SCHNEEWITCHENS LIED
mach
dich frei von gier & berechnung
leg ab das federkleid der weißen taube
sei leicht und nackt wie ein faun
dein geliebter singt über dem blühenden berg
die geliebte tanzt zwischen himmel & hölle & licht
keiner gehört keinem allein
die musik & die liebe machen uns leicht
schwebend wie das kleid der weißen taube
sei leicht & nackt wie ein faun
keiner gehört keinem allein
zwischen dämmer & schatten wachsen die träume
& nur der glanz des lichts der kerze sinkt in mein meer
küsse die schwarze taube
leg ab das weiße federkleid
sei leicht & schön wie ein faun
keiner gehört keinem allein
Frank-Wolf Matthies
Ein genaueres Studium der Märchen würde uns darüber belehren, was wir in der Welt noch zu erwarten haben.
(Elias Canetti)
Das Interesse am Märchen hat während der beiden letzten Jahrzehnte ungemein zugenommen. Märchensammlungen jeglicher Art sind auf dem Büchermarkt erschienen, und auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Märchenforschung haben Volkskundler, Literaturwissenschaftler, Psychologen und andere viel geleistet. Die altüberlieferten Märchen spielen also als Lektüre und Forschungsgegenstand weiterhin eine beachtliche Rolle, und sie gehören auch in der modernen Gesellschaft zu dem allgemein bekannten Lesestoff. Das dürfte vor allem an der Universalität der im Märchen dargestellten Probleme liegen, womit sich auch der zeitgenössische Mensch identifizieren kann. Heute wie ehedem erweisen sich die Märchen als Ausdruck menschlicher Urprobleme, und sie sind Kindern sowie Erwachsenen ein poetischer Schlüssel zum Weltverständnis.
Wurden Märchen jedoch früher hauptsächlich als schöne Geschichten von Glück und Wunscherfüllungen gelesen, so zeichnet sich die heutige Auseinandersetzung mit den Märchen durch ihre kritische Einstellung aus. Märchen waren und sind ja gerade nicht nur Kinderliteratur, sondern hauptsächlich Dichtung für Erwachsene. Erst durch die Brüder Grimm wurden die Märchen zu „Kinder- und Hausmärchen“, die als Lesestoff in der Kinderstube einen großen Einfluß auf die Jugend hatten. Doch mit dem fortschreitenden Alter geht auch die naive Einstellung den Märchen gegenüber verloren, so daß Erwachsene den Märchen doch eher kritisch gegenüberstehen. Die Träume an eine perfekte Welt mit Glück, Liebe und Optimismus werden durch eine kritische Infragestellung des positiven Wertsystems der Märchen aufgegeben, da die Realität dem Wunschbild des Märchens nicht entspricht. Bekannte Märchen werden zwar weiterhin erzählt und vorgelesen, doch es werden auch modernere, den neueren Gesellschaftszuständen entsprechende „Märchen“ von Schriftstellern geschrieben, die die angeblich überholten Märchen ersetzen sollen.
Eine andere Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit den Grimm-Märchen sind die schon seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts überlieferten Umdichtungen. Natürlich haben besonders solche bekannten Märchen wie Dornröschen, Rotkäppchen und Schneewittchen Autoren dazu angeregt, den Text poetisch umzugestalten. So gibt es auf Märchenstoffen aufgebaute Dramen, Opern, Erzählungen und vor allem auch Balladen und Gedichte. Oft handelt es sich dabei um lyrische Bearbeitungen, die das alte Märchen mehr oder weniger getreu nacherzählen. Doch in den Gedichten von Autoren wie Karl Immermann, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und anderen zeigt sich bereits die Tendenz, die, Märchenwelt mit der Realität zu konfrontieren. Fragen der Schuld, Emanzipation, Freiheit usw. werden aufgeworfen –, so daß bereits manche der frühen Märchendichtungen zu Antimärchen werden.
Dieses Phänomen läßt sich für die vielen Märchenbearbeitungen des zwanzigsten Jahrhunderts zur Regel verallgemeinern. Natürlich gibt es noch einige lyrische Umdichtungen, die durch die Nacherzählung eines Märchens die Hoffnung auf eine heile Welt ausdrücken wollen. Albrecht Goes, Franz Fühmann und anderen Dichtern sind solche Gedichte gelungen, die voller Zuversicht ausdrücken, daß Märchen auch heute noch geschehen können. Doch die meisten modernen deutschsprachigen Märchengedichte sind kritische Reaktionen auf nicht mehr geglaubte oder akzeptierte Märchen, die den vorhandenen Märchenstoff in ein parodistisches, satirisches oder gesellschaftskritisches Antimärchen verwandeln. Damit soll der Leser, dessen Kenntnis des ursprünglichen Märchentexts vorausgesetzt werden darf, zu kritischem Nachdenken aktiviert werden, so daß das Antimärchen durch verantwortungsvolles Teilhaben an der Gesellschaft wieder zum „Märchen“ verwandelt werden kann.
