Alexander von Bormann: Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Der Engel mit der Eisenbahnermütze“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Thomas Rosenlöchers Gedicht „Der Engel mit der Eisenbahnermütze“ aus Thomas Rosenlöcher: Schneebier. –

 

 

 

 

THOMAS ROSENLÖCHER

Der Engel mit der Eisenbahnermütze

Er steht im Schnee, wo alle Züge enden.
Und zählt die Toten, die man, Stück für Stück,
an ihm vorüberträgt, von links nach rechts.

Doch schon bei sieben weiß er nicht mehr weiter.

Daß man die Toten, die von links nach rechts
an ihm vorbeigetragen worden waren,
erneut vorüberträgt, von rechts nach links.

Doch schon bei sieben weiß er nicht mehr weiter.

So zählt er immer noch am letzten Krieg,
obwohl der nächste schon gesichert ist
und wieder Tote angeliefert werden.

 

Tote am Stück

Thomas Rosenlöcher, 1947 in Dresden geboren, ist als Lyriker so liebenswürdig unzeitgemäß, wie man es wohl nur in Kleinzschachwitz/Beerwalde sein kann. Natur, Gebrauchsgegenstände, lyrische Bilder behandelt er wie Requisiten aus einer verschollenen Welt, die erinnert werden sollte, wenn wir nicht ohne Zukunft leben wollen.
Das gilt auch für die Engel. Sie erscheinen als „Himmelsvögel“ in seinen Gedichten, eine – „als Insekt sakraler Art“ – vielfach bedrohte Gattung. Der Dichter räumt ihnen den Konjunktiv, die Möglichkeitsform, ein, sagt zum „Schutzengel“ „… Komm. / Siehe, ich bin fromm. / Säßest du im Bethaus drin, / hätte Beten seinen Sinn“. Das klingt nicht eben zuversichtlich. Ursprünglich galten Engel als Sternenbeweger und herrschten bei den Griechen wie bei den Christen über den Kosmos und die Elemente. In der Dichtung und Kunst treten sie als Mittler zwischen Himmel und Erde auf, so schön wie schrecklich, „fast tödliche Vögel der Seele“ (Rilke). Ein wenig davon läßt Rosenlöcher noch gelten: Auch der Engel mit der Eisenbahnermütze steht an einer Grenze. Die Bezeichnung deutet freilich an, daß er mit einer recht profanen Arbeit betraut ist.
Das darf uns nicht täuschen. Die Bilder weisen ihm eine hochbedeutsame Stellung an: außerhalb der Lebenswärme und des Hin und Her unseres Verkehrs. Wo er steht, geht es nicht mehr weiter. „Im Schnee“ fallen die Unterschiede dahin. Ist es der Ort der Übersicht, der großen Bilanz? So haben wir uns das Jenseits lange gedacht: wo Rechenschaft und Ausgleich (un)endlich zu Hause sind. Der Bereitschaft, einander abzuschlachten, hat das eher auf- denn abgeholfen.
Das Zählvermögen des Engels ist dem Töten, das die Form einer Produktion von Massenware angenommen hat, nicht gewachsen. Rührend, ja herzbewegend, wie schnell er aufhört: Sieben sind ihm schon genug. Jeder Mensch wäre ihm überlegen. So gehört dem „man“ in der zweiten Zeile die Wahrnehmung „Stück für Stück“. Dem Dichter aber die ingeniöse Sparsamkeit, daß es dieselben Toten sind, die vorbeigetragen werden: von links nach rechts, von rechts nach links. Es sind, unerachtet der Richtungen, getötete Menschen, die da „angeliefert werden“.
Der fünffüßige Jambus ist der Vers der Klassik und hier in doppelter Bedeutung eingesetzt: human im Refrain, der Ohnmachtsgeste des Engels; „verteufelt human“ (Goethe) in den Terzinen, als Denunziation einer Zivilisation, deren letzte Auskunft stets „wieder Tote“ sind. Die Zeitungen bestätigen das mit jeder Ausgabe.
Das Gedicht ist streng gebaut, drei Strophen mit drei Zeilen, dazwischen jeweils die Verweigerungsgeste des Engels. Ein dreifacher Anruf (wessen?), der nach alter Tradition nicht negiert werden darf. Eine solche Regel gilt nicht mehr. Die Richtungsangaben meinen das Hin und Her, nicht ohne politischen Beigeschmack. Es war üblich, die Toten „von links nach rechts“ zu schieben: auf den Faschismus; dann wieder umgekehrt, „von rechts nach links“, auf den Kommunismus. Der Engel bleibt davon unberührt: weiß nicht weiter als sieben.
Die Schlußstrophe, die Schlußzeile sind lakonisch im Ton. Die „lakonische Kürze“ gehörte zur Kriegssprache, in der man sich schnell verständigen mußte, keine großen Worte machen durfte. Es ist eine trostlose Strophe, die keine andere Perspektive offenläßt: So ist es. Vielleicht ließe sich ja die zu den Engeln ausgelagerte Humanität neu begreifen, ergreifen. Das Gedicht sagt dazu nichts, es weiß, wie sein Engel, auch nicht mehr weiter.

Alexander von Bormannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwanzigster Band, Insel Verlag, 1997

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