ATEMHOLEN
Der Duft des zweiten Heus schwebt auf dem Wege,
Es ist August. Kein Wolkenzug.
Kein grober Wind ist auf den Gängen rege,
Nur Distelsame wiegt ihm leicht genug.
Der Krieg der Welt ist hier verklungene Geschichte,
Ein Spiel der Schmetterlinge, weilt die Zeit.
Mozart hat komponiert, und Shakespeare schrieb Gedichte,
So sei zu hören sie bereit.
Ein Apfel fällt. Die Kühe rupfen.
Im Heckenausschnitt blaut das Meer.
Die Zither hör ich Don Giovanni zupfen,
Bassanio rudert Portia von Belmont her.
Auch die Empörten lassen sich erbitten,
Auch Timon von Athen und König Lear.
Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten.
Sie sprechen schon. Sie setzen sich zu dir.
Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert
Ihr Haus. Kordelias leises Lachen hallt
Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nichts geändert.
Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt.
Dieter Mann spricht von Wilhelm Lehmann „Atemholen“
Es kann gewiß nicht als Zufall betrachtet werden, daß sich Johannes R. Becher – zu einer Zeit, als er um die Neuordnung seines Erbeverständnisses bemüht war – in einer knappen Notiz seiner Poetischen Konfession (1959) auch mit der Lyrik Wilhelm Lehmanns beschäftigte. Im 62. Stück seiner Überlegungen notierte er:
Ich bedaure aufrichtig, die Dichtung Wilhelm Lehmanns bisher fahrlässig beurteilt oder gar verurteilt zu haben. Mir schien sie eine Art botanisches Museum zu sein, und erst jetzt, durch ein Gedicht – „An meinen ältesten Sohn“ –, bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, daß diese Dichtung zweifellos ihre Meriten hat. Lehmann hat sich verdient gemacht darum, eben eine neue Provinz unserer Dichtung erschlossen zu haben: die Naturwunder des Pflanzen- und Tierreiches, die vegetative Natur.
Das Verständnis, das Lehmann in dieser Notiz entgegengebracht wird, entspricht dem weiten Gesichtsfeld, um das sich Becher in jenen Jahren bemühte. Zudem: sowohl Spinozas „Deus sive natura“ wie Goethes Pantheismus, deren geistiges Erbe in Lehmanns Werk fortwirkt, enthalten materialistische Züge, die zwar die komplizierten widerspruchsvollen Strukturen der spätbürgerlichen Gesellschaft nicht mehr erklären können, aber immerhin im Widerspruch zur imperialistischen Ideologie des Faschismus stehen, unter der Lehmann litt und auf die bezogen er mit seiner Dichtung ein Gegenbild entwarf.
Lehmanns poetische Provinz verweist aber auch auf ihre eigenen Grenzen: Die Natur kann in seinem Selbstverständnis nicht mehr als ein Feld praktischer gesellschaftlicher Tätigkeit verstanden werden, sondern sie ist das poetische Objekt des vereinzelten lyrischen Subjekts. Das erklärt, warum Lehmanns Werk – vor allem seine Lyrik – von der Literaturwissenschaft, aber auch von seinen Dichter-Kollegen, fast immer einseitig beurteilt worden ist: Bewunderung und Ablehnung standen sich diametral gegenüber. Wenn Lehmanns Dichtung mit Kennworten wie „reine Naturlyrik“, „naturmagische Dichtung“ oder gar „provinziell“ belegt wurde, übersah man einerseits das Widersprüchliche und die wirkliche Bedeutung des Dichters, wie andererseits seine Schüler und Bewunderer – unter ihnen Elisabeth Langgässer, Günter Eich und Karl Krolow – Lehmanns Rang überschätzten, indem sie das Unvergängliche seiner Dichtung priesen.
„Unvergänglich“ – im Sinne von Lehmanns Pantheismus – erscheinen uns heute nicht einmal mehr die „Naturwunder des Pflanzen- und Tierreiches“, die Lehmann in seinen Gedichten verewigen wollte und um deren Fortbestand wir bangen. Tatsächlich zeigt gerade die Lyrik Wilhelm Lehmanns in ihrer bewußten Begrenztheit, „die Welt als natürliches Phänomen“ widerspiegeln zu wollen, in ihrer inständigen Benennung der Dinge und in ihrer nahezu manischen, oft ins Skurrile mündenden Suche nach der Einheit von Dingwelt und Sprache eine Abkehr von gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Ereignissen, die uns bedenklich stimmt.
Der unseren Respekt herausfordernde bürgerliche Humanismus des Dichters begriff zwar „Entzücken oder Schmerz als Wurzel des Gedichts“, bekundet aber auch den Willen des Lyrikers, selbst in Zeiten dramatischer gesellschaftlicher Konflikte „die ungereimte Welt zusammenzufügen“. Daß dies dem Dichter trotz aller dieser Aufgabe innewohnenden Widersprüche weithin gelang, bezeugen jene seiner Gedichte, in denen seine immense Gabe zu scharfer Naturbeobachtung, seine oft lakonische Sachlichkeit nicht durch die allzu große Freude am Detail überwuchert wird.
