche Bücher und Autoren waren wichtig für dich, denn vor der Schreiblust kommt ja wohl die Leselust?
Rosenlöcher: Ach, ich weiß nicht… „Konditionierung zum Dichter“. Auch meine Frau behauptet andauernd, mit einem Dichter verheiratet zu sein. Es ist leider üblich geworden, jeden einen Dichter zu nennen, der auch etwas geschrieben hat. Aber eigentlich ist Dichter eine Ehrenbezeichnung. Rilke und solche Leute dürfen Dichter heißen, aber doch nicht Rosenlöcher. Und selbst der, von mir natürlich auch geträumte, Traum, womöglich ein Dichter zu sein, reicht nicht unbedingt für ein Leben. Wie viele Großtalente haben selbst wir inzwischen auftauchen und wieder verschwinden sehen. Worauf ich hinausmöchte: Auch die „goldenen Stühle“, auf denen, nach Brecht, die sitzen, die schreiben, wollen täglich neu erklommen sein, selbst wenn es, wie in meinem Fall, nur ein gewöhnlicher Küchenstuhl ist. Denn wenn mich, was ich schreibe, nicht trägt, wenn ich mich beim Schreiben selber nicht spüre, komme ich niemals über drei Zeilen hinaus, muß ich vom Stuhl herunter, heißt es: Ade, Gedicht. Und eben das ist meine Angst, eines Tages den Kontakt zu den Dingen zu verlieren, und sei es zu meiner Kaffeetasse, die mir ohnehin immer wieder aus den Augen gerät. Und eben darum schreibe ich, um zu den Dingen nicht den Kontakt zu verlieren, und sei es zu meiner Kaffeetasse, über die ich übrigens noch nie geschrieben habe, so daß sie für mich noch gar nicht richtig vorhanden ist.
Aber deine Frage ist ja, wie einer zum Schreiben kommt, und auch ich kann hier nicht unbedingt die Wochen und Jahre nach der Geburt für mich in Anspruch nehmen. Dennoch scheint mir die Kindheit, wenn auch keine hinreichende, so doch eine notwendige Vorbedingung zu sein. Das Gefühl, zu den anderen nicht ganz dazuzugehören, obwohl ich doch so gern dazugehört hätte. Wobei dieses Gefühl eigentlich durchgängig war, später nur zugenommen hat. Mißlungene Sozialisation findet sich wohl in allen Schriftstellerbiographien. Obwohl ich nach außen hin eher als Leichtfuß galt, eigentlich heute noch gelte. Bin etwas unlustig, darüber zu reden, zumal ich darüber (in dem „Ostgezeter“-Buch) schon bißchen was geschrieben habe, über meine Ängste etwa. Hatte wohl bereits als Kind ein Gefühl für die Bedrohung meiner Kleinzschachwitzwelt gehabt. Wir wohnten in einem riesigen, verwilderten Grundstück, und auch mein Vater hat damals schon Bäume abgeholzt, um massenhaft Koniferen zu pflanzen; seitdem hasse ich Gartenarbeit. Und der jetzige Untergang dieses Gartens und die zunehmende Zerbauung auch dieser Gegend ist für mich eigentlich nur die Fortsetzung einer alten Geschichte. – Schon geschrieben habe ich auch darüber, daß die Gedichtversuche für mich, spätestens vom Ökonomiestudium an, ein Sichwehren gegen tote Sprache war. So wie ich auch als Kind wie ein Wahnsinniger gelesen habe, um den Eltern und vor allem der Schule zu entkommen. (Erst seit 1989 hat, wie bei vielen, auch bei mir diese Art der Sinnsuche nachgelassen, aber das wäre ein eigenes Thema.) Es gibt ein Kinderphoto von mir, da sitze ich dick vermummt mit Bommelmütze im Garten und lese; vermutlich den Kampf um Rom, es kann aber auch Romeo und Julia gewesen sein. Gedichte kamen erst später hinzu, und ich besitze noch einige Büchelchen, in die ich meinen Weltschmerz schrieb und die einmal anzuschauen ich bis heute nicht die Kraft habe. Nachahmung, natürlich Romantiker, ein Reclambuch mit modernerer französischer Lyrik ist mir auch erinnerlich. War schon über fünfundzwanzig, verheiratet etc., als ich mich endlich ungefähr zwischen Bobrowski und Becher hindurchgemendelt hatte.
Engler: Bist du der letzte Vertreter der „Sächsischen Dichterschule“? Mit Autoren wie Braun, Mickel, Kirsch, Czechowski, Gosse stellst du dich in die poetischen und poetologischen Traditionen deutscher Lyrik seit Klopstock, bevorzugst du den Vers gegenüber der Zeile, traditionelle Bauformen des Gedichts gegenüber dem Textgewebe.