Die modernen Märchengedichte befassen sich mit jedem erdenklichen menschlichen Problem. Es gibt Gedichte über den Krieg, den Faschismus und die Politik; Liebes- und Eheprobleme werden dargestellt; die Konsumgesellschaft mit ihrer Geldgier und dem Materialismus wird bloßgestellt; der Mangel an Arbeitsschutz wird diskutiert; die Wohlstandsgesellschaft wird mit der Umweltverschmutzung konfrontiert; Fragen der Emanzipation treten wiederholt auf; Falschheit, Gier und Berechnung werden bloßgestellt; die Lieblosigkeit und Kälte der Menschen werden drastisch erläutert; und auch das Problem der Vergangenheitsbewältigung wird in mehreren Gedichten über die Nazizeit erörtert. Doch nicht alle Gedichte befassen sich mit ernsthaften Themen; manche behandeln auch recht humorvoll die im Märchen mehr oder weniger versteckte Sexualität, und beliebt sind auch ironische Sprachspielereien mit Märchentiteln und Märchenmotiven, die zu einer Art „Märchenallerlei“ verbunden werden. In allen Gedichten aber spürt man, wie die modernen Autoren nur noch mit Antimärchen auf ihre Zeit und ihre Gesellschaft reagieren können. Und doch versteckt sich hinter vielen dieser Aussagen die stille Hoffnung auf ein besseres Leben, wo aus Antimärchen wieder Märchen werden.
In der vorliegenden Anthologie sind 90 Märchengedichte von 66 Autoren aus den deutschsprachigen Ländern zum ersten Mal vereint worden. Diese Sammlung beruht auf jahrelanger Forschung, die den Schluß zuläßt, daß es eine lyrische Untergattung der„Märchengedichte“ gibt. Obwohl ein Gedicht von Goethe von 1774 und einige Texte aus dem neunzehnten Jahrhundert aufgenommen wurden, handelt es sich hier doch vor allem um eine Sammlung moderner Märchengedichte. Als der produktivste und wichtigste Dichter von Märchengedichten ist Franz Fühmann anzusehen, von dem fünf Gedichte in dieser Anthologie erscheinen. Aber auch Karl Krolow, Rolf Krenzer, Günter Bruno Fuchs, Helmut Preißler, Kurt Sigel, Harald Hartung, Franz Josef Degenhardt, Ulla Hahn, Josef Wittmann, Otti Pfeiffer und Sarah Kirsch sind zwei- bis viermal vertreten. Doch meistens gibt es für einen Autor nur ein Gedicht, was erkennen läßt, daß Märchengedichte zwar von vielen modernen Dichtern geschrieben werden, aber gewöhnlich nur als ein einmaliger Versuch. Bekannte Schriftsteller wie Georg Heym, Marie-Luise Kaschnitz, Karl Mickel, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Paul Celan, Peter Hacks, Josef Reding, Martin Walser, Bertolt Brecht, Günter Eich und Wolf Biermann sind vertreten, aber auch experimentelle Gedichte mit Märchenanspielungen der lyrischen Avantgarde.
Die Gedichte sind in vierundzwanzig kleine Kapitel aufgeteilt, wobei die Texte jeweils chronologisch angeordnet sind. Das erste Kapitel bringt allgemeine Gedichte über den Sinn der Märchen, und darauf folgt ein Kapitel mit Märchengedichten, die mehrere Grimm-Märchen zu einem „Märchenallerlei“ verbinden. Die anderen Kapitel sind nach Grimm-Märchen benannt, und sie folgen der Anordnung der Märchensammlung der Brüder Grimm. Für viele Märchen gibt es nur ein oder zwei Gedichte, doch für populäre Märchen wie Dornröschen und Schneewittchen häufen sich die lyrischen Bearbeitungen, die dem Leser interessante Vergleiche ermöglichen. Im alphabetisch geordneten Anhang sind die Lebensdaten der Autoren sowie die Daten der Erstveröffentlichung der Gedichte vermerkt.
Selbstverständlich handelt es sich bei diesen Gedichten um Erwachsenendichtung, wie ja auch die Märchen zu Beginn unter Erwachsenen erzählt wurden. Märchen und Märchengedichte in der Form von Antimärchen wollen die Welt erklären und verbessern, und dazu mag auch dieses Büchlein beitragen. Gewidmet sei es meinem kleinen Neffen Jan Oliver, der Märchen so sehr liebt und die Antimärchen noch nicht kennt.
Wolfgang Mieder, Vorwort
Schreibe einen Kommentar