Dort, wo der Dichter seinem Vorsatz treu bleibt, „die konkrete Realität“ selber sprechen zu lassen, ergeben sich Verse von seltener Klarheit und großer Eindringlichkeit. Lehmanns Absicht, die Poesie dafür sorgen zu lassen, „daß das Dasein nicht zum Klischee ermattet“, sondern daß sie uns von den Abziehbildern der Abziehbilder“ befreit, indem sie durch das neugeprägte Bild und die poetische Entdeckung am Detail neue Daseinslust vermittelt, realisiert sich in solchen Gedichten, die das Dasein nicht mystisch verklären, wohl aber eine Verzauberung hervorrufen, wie sie in der deutschen Lyrik nach der Romantik selten erreicht worden ist.
Lehmann selbst war sich des Gesetzes, unter dem er als Lyriker angetreten war, durchaus bewußt. Das bezeugen sowohl seine Aufsätze über Wahlverwandte und Antipoden wie auch seine Aufzeichnungen – erinnert sei hier nur an das Bukolische Tagebuch aus den Jahren 1927–1932 (1948) –, die ganz im Bannkreis seiner lyrischen Konzeption stehen. Aber auch die Romane und Erzählungen, von denen Weingott (1921) und vor allem Der Überläufer (1964) beachtenswert sind, bestätigen, daß dieser Dichter, der seine kleinbürgerlich-konservative Haltung nie verleugnet hat, auch als Chronist der inneren und äußeren Verfassung breiter Schichten einer kleinbürgerlichen Intelligenz das – freilich oft fruchtlose – Ringen um eine geistige Befreiung aus den Fesseln des spätbürgerlichen Kulturbetriebes und Geisteslebens gestaltete.
Unauffällig wie sein Name war auch der äußere Lebensweg. Ausdruck eines nach innen gewendeten Daseins sind neben den Gedichten ebenso auch die Romane und Essays. Nur einmal im Dezennium der vielberufenen literarisch opulenten zwanziger Jahre stand er für einen Augenblick im Rampenlicht: als ihm 1923 durch Alfred Döblin für den Roman Weingott der Kleistpreis (zusammen mit Robert Musil) verliehen wurde. Einem Kreis Eingeweihter vertraut, machte sein Werk – vor allem die Lyrik – fast unauffällig Schule. Später Ruhm und eine Fülle von Publikationen in den Nachkriegsjahren konnten nicht verhindern, daß Wilhelm Lehmann heute fast schon wieder zu jenen „Vergessenen“ gehört, an denen die deutsche Literaturgeschichte nicht arm ist.
Das ist freilich nur ein Grund mehr, sich dieses Dichters zu erinnern. Bechers Notiz, Hinweis auf Wirkung und Nachwirkung eines in seiner Art bedeutenden Lyrikers, verdient auch in dieser Hinsicht unsere Beachtung. Und mehr: auch wenn man der im Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller geltend gemachten Einschränkung, Lehmanns Lyrik ermangele es an großen Gegenständen, zustimmen sollte – gerade in der „selbstgewählten Eingrenzung“ gelangte Lehmann zu einer Meisterschaft, an die wohl auch Johannes R. Becher dachte.
Daß Lehmann seine lyrischen Vorbilder, auf die er sich mitunter berief, nicht in Hinsicht auf deren Popularität beerben konnte, hat gute Gründe. Konnten Eichendorff, Keller, Storm oder die Droste, ja sogar Dauthendey oder Dehmel immerhin zu Lebzeiten noch für sich verbuchen, mit einigen ihrer Gedichte Volkstümlichkeit erlangt zu haben, so litt Wilhelm Lehmann wie viele seiner Zeitgenossen daran, daß das spätbürgerliche Gedicht nur noch einer dünnen Schicht von Spezialisten und Interessierten zugänglich war. Die Zeitgenossenschaft des Gedichts, seine im besten Sinne aktuelle Wirkung, wie sie von Kästner, Weinert, Tucholsky und – auf hohem literarischen Niveau – von Brecht erreicht wurde, blieb einem Dichter wie Oskar Loerke – den Lehmann als seinen Lehrer verehrt hat und mit dem ihn Freundschaft verband – ebenso verwehrt wie etwa Elisabeth Langgässer oder Günter Eich.
Wie bei kaum einem anderen Dichter seiner Generation läßt sich aber am lyrischen Werk Lehmanns beobachten, daß die „selbstgewählte Eingrenzung“, die auch die geringe Wirkung dieser Lyrik einschließt, ihre Ursachen nicht zuletzt in der sozialen und zeitgeschichtlich bedingten Haltung des intellektuellen Kleinbürgertums hat, das im Deutschland des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zwischen Hoffnung und Depression hin und her geworfen wurde.
Die Helden – oder besser: Anti-Helden – der Romane Weingott und Der Überläufer sind in ihrer Verkennung wie Selbstverkennung exemplarisch für jenen zum Scheitern verurteilten dritten Weg, den viele deutsche Intellektuelle jener Zeit gesucht haben. Stabilität und Sicherheit – soweit für sie überhaupt erreichbar – finden sie in der mythischen und mystischen Versenkung ihres Ichs in die Natur und letztlich im Versuch, die Dinge in die Sprache zu bannen, oder, wie der Held des Überläufers, im zeitweiligen Sich-Verschweigen.
So war die Ohnmacht der Sprache gegenüber dem „Reichtum des Vorhandenen“, die den Dichter Lehmann ebenso wie seine Helden in Krisen stürzte, in denen ein bewußtes Austragen der gesellschaftlichen Konflikte mit den Mitteln der Literatur unmöglich wurde, nur ein Symptom. Die innere und äußere Not, die Lehmann als Erzähler und Lyriker gestaltete, blieb weitgehend auf das Subjekt beschränkt. Die geschichtlichen und sozialen Ursachen dieser Not provozierten jedoch bei Dichtern wie Loerke oder Lehmann nur selten eindeutig politische Haltungen. Sie führten zu einer bewundernswerten Sensibilisierung der Sprache, die sich jedoch häufig auf ihre Funktion als Medium von Resignation und Verzweiflung beschränkte.