Rosenlöcher: Jetzt wird es schwierig für mich. Habe ja eben erst auf die inflationäre Verwendung des Wortes Dichter geschimpft, und nun kommst du mir gleich mit einer ganzen Schule von Originalgenies. Und in der Tat scheinen mir die Begriffe „Schule“ und „Dichter“ ein Widerspruch in sich zu sein. Meines Wissens hat es in Deutschland innerhalb der Romantischen sonst nur die Schwäbische Dichterschule gegeben, und was von der zu halten ist, weiß man seit Heinrich Heine. – Darf ich mich deshalb auf Adolf Endler beziehen, der den Begriff „Sächsische Dichterschule“ schließlich geprägt hat? Und gewiß auch ironisch meinte, um sich selbst davon abzugrenzen? Die Sächsische Dichterschule – so er, wohl doch nicht ganz ohne Sympathie, vor kurzem in einem Gespräch – verbinde im Gedicht Überkommenes mit Modernität. Dabei gäbe es zwei Sächsische Dichterschulen, wobei die Zweite, so er, nicht ich, eigentlich nur aus Thomas Rosenlöcher bestünde. War schon ein Hammer für mich, plötzlich ganz allein eine Dichterschule zu sein, wenn auch nur die zweite. Aber der Gedanke, daß es sich hier, trotz oder bei aller Handwerklichkeit, um moderne Gedichte handelt, war mir nicht unangenehm. Und es gibt noch weitere Bestimmungsstücke, die Rainer Kirsch genannt hat – (u.a. in einem Nachruf auf Richard Leising, wobei Leising unbedingt mit hierher gehörte, wenn Namen genannt werden; Leising ist wohl überhaupt der einzige, den wohl alle „Mitglieder der Sächsischen Dichterschule“ als „Mitglied der Sächsischen Dichterschule“ bezeichnen würden. Wulf Kirsten sollte aber auch erwähnt werden, auch Richard Pietraß, der dann zur Zweiten Dichterschule gehörte, so daß unsereins nicht mehr ganz allein in der Gegend herumstünde) –; gemerkt habe ich mir jedenfalls die Beobachtung Rainer Kirschs, daß das Gedicht dieser Autoren nicht von vornherein aus Metaphern bestünde, sondern das ganze Gedicht erst die Metapher sei. Und tatsächlich ist festzustellen, daß sich die meisten dieser Leute, mehr als sonst bei Gedichtschreibern üblich, außer für sich selbst auch noch für die Wirklichkeit interessieren.
Trotzdem gibt es, neben unbestreitbaren Gemeinsamkeiten, auch beträchtliche Unterschiede, und manches scheinbar Besondere findet sich anderweitig ebenfalls, so daß ich dann doch wieder im Zweifel darüber bin, ob es „uns“ überhaupt gibt. Freilich, diese Zeit braucht das Etikett, ohne Etikett keine Markenware, und vielleicht ist das Prädikat „Sächsische Dichterschule“, möglichst deutlich auf die Stirn aufgedruckt, eine Möglichkeit, sich, über das nächste Jahrtausend hinweg, wenigstens in die germanistischen Seminare zu retten.
Wahr ist allerdings, was mich betrifft, daß ich, so ab die Zwanzig, also in entscheidender Phase, die Gedichte der damals etwa Dreißigjährigen immerzu gelesen habe – und da wohl auch manches gesehen: plebejische Intellektualität bei Mickel, regionalen Bezug bei Kirsten, Einfordern der Utopie bei Braun, Lockerheit bei Sarah Kirsch; bei fast allen Sinnhaftigkeit und Gegenständlichkeit, zudem die Möglichkeit, im Gedicht zu erzählen (auch bei Endler). Eine besondere Entdeckung war für mich Greßmann, bei dem habe ich gesehen, daß man im Gedicht auch staunen darf. – Aber bitte: Glaube trotzdem, daß ich auch ohne solche, nicht unwichtigen, Bezüge ungefähr so geschrieben hätte, wie ich geschrieben habe. Wesentlicher als literarische sind die sonstigen, gemeinsamen Erfahrungen allemal; und gemeinsame Erfahrungen gab es im Osten zuhauf – zumal unsereins von den sonstigen Leuten durch ähnliche Lebensumstände viel weniger abgetrennt gewesen ist als heute: vielleicht die eigentliche, das Schreiben bis in den Stil hinein bestimmende Prägung.
Klopstock, nebenbei bemerkt, kann ich, abgesehen von den berühmten fünf, sechs Gedichten, überhaupt nicht leiden. Er erinnert mich an Johannes R. Becher, der fast immer den falschen Ton traf in seinen vielen, vielen Gedichten, ob nun als Expressionist oder Sonetteschreiber. Weshalb ich auch aus dem Vers nicht unbedingt eine Religion machen würde. Wichtiger ist, daß der Ton stimmt; daß du spürst, da redet jemand Bestimmtes, einer, dem du glaubst, was er schreibt.
Engler: Sind Gedichte, ich zitiere ein Wort von Karl Mickel, „letzte Dinge“ für dich?
Rosenlöcher: Ich weiß nicht. Eigentlich sollte ich dich das fragen, denn auch das müßte am Ton spürbar sein. Der, wie es bei Heaney heißt, über das Handwerkliche hinaus, Ausdruck einer „erlittenen Welt“ sein sollte. Was, in meinem Verständnis, Leichtigkeit nicht ausschließen muß, so daß es sich wohl auch um einen „Unterton“ handeln kann. Außer dem Idylliker- und dem Dichterschulenstempel trage ich ja noch die Aufschrift „Sächsischer Humor“. Die mich gar nicht stören würde, setzte man nicht hierzulande Leichtigkeit noch immer gern mit geringerem Tiefgang gleich. Richtige Kenner nehmen es oft übel, wenn sie versehentlich lachen mußten. Vor allem, wenn der Lachgegenstand ein realistischer war. Immerhin ist mein erster Gedichtband seinerzeit beim Aufbau-Verlag wegen „Sächsischen Humors“ abgelehnt worden, wobei ich damals noch nicht einmal ahnte, daß es dergleichen überhaupt gab. Auch heute bin ich nicht etwa darauf aus, an der und der Stelle möglichst humorvoll zu sein, sondern versuche eigentlich nur, etwas für mich auf den Punkt zu bringen. Glaube dabei allerdings, daß – um einen Hölderlinsatz umzukehren – sich die Trauer auch in der Freude auszusprechen vermag.
