– Zu Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Die neuen Fernen“ aus Joachim Ringelnatz: Kinder-Verwirr-Buch. –
JOACHIM RINGELNATZ
Die neuen Fernen
aaIn der Stratosphäre,
Links vom Eingang, führt ein Gang
aa(Wenn er nicht verschüttet wäre)
aaaaSieben Kilometer lang
aaaabis ins Ungefähre.
aaDort erkennt man weit und breit
Nichts. Denn dort herrscht Dunkelheit.
aaWenn man da die Augen schließt
aaund sich langsam selbst erschießt,
aaaaDann erinnert man sich gern
aaaaAn den deutschen Abendstern.
Das Gedicht „Die neuen Fernen“ verblüfft den Ringelnatz-Kenner und -Liebhaber. Es fällt aus dem Ringelnatz-Sound heraus, keine Matrosen und Mütterlein, nicht Heimat und hohe See, nicht „Die Mädchen mit dem Muttermal“ und „Kostümball-Gedanken 1928“, die Unendlichkeiten des Intimen und Privaten, sondern gleich im ersten Vers die Stratosphäre – damals, Anfang der dreißiger Jahre, vermutlich für die Allgemeinheit noch ein ziemlich neuer Begriff.
Auch die Machart unterscheidet „Die neuen Fernen“ von den üblichen Gesängen. Ringelnatz war ja ein gottbegnadeter Reimer; die lustigsten und originellsten Reime flogen ihm nur so zu, und so reimte er gern weiter, die Gedichte dehnten sich, nicht immer zu ihren Gunsten. Es strömte aus ihm, aber er unterschied nicht genau zwischen dem glücklichen Einfall und dem Kalauer, zwischen jenem höheren Blödsinn, der unvermittelt in Tiefsinn übergeht, und dem gewöhnlichen, der ein gemischtes Publikum sich vor Lachen ausschütten läßt.
Die Stratosphäre ist Ringelnatz im allgemeinen zu hoch. Auch die Gedichtsammlung Flugzeuggedanken von 1928 enthält überwiegend Banales:
Ich spreche von Flugmaschinen.
Sie summen lauter als Bienen
Und sind eine Kreuzung von Taube,
Ente, Maikäfer und Schiffsschraube.
Nette Einfälle, Humor fürs Heim.
Das Gedicht „Die neuen Fernen“ habe ich in Enzensbergers Museum der modernen Poesie gefunden, in nicht nur alphabetischer Nähe zu Rilke, in der Nachbarschaft von Hans Arp und Kurt Schwitters. Bei Enzensbergers Sammlung liegt der Ton auf „modern“; da dürfen nicht viele deutsche Dichter passieren, Rilke, Benn, Brecht, ein paar Expressionisten und eben Ringelnatz mit zwei Gedichten (Rilke hat auch zwei).
Das eine, „Schneiderhüpfl vor dem Ochsen am Spieß“, ist ein bayerischer Spaß, das andere kosmischer Tiefsinn, zwischen Wittgenstein und Heisenberg. Die neue kopernikanische Wende, die Erweiterung des Weltalls ins nicht mehr Vorstellbare, die Absurdität des Vorsatzes, es doch noch irgendwie plausibel zu machen, die hat Ringelnatz in genau elf Versen demonstriert.
Im Märchenton, wie die Oma, erzählt er, im Reiseführerton erklärt er: Das Wunderbare ist gleichzeitig das Selbstverständliche, es liegt um die Ecke. Er braucht die „Man nehme“-Anweisung: man gehe… Ein Gang, unter- oder überirdisch zwar, aber doch nur sieben Kilometer lang (und nur in Klammern, beiläufig, die Unmöglichkeit, ihn zu nutzen). Die Reiseroute beginnt zu wackeln; Ziel: das Ungefähre. Dann das herrliche Enjambement, die Pause am Versende hinter „weit und breit“ und, als Pointe geschossen, „Nichts“, groß geschrieben am Versanfang, aber in der Perspektive dieses Gedichts gar nicht groß genug zu schreiben. Der Tatbestand totaler Dunkelheit kurz mitgeteilt, dann das komisch-überflüssige „Augen schließt“ und das witzig-verzweifelte „sich langsam selbst erschießt“ und die ganz und gar umwerfende Schlußwendung – angesichts des Grauens vordem Unendlichen, Uneinsehbaren, Unentrinnbaren die Heimkehr, der Rückfall ins Gemütliche, in die menschlichen und bürgerlichen Maßstäbe, in die von Matthias Claudius bis Richard Wagner poetisch ausgepolsterten Wohnstuben der Altvordern. Nur daß Ringelnatzens Abendstern ausgerechnet im Jahr 1932 herbeizitiert wird und Ringelnatz selber kein Bürger ist, sondern ein Bohemien, der Worte wie „Abendstern“ nur ironisch aufrufen kann, mit einer kleinen Beimischung von Nostalgie.
Das Gedicht „Die neuen Fernen“ steht übrigens überraschenderweise in dem Gedichtband Kinder-Verwirr-Buch (1932). Es kann aber auch Erwachsene noch verwirren. Oder, in seiner paradoxen Spannung zwischen ganz nahe und unendlich fern, tief befriedigen.
Werner Ross, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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