Daß es Lehmann und Loerke in vielen ihrer Gedichte gelang, die Natur gewissermaßen stellvertretend für ein sozial und politisch engagiertes Ich beredt werden zu lassen, darf dabei freilich nicht übersehen werden. Es gehört außerdem zu den Unwägbarkeiten der Poesie, daß ihre geistige Präsenz auch jenseits von Popularität oder gar Massenwirksamkeit Folgen zeitigt, die weit über das gedruckte Wort hinausreichen. In diesem Sinne wird man die Lyrik Wilhelm Lehmanns nicht nur von ihrer geringen Wirkung her beurteilen können, sondern muß ihre Bedeutung auch in jenem Bereich suchen, in dem Haltung und Sprache eines Dichters vermittelnd fortwirken.
Auch wenn Lehmanns Gedichte in den letzten Jahren nur von wenigen gelesen worden sind – die sprachschöpferische Besessenheit, die Genauigkeit, mit der er Sprache und Sache in Übereinstimmung zu bringen suchte, haben die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart spürbar beeinflußt. In seinen besten Gedichten hat er nicht nur die Forderung eines Karl Kraus auf ideale Weise erfüllt, der im Reim ein Versprechen sah, das vom Sinn her eingelöst werden muß, sondern auch mit höchster Bewußtheit seine Gedichte vom einzelnen Wort her aufgebaut, selbst dort, wo er sich – eingestandenermaßen – auf Spontaneität und Intention verließ.
Der Lebensweg und der Kreis, in dem er zeitlebens befangen blieb, stehen in Übereinstimmung damit, daß der Dichter in seiner positivistischen Haltung einen Sinn fand, der ihn selbst in Zeiten existentieller Not davor bewahrte, nihilistischen Verführungen zu erliegen.
Solidität im bürgerlichen wie im geistigen Bereich war auch die Lebensbasis, die dem 1882 in Puerto Cabello (Venezuela) Geborenen erstrebenswert schien. Wie aus der autobiographischen Skizze „Mühe des Anfangs“ hervorgeht, waren es wohl vor allem die ungesicherten Verhältnisse seines Elternhauses, die ihn auf die Suche nach einer bürgerlichen Existenz führten. „Unordnung und frühes Leid“ spiegelt der stark autobiographisch gefärbte Roman Der Überläufer wider, die Sehnsucht nach einer gesicherten Herkunft der Roman Weingott. Lehmanns Vater, ein Eisenwarenkaufmann, scheint indes keineswegs fähig gewesen zu sein, seiner Familie den notwendigen Lebensunterhalt zu sichern. Der Sohn erinnert sich: „Es muß zwischen den Eltern früh gekriselt haben… Der Vater fuhr wieder in die Tropen.“ – Nach dem Tod des Vaters in der Fremde wuchs Wilhelm Lehmann mit seinen Geschwistern in Wandsbek unter Obhut der Mutter auf, die Lehrerin an einer Hamburger Höheren Mädchenschule war. „Unter dem schützenden Winddach der ,Bildung‘ fühlte die Mutter sich geborgen“, berichtet Lehmann und verschweigt nicht, daß es schon früh zwischen ihm und ihr zu einer anhaltenden Entfremdung kam.
Gymnasium und erste Studienjahre in Tübingen brachten keine Befreiung von dem bedrückenden Gefühl, aus engen und unbemittelten Verhältnissen zu kommen. Der Lehrerberuf, der „schnell zu Amt und Gehalt führte, um die Daseinsbürde der Mutter zu erleichtern“, schien diesen Verhältnissen angemessen.
Neben der romanischen, deutschen und englischen Philologie trieb Lehmann botanische und zoologische Studien. Rückschauend bekannte er:
Mir diente die Abstraktion nur als Würze, den Traum des Konkreten nicht schal werden zu lassen… jedoch sinnliches Dasein und das Wort als seine Wiedergeburt – dem bohrte ich mich unklar entgegen, voll Schmerzen. voller Öde, voll glücklichem Leid. Ich irrte durch Wüsteneien; da wollte kein Brunnen springen.1
Auf einem Umweg über Straßburg gelangte Lehmann schließlich nach Berlin, wo er in Moritz Heimann, dem Lektor des S. Fischer Verlages, einen Freund und Förderer fand. Heimann führte ihn in die literarischen Kreise um Hermann Stehr und Gerhart Hauptmann ein. Aber ungeachtet dieser Beziehungen blieb der junge Dichter noch jahrelang im „Kleinsauer des Alltags“: als Hauslehrer auf einer unterbezahlten Hilfslehrerstelle versuchte der inzwischen promovierte Philologe mit einer um fünfzehn Jahre älteren Frau eine Ehe zu führen, die jedoch nach dem Tod des ersten Kindes endgültig scheiterte.
In der 1932 erschienenen „Biographischen Notiz“ resümierte Lehmann noch einmal:
Hätten sich die Verhältnisse nach mir gerichtet, wäre ich Naturforscher geworden. Auch der Lehrerberuf erlaubte mir aus äußeren Gründen nicht, Biologie als Fach zu wählen. Meine zweite Grundneigung galt der Sprache. So wurde ich Philologe.