Doch um deine Frage wenigstens ein bißchen zu beantworten: Ich selber habe oft das Gefühl, daß das Gedicht, an dem ich gerade sitze, mein allerletztes sei; unfähig, es aus der Hand zu legen, etwa um ein anderes anzufangen, so daß ich meine Frau bitten muß, es mir wegzunehmen und vor meinem Ungenügen zu verstecken. Freilich, wenn ich mir vorstelle, daß ich jetzt tatsächlich mein allerletztes Gedicht zu schreiben hätte, ich weiß nicht, ob dann etwas anderes herauskäme als Gestammel. Was ich möchte, ist ja nur, daß, über alle Botschaften hinaus, das jeweils Beschriebene auch wirklich spürbar wird. Bin dir deshalb übrigens dankbar dafür, daß du eingangs gerade auf das Gedicht „Der stille Grund“ angespielt hast. Wenn ich nur ein einziges Gedicht von mir mitnehmen dürfte, würde ich wohl dieses nehmen. Und es macht mich traurig, es schon geschrieben zu haben.
Engler: Dein Spaziergang durch „schöne Natur“ ist zugleich ein Spaziergang durch die deutsche Lyrikgeschichte – von Walther von der Vogelweide über Brockes, Klopstock, Eichendorff bis hin zu Rilke. Die Gedichte nehmen Abschied von „schöner Natur“ – damit ist sie als Landschaft ebenso gemeint wie ihr Bild im Gedicht, das wohlgeratenes Dasein verspricht. Deine Landschaften weiten sich oft aus zu „kosmischer Weltenlandschaft“, nochmals werden vertraute ikonographische Muster, Motive, Mythen aufgerufen, mit Sehnsucht und Ironie gleichermaßen. Du nimmst damit eine singuläre Position in der gegenwärtigen Lyrik ein: durch die enge Bindung an die poetische Tradition einer Empfindungslyrik, die zugleich eine Weltanschauungslyrik im Wortsinn ist (eine Lyrik also, die die Welt anschaut), im Unterschied oder auch Gegensatz zu jenen Positionen, die demonstrativ den Eigenwert der lyrischen Spezialsprache gegenüber menschlicher Umgangssprache hervorheben, wenn sie nicht gar der Sprache selbst den Subjektstatus einräumen. Ein anderer Aspekt sei noch hervorgehoben: Die menschlichen Begegnungen in deinen Gedichten sind Begegnungen gleichsam auf Augenhöhe; der menschlich-gesellige Blick regiert die Texte, nicht der naturgeschichtliche, der mitleidlos distanzierte oder sarkastisch sezierende. Wo siehst du dich in der heutigen Lyrik?
Rosenlöcher: Daß bei mir manchmal ein heimliches „Wir“ mitschwingen muß, damit ich überhaupt „Ich“ sagen kann, ist mir erst seit meinem letzten Gedichtband klar geworden. Und hat mir als Begründung dafür gedient, warum diese Gedichte doch ziemlich ins Leere gegangen sind. Richtige Ich-Intellektuelle dürfen solche Gedichte gar nicht gut finden; und die einstigen Freunde meiner Sachen lesen größtenteils keine Gedichte mehr. Bin unterdessen jedoch entschlossen, die Marginalisierung tapfer auszuhalten, wie die meisten meiner Kollegen auch. Ein heimliches „Wir“ aber brauche ich noch. (Gemeint ist nicht etwa ein kollektiviertes, sondern ein „Gegen“-Wir; Adorno hat hier, im Bezug auf Brecht, von „kollektivem Unterstrom“ gesprochen). – Darf also um Gottes willen nicht wissen, daß dieses Wir im Schwinden ist. Vielleicht reicht es noch eine Weile, wenigstens für mich.
Was nun den Spaziergang durch die Lyrikgeschichte betrifft, so lasse ich mir da manches hernach selber gern erklären. Und habe nichts dagegen, wenn sich Bezüge finden; hoffentlich als Bestandteil eines eigenen Tones; auch sollten sie, um den Diebstahl zu legitimieren, wenigstens etwas darüber erzählen, was sich geändert hat und was sich gleich blieb, seit Walther von der Vogelweide. Der Gedanke, daß die Menschheit eigentlich ein Ganzes sei, gefiel mir schon immer. Und ich glaube, daß der Blick in die Vergangenheit eine Möglichkeit ist, der heutigen Nur-Gegenwart zu entgehen, der punktuellen Lebensart. Paradoxerweise kann selbst Avantgardismus zu einem Dogma werden (Horst Drescher traut sich was und spricht von den „Parteisekretären der Postmoderne“). Und vielleicht ist es auch ein Weg, die Poesie zu erneuern, indem versucht wird, die Verbindung zur Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Seiner Zeit zu entsprechen, indem man ihr nicht ganz entspricht. Begriffe wie Kreativität und Innovation überlasse ich jedenfalls gern den Computerhändlern. Allerdings: Jede Zeit hat ihre eigenen Gesten und Formeln, die es zu finden gilt. Und natürlich muß selbst das Alte immer wieder neu gesagt werden. Sehe schon die Gefahr bei mir, es mir im Überkommenen gar zu gemütlich zu machen. Wenigstens an meine Ausdrucksgrenzen muß ich schon stoßen wollen – woraus sich womöglich auch, das heißt ohne den Vorsatz, jetzt mal möglichst modern zu sein, Modernität ergeben kann. Freilich eine Gratwanderung. Denn selbst wenn Überkommenes einfließt, muß das Gedicht indirekt schon wissen, wie sehr sich die immergleiche Welt verändert hat in ihrem Wettlauf mit den Maschinen. Brauche deshalb meist ein „Als-ob“, ein „Als-ob-man-noch-so-dichten-Könnte“. Eine gewisse Naivität (wenn ich das naiverweise mal so sagen darf) – oder die von dir beobachtete Ironie: Ironie, um die Sehnsucht zu retten. – Zur Zeit schwingt das Pendel freilich zurück, und auch zu Köln wird wieder gereimt. Und selbstverständlich ist es das Allerneueste, wenn die Avantgardisten plötzlich die Tradition entdecken, wogegen es bei unsereinem immer das Alte ist.