Die philologischen Neigungen trugen in Studien zur Etymologie Früchte. In vergleichenden Untersuchungen zu Namen von Pflanzen, Vögeln und Insekten gelang es ihm, seine Poetologie vorzubereiten. So berichtet Hans Dieter Schäfer (Wilhelm Lehmann. Studien zu seinem Leben und Werk, 1969):
Er sammelte Beispiele für die Übertragung von Säugetiernamen auf Insekten und Vögel und entschlüsselte die Namen der Bachstelze und des Kleibers.
Und Lehmann selbst bekannte:
Es geschah alles aus dem Willen heraus, sich der Dinge zu bemächtigen.
Bereits frühe Verse erreichen dadurch künstlerischen Rang, daß der junge Dichter Poesie als eine Möglichkeit empfand, die Begrifflichkeit der Dingwelt mit dem magischen Wesen der Phänomene in Übereinstimmung zu bringen:
Nun muß ich nicht mehr denken,
Denn alle Dinge schenken
Mir eine qualenlose Ruh.
„Dichten muß ich, um zu leben“, schließt ein Gedicht von 1908. Aber mit dem Eintritt in den staatlichen Schuldienst (1909) versiegte die lyrische Produktivität für etwa zwanzig Jahre. Kleinere Prosaarbeiten dieser Zeit künden von dem inneren Zwiespalt, in dem der Dichter lebte. Schmerzliche Selbstanalysen traten an die Stelle der Gedichte, mit denen sich der Lyriker der Unmittelbarkeit irdischen Seins anvertraut hatte. Entscheidend für den weiteren Lebensweg wurden die Jahre zwischen 1912 und 1917. Als Lehrer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf in der Nähe von Saalfeld erkannte er nicht nur die Möglichkeit einer glücklichen Übereinstimmung von Beruf und Berufung, sondern er sah sich vor allem darin bestätigt, daß eine Existenz als Schriftsteller nicht unbedingt die Voraussetzung für die Entfaltung seiner Persönlichkeit war. Seine Auffassung vom Pädagogen als „Magier“, der die Schulstunde als „Geisterbeschwörung“ auffaßt und der „den Weg der Phantasie gehen können“ muß, brachte ihn in kameradschaftliche Nähe zu den Schülern.
Lehmann ergriff Partei gegen Gustav Wyneken, den Begründer der Freien Schulgemeinde, der sich durch elitäre und sakrale Auffassungen vom Wesen des pädagogischen Auftrags von der Mehrzahl der Lehrkräfte isoliert hatte. Während die Anhänger Wynekens aus Carl Spittelers Prometheus und dem Olympischen Frühling rezitierten, bezauberte Lehmann seine Schüler durch den freien Vortrag von Märchen.
Der Toleranzgedanke, der der Freien Schulgemeinde nach dem Ausscheiden Gustav Wynekens ihr Gepräge gab, bestimmte auch Lehmanns Verhältnis zum Militarismus und zum Krieg. 1917 zum Militärdienst eingezogen und „von keinem Entsetzen verschont“, nahm er an den letzten Stellungskämpfen vor Verdun teil. Nach einem gescheiterten Angriff auf Bapaume entfernte er sich unerlaubt von der Truppe und irrte im Generalgouvernement Belgien umher, ohne daß es ihm gelang, die Front zu überschreiten. Von einer deutschen Patrouille festgenommen, stand ihm ein Kriegsgerichtsverfahren bevor, das ganz sicher mit dem Tod durch Erschießen geendet hätte, wäre es nicht bis Kriegsende aufgeschoben und schließlich bedingt niedergeschlagen worden. Lehmann geriet in englische Kriegsgefangenschaft und kehrte im Oktober 1919 nach Wickersdorf zurück.
Was Lehmanns Lyrik auszeichnet und was ihr versagt bleiben mußte, läßt sich freilich aus den äußeren Bedingungen seiner Existenz allein nicht bestimmen. Das Kriegserlebnis, das vor allem in dem Roman Der Überläufer seinen Niederschlag fand, wird in den Gedichten nur am Rande gestreift. Die unfreiwillige Berufswahl, mit der sich Lehmann erst spät auszusöhnen vermochte, hat dank der philologischen Grundlagen wohl ebenso auf die Eigenarten seiner Lyrik gewirkt wie die botanischen und zoologischen Studien, die er bis an sein Lebensende nebenher trieb.
Sieht man von frühen lyrischen Versuchen ab, die dem Naturalismus und der Emblematik des Jugendstils verpflichtet sind, so beziehen die Verse gerade aus der Spannung zwischen Pflicht und Neigung ihre Eigentümlichkeit: die Anschaulichkeit, mit der der Botaniker und Zoologe seine Objekte beschreibt, wird ergänzt von der Akribie des Philologen, der sich des genauen Begriffs bis in dessen etymologische Wurzeln hinab zu bedienen weiß.
Eine solche, quasi naturwissenschaftlich-philologische Methode macht jedoch auch deren Grenzen sichtbar: Wie er zwar auf der einen Seite nicht in einer unbestimmten Naturseligkeit aufging, blieben zum andern aber die großen und bestimmenden gesellschaftlichen Zusammenhänge und Auseinandersetzungen seiner Zeit ohne Betracht.
Das panische Entsetzen, das in einigen Gedichten seines Freundes Oskar Loerke Stimme gewann, war ebensowenig Lehmanns Sache wie der Ausdruck existentieller Not, der aus den Versen seines Nachfahren Günter Eich zu hören ist. Es darf als sicher gelten, daß Lehmann den Blick in den Abgrund scheute, der sich vor den Augen des unglücklich-tapferen Loerke auftat, als das Regime des Faschismus begann. Gelang es Loerke, mit „Timur und die Seherin“ ein bedeutendes, die Zeit überdauerndes „Zeitgedicht“ zu schaffen, so näherte sich Lehmann nur in wenigen Gedichten, und dabei mit äußerster Zurückhaltung, zeitgeschichtlicher und gesellschaftlicher Thematik.
Dennoch galt Lehmann den Nationalsozialisten durchaus als „unerwünschter Autor“. Besser als mancher poetische Gegner des Dichters begriffen die Faschisten, daß in dem Gedichtband Antwort des Schweigens, der 1935 im Widerstandsverlag Alexander Mitscherlichs und Ernst Niekischs erschien, keine Stimme erklang, die ihrer „Kunstidee“ dienstbar war. Von der Tageskritik verschwiegen, finden sich nur noch wenige Publikationen in der Neuen Rundschau, der Frankfurter Zeitung und nach dem Verbot letzterer in der Zeitung Das Reich. Ein weiterer Gedichtband, den der Suhrkamp Verlag plante, scheiterte 1941 endgültig an der „Papierzuteilung“. Im Schriftstellerverzeichnis der Reichsschrifttumskammer wurde Lehmann bereits 1942 nicht mehr genannt. Von dem Gedichtband Der grüne Gott, der im gleichen Jahr im Verlag Lambert Schneider erscheinen sollte, verbrannte die gesamte Auflage bis auf die zwanzig Belegexemplare, die dem Autor noch zugestellt worden waren.
Obwohl Lehmann als Lehrer in Eckernförde manchen Kompromiß eingehen mußte, um seinen Brotberuf nicht zu verlieren, ist Elisabeth Langgässer, der seit 1936 von der Reichsschrifttumskammer Publikationsverbot erteilt worden war, zuzustimmen, wenn sie in ihrem Aufsatz „Schriftsteller unter der Hitlerdiktatur“ von der „inneren Emigration“ Wilhelm Lehmanns spricht.
„Dichtung als Dasein“ und als „errungene Gegenwart“ zu begreifen hat er – auch in der Zeit des Faschismus – als Auftrag empfunden. Mag es ihm dabei auch nicht immer gelungen sein, der Kleinmalerei und der Einordnung einer botanischen und zoologischen Nomenklatur in ein verhältnismäßig starres poetisches System zu entrinnen – seine besten Gedichte sprechen beredt davon, daß die „selbstgewählte Einschränkung“ letztlich doch welthaltige Gebilde hervorgebracht hat, in denen sich die Diesseitigkeit des Konkreten mit den Mythen der Vorzeit und des Mittelalters begegnen. Indem Lehmann Gestalten aus Mythologie und Geschichte in die lebendige Natur zurückführte und so dem faschistischen Kult des Übermenschen eine humane, wenn auch idyllisierende Auffassung entgegensetzte, erweiterte er den Naturbegriff durch die geschichtliche Dimension der Menschwerdung.
Ein Gedicht wie „Unberühmter Ort“ erinnert an Georg Maurers Gedanken, daß „keine bedeutende Naturlyrik… außerhalb der Menschengesellschaft“ existiert:
Was der Dichter von seinem Verhältnis zur Natur sagt, sagt er von der Gesellschaft, in der er lebt.
Lehmanns Gedicht markiert – im Sinne Georg Maurers – überzeugend die schöpferische Leistung des Lyrikers, aber auch den Riß, der durch die moderne deutsche Naturlyrik geht. Noch einmal – freilich mit der Geste des Endgültigen – gelingt es ihm, entlegene Zeiten und Räume in einem Jetzt und Hier zusammenzubringen. Die authentische Geschichtlichkeit der Orte und Dinge verflüchtigt sich allerdings bei ihm in der Zeitlosigkeit der Natur. Die wirklich beredten Nomina des Gedichts sind Flora und Fauna entnommen und stehen jenseits des geschichtlichen Geschehens. Aufeinander bezogen werden Natur und Geschichte lediglich im Reich des schönen Scheins: hier offenbaren sie ihre durch Zeiten und Räume gehende Präsenz. Lehmann, der die gedankliche Rede scheut, weil er sich dem Konkreten verpflichtet fühlt, vertraut der Aussage der Dinge, die zu Zeichen werden für ein nicht näher bestimmbares, allumfassendes Geschehen, in dem sich – nach dem Willen des Dichters – Natur und Geschichte vereinigen. Am „unberühmten Ort“ weiß er als Chronist dieses Geschehens um Bedeutungslosigkeit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns; gleichzeitig, und hier offenbart sich sein Realitätssinn, wird der „unberühmte Ort“ zum Synonym für das sich immer wiederholende Naturgeschehen. Damit ist der Ort, an dem die Geschichte vorbeigegangen ist, in Lehmanns Verständnis vor allem ein Ort, an dem die Natur, im Sinne Hegels, „zu sich selbst kommt“. Der Riß, der die Natur von der Gesellschaft trennt und den wir heute angesichts einer Produktivität, welche die Natur erbarmungslos auszubeuten imstande ist, besonders deutlich empfinden, wird in diesem wie in anderen Gedichten durch die pantheistische Weltanschauung des Dichters überbrückt. Geschichtliches Tun verliert sich gleichsam in der Natur, während diese in ihrer Konkretheit als etwas Immerwährendes evoziert wird: das Geschwätz der Stare, älter als jede Geschichtsschreibung, triumphiert ebenso wie die Flügelseide des Harlekins über den geschichtlich-geschichtslosen Augenblick. Gleichzeitig wird die Natur zum Ort der inneren Emigration: Sie verkörpert das Unvergängliche, das über Zeit und Geschichte steht. Der innere Emigrant Lehmann mag wohl um die Gefahren gewußt haben, die der Menschheitsgeschichte innewohnen. Er hat sich jedoch diesen Gefahren nicht entgegensetzen können. Ein trotziges „Nein“ gegenüber dem Machtraumdenken, wie es Loerke aussprach, findet sich bei ihm nicht. Das wird auch in dem Gedicht „Signale“ deutlich, wo die Schreckensvisionen, die Karl Kraus in seinen Letzten Tagen der Menschheit beschworen hat, nur am Rande berührt werden. Hier zeigt sich, daß der Dichter ein wie auch immer geartetes Eingreifen der Literatur in das Zeitgeschehen nicht wahrzunehmen vermochte.