Engler: Welche Übersetzungen deiner Gedichte gibt es? Ist die Verwurzelung deiner Gedichte in der deutschen Literaturgeschichte deiner Meinung nach eher hinderlich oder eher förderlich für die Übersetzung?
Rosenlöcher: Ach nein, an eine weltweite Verbreitung meines ohnehin peinlich schmalen Gesamtwerks denke ich eigentlich nie. Bin auch da sehr DDR-geprägt, insgeheim immer noch dankbar, wenn ich, wie ich damals allen Ernstes sagte, „demnächst ein Buch bekomme“.
Mörike, habe ich gelesen, ist ins Japanische übersetzt, doch sonst kaum, nicht einmal ins Englische – was soll unsereins da sagen? Immerhin, das Tagebuch und die Harzreise hat es auf Niederländisch gegeben. Auch sind etliche Gedichte kürzlich in einer polnischen Zeitschrift erschienen (war ganz glücklich, weil der Übersetzer mich spätabends anrief und lauter Fragen stellte, die mir zeigten, daß er die Sachen genauer kannte als ich). Bei der niederländischen Harzreise war es ein Problem, daß Heine da ziemlich unbekannt ist, aber auch hierzulande haben die Heine-Anspielungen wohl nur wenige mitbekommen. Freilich wäre mir etwas mißlungen, wenn meine Sachen nicht auch ohne Gelehrsamkeit lesbar wären. Der Übertragung meines Gesamtwerks ins Turkmenische steht somit wohl doch nichts im Weg.
Engler: Anders als viele deiner Generationsgefährten hattest du den Dialog aufgenommen mit der Generation vor dir. Das Gedicht „Die Entleerung“ aus dem Band Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1982), eine Replik auf Mickels seinerzeit vieldiskutiertes und auch heftig angegriffenes Gedicht „Der See“, beginnt mit den Worten: „Das kann ich auch.“ Ich denke auch an die Gedichte „Heimkehr des Odysseus“ und „Dädalus“, die noch einer Tradition folgen, in der der mythologische Heiligenkalender eifrig durchgearbeitet wird, um die „großen Erzählungen“ zu überprüfen und vielleicht ein letztes Mal zu behaupten. Die Frage ist, inwieweit Texte wie diese über die vergangene Gesellschaft hinaus gültige Gleichnisse bieten? Wie stehst du zu diesen Texten heute?
Rosenlöcher: Mickels großartiges Ithaka-Gedicht war schon eine Rücknahme; eine sehr frühe, sehr deutliche Aufgabe aller Hoffnungen, eine Rückbesinnung auf „wenige Gefährten“. Was ich dann lieferte, waren nur weitere Zurücknahmen. Im „Odysseus“ etwa das Verschwinden der Utopie im Bürokratischen, wobei es ja gar nicht der Utopie bedarf, daß Systeme in Bürokratie erstarren. (Las kürzlich in meinen Spitzelakten von einer Literaturinstituts-Lesung Ende der siebziger Jahre: nur „dieser“ Peter Gosse habe jenes, vom Berichterstatter als „negativ“ erkanntes, Gedicht verteidigt; wofür meinem Lehrer Peter Gosse von hier aus freundschaftlich zugewinkt sei.) „Dädalus“ ist ein Fußlatscher, der zu fliegen vorgibt oder glaubt. – Und wenn auch damit damals gleich das ganze System gemeint gewesen ist: Die Vertauschung von Begriffen setzt sich ja fort, nur, daß die Propagandasprache damals fast jeder durchschaute, wogegen die heutige Ekelsprache fast widerstandlos verinnerlicht wird, vom „Goethecenter“ bis zur „Mozartkugel“. In der Märkischen Allgemeinen wurde von einem im Niederen Fläming trainierenden Radrennfahrer berichtet, auf dessen Rücken der Name der Telefonfirma Telekom stand. Als er in Meinsdorf haltmachte, fragte ihn eine alte Frau, ob er nicht ihr Telefon reparieren könne. – Aber man täusche sich nicht: Nicht sie ist die Dumme, sondern wir, die wir über sie lachen müssen: Sie hatte noch eine Ahnung davon, daß Worte etwas bedeuten. Doch um zu deiner Frage zu kommen: Natürlich konnte dem damaligen, geschlosseneren System viel eher mit Mythenabwandlungen begegnet werden, wogegen es jetzt schon vermessen wäre, die ganze Gesellschaft an einem einzigen Odysseus abzuhandeln. Die damals versuchte soziale Auffächerung von Mythen hatte natürlich etwas Aufklärerisches, schloß, obwohl die Analyse eigentlich immer negativ ausging, unausgesprochen den Gedanken der Veränderbarkeit ein. Nicht umsonst setzt Botho Strauß heute mit seinem „Ithaka“ den Mythos wieder ins alte Recht, weil nun die alte Herrschaft wieder von vorn beginnt, was diesem Menschen allerdings auch noch wünschenswert zu sein scheint.
Engler: Kommen wir auf deinen zweiten Gedichtband Schneebier (1988) zu sprechen. Das Hoffnungspotential im ersten Band Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz war noch groß, seine Überzeugung, es könnte gelingen, die menschlichen Angelegenheiten in dieser oder besser: in einer weiterentwickelten sozialistischen Gesellschaft zu ordnen.