Brechts klassenkämpferischer Impetus in der Wendung „Und die Frage konkret gestellt“, der in den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ poetische Gestalt annahm, konnte sich nicht mit Lehmanns Selbstverständnis vom Auftrag des Dichters treffen. Neben der „Antwort des Schweigens“ war dem spätbürgerlichen Lyriker lediglich der Versuch einer Versöhnung von Mensch und Natur im Gedicht möglich. Programmatisch steht in den ersten beiden Versen der vorletzten Strophe des Gedichts, was der Dichter zwischen der Erinnerung an „Gesprengter Leiber letztes Schrein“ und dem „süßen Augenblick“ im Anblick der unvergänglichen Natur als Credo ausspricht:
Tief innen übte sich inzwischen
Gesang, der Thebens Mauer baute.
Die Geschichte, in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ konkret nach denen befragt, die sie gemacht haben, verflüchtigt sich bei Lehmann im Gesang. Im Grunde aber benennt das Gedicht „Signale“ mit der für Lehmann charakteristischen Präzision auch den Tatbestand einer zwischen dem Menschen und der Natur existierenden Entfremdung: die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Natur können sich in keinem Schnittpunkt des Gedichts mehr treffen, obwohl sie als zwei dialektisch aufeinander bezogene Wesenheiten erscheinen. Die Versenkung in eine mythische Kleinwelt kann den Riß zwischen Natur und Gesellschaft nicht überbrücken, obwohl gerade das im Gedicht im Sinn einer pantheistischen Versöhnung erreicht werden soll.
Lehmann hat sich übrigens auch direkt für einen Verzicht auf ein aktives Eingreifen der Literatur in gesellschaftliche Prozesse ausgesprochen:
Karl Marx trägt Sorge, die Welt zu verändern, der Dichter, sie zu begreifen. Er schaut sie an. Seine Anschauung kann sich so steigern, daß sie sich summiert wie der Duft in einer Apfelkammer.
Und er fährt fort:
Warum hat Dichtung solcher Art es heute schwer? Wer käme auf den Gedanken, Mozart vorzuwerfen, er schreibe eine musique pure statt einer musique engagée? Sie bietet freilich keine Handhabe zur Ausnutzung eines ihr fremden Sinnes, ob religiöser, moralistischer, didaktischer Art; sie läßt sich nicht zu Gewinn oder Ungewinn irgendeiner ,Weltanschauung‘ verschrotten, da sie eben ,nur‘ Anschauung der Welt ist.
Wie sehr sich der Dichter auf dieser Position gleichgeblieben ist, bezeugt besonders eindringlich das Gedicht „Deutsche Zeit 1947“, das nur auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper im Werk des Autors wirkt. Das dichterische Begreifen der Welt, wie es sich in Lehmanns Selbstverständnis darstellt, die „Anschauung“, die die Phänomene der Natur und des Seins rein und unverstellt durch ideologische Prämissen ins Gedicht übertragen will, offenbart sich in seinem Werk, das größere Zäsuren oder gar Umbrüche nicht aufweist, nahezu ausschließlich. Lehmann gelang es zwar in „Deutsche Zeit 1947“ mit einer bis dahin in seinen Versen unbekannten Direktheit, die Realien der Not und die Bedingungen der Nachkriegsjahre zur Sprache zu bringen. Doch obwohl diese Verse nicht a priori im Gesang der Welt aufgehen und zunächst eindringlich von einem Dasein sprechen, das gesellschaftlich bedingte Gewalt erlitten hat und erleidet, bleibt er auch hier seinem Willen treu, Gesellschaft und Natur letztlich ineinander aufzuheben. Auch in diesen Versen waltet die ihm eigentümliche subjektive Dialektik. Das Ende des „Weltgedichts“ wird im Bewußtsein des Dichters markiert und gleichzeitig aufgehoben: die geschändete Natur impliziert gleichsam den Auftrag des Überlebens im Gesang:
Mißglückter Zauber? Er gelang.
Ich bin genährt. Ich hör Gesang.
Die Selbstgenügsamkeit der Natur („Und neues Leben blüht aus den Ruinen“), wie sie der Dichter in diesem Gedicht apostrophiert, entläßt den Menschen, den Lehmann ohnehin als aktiven Umgestalter von Natur und Gesellschaft aus seiner Konzeption ausgeschlossen hat, in gewisser Weise aus seiner Verantwortung. So wie die Natur im Verständnis des Pantheismus letztlich nur phänomenal begriffen werden kann, ist auch die Geschichte bei Lehmann nur Teil einer fortwirkenden Kraft zentralen Geschehens. Wie in keinem anderen Gedicht offenbaren sich hier die Grenzen eines spätbürgerlichen Humanismus, dessen tragische Konsequenz darin besteht, daß er nicht mehr imstande ist, seine eigenen Interessen aktiv zu verteidigen. Lehmanns Gedichte – und ganz besonders gilt das für das Gedicht „Deutsche Zeit 1947“, das zunächst wie eine Ausnahme wirkt – verweisen gerade in ihrer Ausgereiftheit als Kunstgebilde und als letzter möglicher Ausdruck pantheistischen Denkens auf den Doppelcharakter spätbürgerlichen Kunstwillens: Sie zeigen gleichermaßen das ausgereifte bildnerische und sensualistische Vermögen ihres Autors wie auch ihr objektives, über das Kunstwerk selbst hinausweisendes Wesen. Indem eine solche Lyrik ihre selbstgewählte Begrenztheit offenbart, spricht sie gleichzeitig von der Größe dieser Begrenztheit.
Wilhelm Lehmann hat wie wohl kaum ein anderer Lyriker deutscher Zunge zu seiner Zeit das Segment Welt, dem er vertraute und dem er sich anvertraute, aufs Wort gebracht. Die in seinen Gedichten gesteigerte Anschauung der Welt ist freilich nichts anderes als die ihm mögliche Form seiner Weltanschauung. Poesie pure oder poesie engagée –, diese Frage hebt sich dort von selbst auf, wo der Dichter aus Kenntnis der Dinge gesprochen hat. So entstanden Gedichte, deren mythisch-magischer Grundton das Erbe von Eichendorff und der Droste weiterführten und zu höchster Vollendung gebracht haben. Verse wie die folgenden sprechen aus sich und für sich:
MOND IM JANUAR
Ich spreche Mond. Da schwebt er,
Glänzt über dem Krähennest.
Einsame Pfütze schaudert
Und hält ihn fest.
Der Wasserhahnenfuß erstarrt,
Der Teich friert zu.
Auf eisiger Vitrine
Gleitet mein Schuh.
Von Bretterwand blitzt Schneckenspur.
Die Sterblichen schlafen schon –
Diana öffnet ihren Schoß
Endymion.
Die versachlichte Wahlverwandtschaft Wilhelm Lehmanns zur deutschen Romantik gewinnt hier vollkommene Gestalt. Wer vernähme nicht auch in dieser Vision einer „beweglichen Ordnung“ die Töne der von Schubert komponierten „Winterreise“ Wilhelm Müllers?
Heinz Czechowski, Wuischke am Czorneboh, Juni/Juli 1979, Nachwort
– Zu ausgewählten Gedichten Wilhelm Lehmanns im Aufbau-Verlag. –
Wilhelm Lehmann gehört zu den großen deutschsprachigen Lyrikern der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Als der Dreiundfünfzigjährige – nach rasch vergessenen epischen Anfängen – 1935 im Berliner Widerstandsverlag von Ernst Niekisch und Alexander Mitscherlich seinen ersten Gedichtband Antwort des Schweigens veröffentlichte, stellte er ihm einen programmatischen Vers aus Goethes „Marienbader Elegie“ voran:
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.
Und so steht er vor uns: neben Oskar Loerke der andere Großmeister des modernen deutschen Naturgedichts, in seiner Größe und Einseitigkeit bis heute bewundert und befehdet zugleich. Im Stürmer wurde er geschmäht, in die faschistische „Blut-und-Boden“-Kunst ließ er sich mit keinem Vers einordnen. Die Nachwirkungen seiner verhaltenen, subtilen Lyrik reichen verdeckt bis in unsere Tage. Kein ideologischer Vorbehalt kommt umhin, die unerhörte poetische Leistung, die leuchtende Präzision dieser Verse anzuerkennen. Von letzterer wünschte man sich Einwirkung auf unsere jungen Poeten, als Nachahmung nicht seiner Sprache, wohl aber seines Ethos im Umgang mit der Sprache. So gibt es Gründe genug, den von Heinz Czechowski herausgegebenen stattlichen Auswahlband Gesang der Welt des Aufbau-Verlages so freudig wie als längst fällig zu begrüßen.
Als Johannes Bobrowski sich 1964 vom „reinen Naturgedicht“ distanzierte, dabei einzig auf Wilhelm Lehmann verweisend, und stattdessen das Gedicht forderte, das den Menschen als in der Natur Tätigen zeigt, da war das die notwendige Rechtfertigung einer neuen Naturdichtung, in deren Mitte nun der geschichtliche Mensch mit seinen geschichtlichen Erfahrungen trat. Heute, da die Gefährdung, ja Vernichtung von Natur ins Riesige ausgreift, stehen wir Lehmanns strenger Naturlyrik neu gegenüber. So heil und zeitlos wie er können wir Natur nicht mehr sehen, aber die Präzision, mit der sie in seinen Versen erscheint, läßt ihr dichterisches Bild zum Mahnbild werden und seine Verse als ein inständiges, weil völlig unsentimentales Memento naturae lesen.