Rosenlöcher: Nun, ich habe eben aus beiden Bänden ein neues Gedichtbuch zusammengestellt (Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee), und es ist schon wahr, im ersten, im Kleinzschachwitzband, sind noch einige „Rote Korken“ gewesen – und womöglich hätte ich damals das Illusionswort „weiterentwickelte sozialistische Gesellschaft“ tatsächlich unterschrieben (wie die meisten, auch die, die das heute nicht mehr wissen wollen). Worum es aber von Anfang an ging, war schon ein Umstoßen der Verhältnisse; um eine, auch für heutige Verhältnisse, radikale Demokratie, die uns einzig den Namen „Sozialismus“ zu verdienen schien. Bin beim Neuzusammenstellen allerdings doch überrascht darüber gewesen, was ich denen damals so alles untergejubelt habe, auch schon im Kleinzschachwitz-Band. Sogar „Informanten“ gibt es da, wobei ich, zugegeben, das Wort Informanten vielleicht nur verwendet habe, weil ich nicht wußte, daß diese Burschen wirklich so hießen. Und das, sprachlich leider etwas läppische, damals aber fast berühmte Gedicht mit den von Kleinzschachwitz bis vor das Brandenburger Tor wachsenden Beinen läßt sich im Rückblick schon fast prophetisch verstehen. Gleichwohl bin ich den meisten Gedichten doch dankbar, daß sie sich damals hartnäckig gegen einen direkteren Zeitbezug gewehrt haben, denn auch damals war es, über alles Kritische hinaus, ungleich wichtiger, dem Anpassungsdruck durch Individuation zu entgegnen, „Ich“ zu sagen, die Dinge zu verwandeln, so daß manches womöglich auch heute noch gilt: Das nur historisch zu lesende Gedicht ist ein mißlungenes. – Überhaupt, die neunundachtziger Zeitenwende war schon ein Härtetest fürs Gedicht. Und nun kommt auch noch das Jahr 2000 hinzu, und abermals stehen uns ganze Bibliotheksuntergänge bevor.
Engler: In Schneebier ist dieses Hoffnungspotential weitestgehend aufgebraucht: Groteske Bilder und Geschehnisse sind häufig, Gedichte wie „Vierzigstes Jahr“, „Rumpelstilzchen“, „Die Dienstreisenden“, „Der Aufsteigende“ oder „Der Molch“ lassen an Fühmanns Essays über E.T.A. Hoffmann denken, in dessen Bildern gespenstischen Treibens er die realsozialistische Wirklichkeit aufscheinen sah. Was du später in dem Text über den „Nickmechanismus“ (abgedruckt in Ostgezeter, 1997) ironisch und selbstkritisch entfaltet hast, ist in den genannten Gedichten schon vorweggenommen.
Rosenlöcher: Solche „Vorwegnahmen“ mögen auch damit zusammenhängen, was ich in diesen Aufsätzen unseren westdeutschen Landsleuten, allerdings auch vergeblich, fortwährend zu erklären versuchte: daß es im Osten, neben Anpassung, durchaus auch ein Bewußtsein für Opportunismus gab; daß sich viele schon gequält haben mit ihrem eigenen Verhalten in diesem System; was sie womöglich vor einer gewissen Eindimensionalität bewahrte – in die sich viele nun unter dem Begriff der Freiheit um so widerstandsloser begeben, sehr viele, selbst meine näheren Freunde und zunehmend auch ich selbst. Jedenfalls ist die Wende für mich schon eine kopernikanische gewesen – ich mußte von diesen Dingen noch einmal reden, mich sozusagen ehrlich machen, um überhaupt weiter Gedichte schreiben zu dürfen. Und ein bißchen wollte ich naiverweise auch ein Gegenbeispiel geben (schon in den Pflastersteinen, dann auch in der Harzreise und vor allem im Ostgezeter): Gegenüber dem alleinigen Andere-Bezichtigen einerseits und dem bloßen Verstummen andererseits. (Wann, und ich könnte allenthalben solche Beispiele nennen, wäre zum Beispiel in dieser Zeitschrift nach 1989 ein bißchen von sich selber die Rede gewesen? Zumal man sich gewiß nicht nur Asche aufs Haupt hätte streuen müssen – von mir etwa ist in den ganzen achtziger Jahren nur ein Gedicht abgelehnt worden, und zwar dankenswerterweise nicht unter vorgeschobenen ästhetischen Vorbehalten, sondern weil es zu riskant erschien oder war.) – Habe ins Ostgezeter vorsichtshalber hineingeschrieben, daß Selbstinfragestellen hier sowieso kein Mensch mehr versteht, und bin nun doch geplättet, daß es so gekommen ist: Fast keine Rezension im Osten, obwohl es doch ausdrücklich vom Osten aus geschrieben ist: eben weil ich meinte, daß es für ganz Deutschland besser wäre, Unterschiede zu betonen; „Vereinigung“ lieber nicht nur „Vereinheitlichung“ bedeuten solle.
Engler: Über Anpassung schreibst du:
Schon bald werden wir Mühe haben, uns die DDR selber zu erklären. An die neuen Verhältnisse angepaßt, werden wir uns fragen, wieso wir uns damals derart anpassen konnten.
Das ist in den Verkauften Pflastersteinen zu lesen, dem Tagebuch über die Wendezeit in Dresden. Es war eines der wenigen ästhetisch relevanten Zeugnisse des Umbruchs, also ein Text, der über die pure Dokumentation und das pure Statement hinausging. Daß es großen Erfolg hatte, liegt, vermute ich einmal, nicht zuletzt daran, daß du die kritische Betrachtung vergangener und gegenwärtiger Zeit als ironischer Vivisekteur betreibst: Selbstkritik nicht als Lippenbekenntnis und Pflichtübung, sondern als Kür und Bedürfnis nach verläßlichen Aussagen, eben zuerst über sich selbst. Über Anpassung gäbe es nun viel zu sagen, ich will allein nach dem Verhältnis von Literatur und Anpassung fragen. Rainer Kirsch formulierte es einmal sinngemäß so: Der Poet sei gezwungen, die Wahrheit zu sagen, seine Wahrheit, also nicht Vorgegebenes lediglich Illustrierendes; denn wenn er sie nicht sage, gerieten ihm die Verse schlecht.
Rosenlöcher: Ja, Literatur und Anpassung: Das ist eine der gängigsten Ansichten über die Literatur im Osten, daß wir „Sklavensprache“ gesprochen hätten. Eine Behauptung, die mich immer noch wütend macht, auch jetzt, da ich diese Dinge nun wirklich hinter mir lassen will. Zumal sie dem Behaupter die Möglichkeit gibt, sich selber in seinen Äußerungen für wer weiß wie mutig zu halten. Sklaven, meine Damen und Herren, sind wir denn doch nicht gewesen. Freilich, in einigen Fällen habe ich ein Wort ausgewechselt, um das Ganze zu retten, schlimm genug. Und es gab innere Zensur, das geht ja unbewußt vor sich, ein verinnerlichtes Wissen um gewisse Grenzen (so wie ich das Wort „Informanten“ wohl doch nicht verwendet hätte, wenn mir bewußt gewesen wäre, daß die Kerls so hießen). Auch Anspielungen gab es die Menge; doch Sich-Verstellen ist menschliches wie literarisches Grundverhalten, hat mit Anpassung nichts zu tun. Nein, im ganzen bin ich mir sicher, daß ich nicht geschrieben habe, was ich durfte, sondern das, was ich konnte und wollte; es ist, Gott sei’s geklagt, wenig genug.
Doch Schluß mit diesen deutschen Dingen, die sind längst gelaufen, und die Vereinfacher haben sich durchgesetzt.
Engler: Zurück zum Band Schneebier. Auffällig sind in ihm die apokalyptischen Ahnungen, vor denen die Schönheit als nunmehr unerfüllbares Versprechen erscheint, grob gesprochen: als Schein, Gaukelei und Lüge. „Denn Schönheit war nur Lüge, die uns sanft macht für das Ende“, heißt es in dem Gedicht „Die Riesenengel“. Die Gedichte lassen sich weniger als die im vorangegangenen Band mit der ästhetischen Kategorie des Schönen fassen – des Schönen als das Menschenmögliche und Menschengemäße –, das Naturschöne weicht dem Erhabenen. Die Natur als Erhabenes, das das Empfinden des einzelnen überwältigt und sein Staunen, seine Bewunderung hervorruft, wird menschlicher Selbstüberhebung und Selbstzerstörung entgegengestellt. Ein menschliches Ungenügen wird mit Schrecken an ihm erfahrbar – seltsam erscheint der blühende Kirschbaum als „Schreckensbild“. Man denkt natürlich sofort an Rilkes Duineser Elegien, an die berühmte Zeile aus der ersten Elegie:
Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang…
Nun sind deine Engel nicht schrecklich, sondern eher hilflos und verwirrt, sie gehören den niederen Rängen in der Hierarchie an, wobei freilich gerade der kleinste Engel mit der Hoffnung beladen wird, erfolgreicher Widerpart der „finsteren Systeme“ zu sein. Und im Gedicht „Kicherengel“ wird das Engelskichern gegen den „Lockruf dunkelen Schluchzens“ (Rilke) gesetzt.
Rosenlöcher: Das wundert mich allerdings auch weiterhin: Wie rasch sich die damaligen, doch so unmittelbaren Zerstörungsängste in lauter Vergessen und Achselzucken aufgelöst haben: Mitte der achtziger Jahre, als ich die Schneebier-Gedichte schrieb, war ich mir fast sicher, daß es wieder zurück in Richtung verschärften Stalinismus gehen wird. Und rechnete außerdem jeden Tag damit, daß es krachen könnte. Was blieb mir da anderes übrig als Engel? Hatte schließlich Kinder; und man sollte unbedingt Kinder haben, dann wäre einem die Zukunft vielleicht etwas weniger egal. (Meine Spitzelakte vermerkt immerhin, daß der R. häufig mit Kindern spiele.) – Daß es nun erst einmal ganz anders kam, daß der kleinste, der „rettende Engel“ – der mir beim Niederschreiben eigentlich als reiner Wahnwitz erschien – tatsächlich für einen Moment der Geschichte die „finsteren Systeme“ zu verwirren vermochte – also, das erscheint mir auch heute noch als ein ganz großes Wunder. Aber vielleicht müssen wir jetzt viel mehr Angst haben, da wir viel weniger Angst haben? Jedenfalls hast du recht: Diese Engel sind meist Kleinstlebewesen, die es zu beschützen gilt. – „… es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die ,Engel‘ zu Hause sind“, sagt Rilke in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer, aber so kühn hätte ich niemals zu denken gewagt. Bei mir sind die Engel wohl doch nur mehr Bestandteil des Diesseits, der durch uns bedrohten Schöpfung; höchstens, daß sie ans Jenseits erinnern. Und der Kirschbaum ist „schrecklich“, weil uns mit seinem Blühen nun auch schon das Irdische in Frage stellt. – Da habe ich Rilke wohl unwillkürlich profanisiert. Oder die Engel haben sich extra klein gemacht, damit ich mich ihnen zu nähern vermag.