Denn das sind diese Gedichte vor allem: in ihrem subtilen Anschauen und Begreifen von Natur fern aller alt- und neuromantischen Gefühligkeit. Lehmann, von Hause aus Botaniker und Philologe und in der herberen Landschaft Schleswig-Holsteins beheimatet, erzog sich eine Sprache von unvergleichlicher Genauigkeit und Sensibilität, um jedes Naturdetail angemessen ins Wort zu bringen. Sucht man nach poetischer Ahnenschaft, so wäre an die westfälische Droste, mehr noch an den alten Hamburger Gartendichter Brockes zu denken, der als erster das genaue Naturdetail ins Gedicht brachte. Lehmann war zutiefst überzeugt davon, daß allein der Weg über die Sinne zum Sinn der Welt führt, jedenfalls im Gedicht. Was er im Vers vibrierend nacherlebbar machte, ist zuallererst der Mikrokosmos am Wegesrand in seiner Vielgestalt und Lebensfülle. So gewiß Detail und Name triumphieren, so gewiß zielt Lehmann am Ende doch auf die Natur als Ganzes, als Lebens- und geheimen Geisteszusammenhang, auf den Gesang der Welt. Da ihm die großen Vokabeln und selbstsicheren Weltanschauungen der Vergangenheit nicht mehr zur Verfügung standen, blieb ihm nur der Weg über das faßbare Detail, das auf das Ganze weist. So ist Natur im deutschen Gedicht nie konkreter und gleichzeitig auf ganz sinnliche Weise nie geisterhafter erschienen als in Wilhelm Lehmanns Gedichten.
Ältestes und modernstes Naturwissen verbinden sich hier, um uns Heutigen die vergessenen Unerschöpflichkeiten und Wunder der Natur wieder als Lebensgrund, als eigene Lebensdimension zu erschließen. Ihre reine und genaue Anschauung meint zuletzt stets den „Ruhm des Daseins“ (so heißt ein Gedicht). Dem naturfernen Leser verlangt sie einige Bemühung ab, am stärksten dort, wo die Verse auf die Zeitlosigkeit und ewige Wiederkehr, auf den ewigen Wandel und Fortbestand der Natur zielen. Denn so sehr das sinnliche Naturdetail seine Feste feiert, so sehr wird es ebenso wie das Naturganze letztlich mythisch begriffen – im Sinne von Mythos als Erzählung exemplarisch-uralter Geschichten, die Zeitlosigkeit und ewige Wiederkehr meinen. Lehmanns Gedichte erzählen vom ewigen Weben der Natur. Dies sinn- und sinnenfällig zu machen, werden noch die fernsten Mythen und Märchen, Sagen und Legenden, aber ebenso exemplarische Figuren und Geschichten der Weltliteratur mit seltener Leichtigkeit und Anmut beschworen. Sie treten in die Natur über, sie ereignen oder spiegeln sich in ihr. Das öffnet weiteste Horizonte, verlangt aber auch ein selten reiches Leserwissen.
Dieses Verfahren entkleidet jede Menschengestalt, die historische wie die poetische, ihrer einmaligen Geschichtlichkeit. Nur so wird sie zur Signatur zeitlosen Naturdaseins, nur so können Gestalten entferntester Mythen- und Kunstbereiche jählings zusammenrücken. Den Menschen als Gestalter von Geschichte kennt diese Lyrik ebenso wenig wie den Menschen als machtvollen Herrn der Natur. Wo der Mensch im Gedicht erscheint, ist er beinahe immer der demütig Anschauende und Begreifende (d.h. der Dichter), nirgendwo der Verändernde. Das dem Dichter vorzuhalten, wäre müßig angesichts dessen, was er innerhalb solcher Begrenzung geleistet hat, aber auch angesichts dessen, was Natur in ihrer Bedrohung durch den Menschen uns heute bedeutet.
Czechowskis Auswahl aus Lehmanns lyrischem Gesamtwerk darf als repräsentativ gelten; sie verrät überall die sichere Hand des Lyrikers und des ehemaligen Lektors. Sein kluges und gerechtes Nachwort bestimmt Lehmanns Position sorgfältig und liefert auch die wichtigsten Lebensdaten, freilich auch einige Wiederholungen und unsichere Formulierungen, ein wenig zu viel Rechtfertigung. Auch sei redlich gefragt, ob abgegriffene Formeln wie „bürgerlicher Humanismus“, „kleinbürgerlich-konservativ“ und „spätbürgerlicher Humanismus“ Lehmanns Haltung überzeugend zu definieren vermögen. Was helfen richtige Begriffe, wenn sie für einen Großteil der Leser zu leeren Worthülsen geworden sind. Der Sachverhalt wäre neu zu umschreiben, zumal bei einem gegenüber jedem Klischeewort so hochempfindlichen Poeten wie Lehmann. Auch ist es schade, daß Czechowski Lehmanns zahlreiche und vielfach sehr erhellende Essays und Reden zum modernen Naturgedicht für sein Nachwort nicht stärker genutzt hat, da andererseits keiner dieser Texte den Gedichten ergänzend hinzugefügt wurde. Gegen den sonstigen Brauch in dieser Bandreihe wären auch knappeste Erläuterungen der zahlreichen entlegenen Eigennamen sinnvoll gewesen, dort zumal, wo kein Lexikon weiterhilft. Wer nicht weiß, daß Prinz Floritzel und Perdira aus Shakespeares Wintermärchen und Jachimo und Imogen aus Shakespeares Cymbeline stammen, wird sich nicht leicht zu helfen wissen…
Eberhard Haufe, Thüringer Tageblatt, 16.6.1981
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
Gerd Mahr: Dichtung und Dasein
Die Tat, 29.4.1972
Heinz Richter: Pansflöte und Abgesang
neue deutsche literatur, Heft 5, Mai 1982
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