Engler: Die Unterschiede zu Rilke sind – in der Vermeidung des Herrlichen und Triumphalen – in der Engel-Metaphorik offensichtlich. Daß aber der Dichter zum Rühmen und Preisen des Hierseins und des Hiesigen bestellt ist, das ist wohl auch deine Auffassung, und die Nähe zu Rilke ist auch weniger in Bildern und Metaphern zu erkennen, sondern mehr in den komplizierten syntaktischen Verknüpfungen und Versfügungen, in denen – im „überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen“ (Rilke) – sich das Mit- und Hingerissensein angesichts der Blütenwunder mitteilt. Jedenfalls trifft das für einen Teil deiner Gedichte zu. Ganz direkt also: Welche Rolle spielt Rilke für dich?
Rosenlöcher: Wenn ich irgendeine Seite in Rilkes Gedichten aufschlage, bin ich oft erschrocken über diesen hohen, angestrengten, manchmal auch glatten Ton. Das Ornamentale und Priesterliche bei ihm – mir schon fremd, aber wenn er gegenständlicher wird… wenn er Dinge anschaut und sich fragt, ob sie den Blick erwidern… Plötzlich erscheint mir dann auch das Priesterliche nur als Kehrseite einer Ernsthaftigkeit, vor der sich, wer auch noch schreibt, nur beiseite drücken kann. Wenn ich mir vorstelle, Rilke säße plötzlich in einer Gedichtlesung von mir, ich würde unmöglich weiterlesen können. Selbst Goethe wäre nicht so schlimm wie Rilke. – Du fragst nach dem Rühmen und Preisen, ja, das möchte ich schon gern, aber es ist so schwierig, zu rühmen und zu preisen, ohne über sich selbst lachen zu müssen. – Rilke wußte noch, daß Gedichte mit Klang, mit Orchestrierung zu tun haben… Natürlich hat sich die Moderne zu Recht von Rilke abgesetzt (Abstraktion, Versachlichung, Sinnverweigerung, Fragmentarisierung usw. sind wichtige Entwicklungen der Jahrzehnte nach ihm) – und es wäre schon fürchterlich, wenn alle Welt wieder wie Rilke dichten wollte. Ihn zu lesen aber heißt, sich erneut an die Möglichkeit des Gesangs zu erinnern, auch an längst vergessene Worte wie „Demut“ oder „Überwältigtsein“.
Engler: Die „Möglichkeit des Gesangs“ – das ist ein Stichwort, um auf den Band Die Dresdner Kunstausübung (1997) hinzulenken. Denn „Gesang“ widmet sich zeitübergreifenden Themen wie „Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit“, um es mit Clemens Brentano zu sagen. Aber dieser Dichter ist dir, vermute ich einmal, zu wenig gestalthaft mit seinen betörenden Versen, denen der Sinn entgleitet?
Rosenlöcher: Halt, nein: Ich kann mich schon mitnehmen lassen, von diesem Verfließen, diesem Ineinanderströmen einer Außen- in die Innenwelt, auch wenn das manchmal bei Brentano gar zu automatisch fließt. Doch das „Wenn-der-lahme-Weber“-Gedicht ist für mich eines der wundersamsten deutschen Gedichte überhaupt. – Hielte es übrigens für falsch, nur zu lesen, was einen selber unmittelbar zu bestätigen scheint.
Engler: Die Dresdner Kunstausübung zeigt, daß dein Schreiben von großer Kontinuität geprägt ist. Die Mentalitäts- und Zivilisationskritik der vorigen Bände wird bruchlos fortgesetzt, sie kann – leider – ohne weiteres fortgesetzt werden.
Rosenlöcher: Ja, auch ich sehe da nur kleine Verschiebungen. Freilich hätte ich ein Gedicht wie „Holz der Rede“ (wo das „Ich“ einen Baum abstützt, während die anderen umherfahren und nach dem Westen oder wer weiß wohin gehn) jetzt nicht mehr zu schreiben vermocht. Jetzt fährt ein Auto vor und Kollege Ich steigt ein („Frankreichfahrt“). Die neue Weltläufigkeit als langersehnter Gewinn, und als Gefahr, sein Eigentliches zu verlieren: seine Wurzeln, auf nun privatisiertem Grund. Dresden, das ich unterdessen ziemlich satt habe, ohne recht loszukommen von dieser Trompeterstadt. In der ich mich, nach fünfzigjährigem Herumtappen, auch weiterhin ziemlich ausgegrenzt fühle, es allerdings zunehmend auch gar nicht mehr anders will. Mich allerdings mit den Leuten tröste, die da dankenswerterweise noch immer in meine Lesungen kommen.
Jedenfalls scheint mir das „Ich“ im dritten Band ein wenig mehr auf sich selbst zurückgeworfen: Selbst wenn es zuletzt immer weniger Hoffnungen gab, so ist es schon etwas anderes, wenn es mit dem Verschwinden der DDR nun auch den Gegenstand der Hoffnungslosigkeit nicht mehr gibt. Was freilich gerade heißen kann, die Sinnsuche fortzusetzen: sich wenigstens offenzuhalten, ist doch auch dieser Gesellschaft das Verfallsdatum schon aufgedruckt, wenn auch ziemlich unleserlich.
Insgesamt aber hast du recht, eigentlich habe ich nach 1989 meinen Stiefel einfach fortgesetzt. Vermochte erst wieder Gedichte zu schreiben, als ich spürte, daß sich, trotz „kopernikanischer Wende“, so viel nun auch wieder nicht geändert hat: fortgesetzte Zerstörung, aber mit verbesserten Mitteln. Ausgeliefertsein an eine blinde Geschichte. Sitzen in einem Zug, dessen Gleise plötzlich zu Ende sein können, nur, daß das Angebot im Speisewagen bedeutend verbessert worden ist. Und das Zugpersonal gegenüber früher viel, viel freundlicher.
Engler: Ironie und Pathos geben der Dresdner Kunstausübung die geheime Spannung: Die Kunst erscheint als Widerpart des Todes und seines Geschäftes der Gleichmacherei und des Vergessens. Dabei folgst du einer ikonographischen und metaphorischen Tradition, die an Figuren und Vorgängen im künstlerischen Bild festhält, an dessen Sinnlichkeit ebenso wie an dessen Gleichnishaftigkeit. Für die bildende Kunst wäre hier, wenn solch Vergleich statthaft ist, an Caspar David Friedrich zu denken. Aber mehr noch spielt die Musik in deinem jüngsten Band eine Rolle, was bei einem mit der Romantik vertrauten Lyriker nicht verwundert. Und so ist es wohl die rechte Schlußfrage für dieses Gespräch, wenn ich mich nach deinem Verhältnis zur Musik erkundige.
Rosenlöcher: Bei dem Titel Dresdner Kunstausübung zucke ich noch immer zusammen; er war ironisch gemeint, klingt aber wohl doch recht geschraubt, nicht mehr zu ändern. Was aber das – vornehm gesagt – Vanitas-Thema betrifft, so sehe ich auch hier eine kleine Verschiebung zu den vorausgegangenen Gedichten. Zu den Zukunftsängsten ist die Furcht vor dem eigenen Tod hinzugetreten. – Gar zu gern würde ich einmal in einem Gedicht die Zeit anhalten, obwohl das natürlich nicht geht, das Gedicht bis zum Schlußpunkt immer weiter muß. Die Musik etwa kann das schon besser. In der Bachkantate Nr. 146 gibt es, nach langem Orgelvorspiel, einen Eingangschor – und da (in der Harnoncourt-Aufnahme) auf die Worte: „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes…“ ein winziges Innehalten, einen kurzen, aber unheimlichen Zeitstau, bis auf das Wort: „eingehen“ – der Chor tatsächlich momentlang ins Himmelreich einzugehen scheint. – Wenn ich zu wählen hätte, ob ich ein Bündel Bücher oder einen Stapel Musikplatten mitnehmen wollte, ich würde mich, Schweiß auf der Stirn, wohl doch für die Musik entscheiden; vorausgesetzt, ich hätte im Jenseits ein ordentliches Abspielgerät. Und die Musik ist es auch, was mich, von der Landschaft und den Leuten abgesehen, immer besonders mit Dresden verband. Als ich Kind war, gab es da noch so etwas wie bürgerliche Hausmusik, und ich mußte Klavierstunden nehmen, bei Frau Lehmann-Osten, die mir zu Beginn stets die Fingernägel schnitt. Und mein Vater war ein dilettierender Sänger, der jeden Sonntagvormittag am Flügel stand und übte und einmal im Jahr einen Liederkreis aufführte; ich selber half dabei, die Konzertstühle ins Wohnzimmer zu schleppen. So jedenfalls habe ich schon als Dreikäsehoch Eichendorff- und Wilhelm-Müller-Gedichte gehört, ohne zu ahnen, daß mir ihr tröstlich-untröstlicher Ton seither immer nachgehen wird.
neue deutsche literatur, Heft 522, November/Dezember 1998
AUF DEM FUSSE
für Thomas Rosenlöcher
mein armer arme rudernder schatten
folgt mir im hellichten am rinnstein
der uns den knick gibt die mauer hochzieht
bis er uns links liegen läßt wir huschen
die straße lang wenn ich den kopf wende
und draufseh bewegt sich mein körper auf ihm
von unten gesehn sein körper auf meinem
wobei er mich überragt
würde er die ränder einrollen wär ich
sein inneres
die roulade im kohl der kassler im teig
und er
ein überkörper die gebärmutter
doch er sperrt sich
und spreizt sich auch wenn ich zustoße
er ist unverwundbar
und lacht mit seinem schwarzen mund
da ich die türen mit sicherheitsschlössern spicke
hör ich ihn
da ich im keller die regale mit konserven fülle
hör ich ihn
da ich das tuch bereitlege das ich mir
im ernstfall vors gesicht binden sollte
hör ich ihn
er studiert die zeitungsmeldungen nicht
er versucht nicht hinter die taktiken
des welthandels zu kommen
im laufen nur kreuzen wir uns dann
überhol ich ihn laß ich ihn an der hand gehen
überholt er mich läßt er mich
am ausgestreckten arm
folgen
Róža Domašcyna
Thomas Rosenlöcher liest Gedichte und Prosa moderiert von Alexander von Bormann am 25.2.2002 im Goethe-Institut Amsterdam
Peter Geist: „Da bin ich mit allen Himmeln gewaschen“. „Wende“- und Deutschlandgedichte der DDR-Achtundsechziger.
Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017
Allein ein Kichern ändert schon die Welt – Ahmad Mesgarha liest in Hoppes Hoftheater Lyrik und Prosa von Thomas Rosenlöcher
Zum 70. Geburtstag des Autors:
Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017
Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017
Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017
Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017
Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLG + ÖM + IZA + IMDb + Archiv + Kalliope
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Nachrufe auf Thomas Rosenlöcher: Berliner Zeitung ✝︎ DNN ✝︎ FAZ ✝︎ LiteraturLand THÜRINGEN ✝︎ MDR ✝︎ nd ✝︎ Sächsische Zeitung ✝︎ signaturen ✝︎ SZ ✝︎ Zeit 1 + 2 ✝︎
Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.










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