Alfred Kelletat: Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“ aus dem Band Peter Huchel: Chausseen, Chausseen. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Der Garten des Theophrast
Meinem Sohn

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

 

Im Geheimnis der äußersten Helligkeit

bezeichnet die Eröffnung Ort und Zeit: südlicher Mittag, Land der Urnen – sicher nicht nur urna als das barocke „Todesgefäß“, sondern zuerst Wassertopf, Krug, Amphore, Nebenbedeutungen können zu Lostopf, Schicksalsurne weiterführen, schließlich aber ist das Behältnis alles dessen gemeint, was von der Vergangenheit und in der Vergänglichkeit übrigbleibt. über diesen uralten Gefäßen tanzt zu dieser Stunde „das weiße Feuer / Der Verse“, als züngelten sie aus dem Urstoff alles Gewesenen, geschehener Taten, gedachter Gedanken, gelebten Lebens auf und glühten ihn aus zur unwiderruflichen Chiffre. Ihre Figur bestimmt das Versmaß, der Silbentanz.
In dieser Stunde, die zum „Andenken“, zur Stiftung des Bleibenden gemacht ist, tönt das doppelte „Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer, / Die einst (…)“. Damit tritt Mnemosyne, die Mutter der Musen (die auch die Gedenkenden sind), die Herrschaft an; ihre Stunde ist sonst der Abend, der Niedergang und das Ende der Zeit. Dann singt sie das Gedächtnis der Heroen, der dahingegangenen.
Um diesen Imperativ „Gedenke!“ gliedert sich das Zeitgerüst des Gedichts. Die Erinnerung trägt Vergangenes in die Zukunft über den schmalen Paß der Gegenwart – hier ist der Drehpunkt, um den die Schalen der Waage spielen. Die Verse 5 und 6 bilden ihre Mitte, in sich selbst wieder Futurisches und Imperfektes enthaltend:

Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast.

„Bewahre die Stunde“ – darin liegt der Auftrag. Hart ist die Gegenwart fixiert: „Tot ist der Garten“; „Ein Ölbaum spaltet (…) / Und ist noch (…)“ und „Es sinkt dein Licht“. Die Mitte des Gedichts nimmt die grammatisch verhüllte Identifikation des lyrischen Ichs mit Theophrast ein; denn der, dessen Garten tot ist, dessen Atem schwerer wird, der seinem Sohn das „Gedenke“ und „Bewahre“ aufträgt, ist Theophrast. Dieser Titelfigur des Gedichts muß man sich vergewissern, Theophrast, etwa 372–287, von Lesbos gebürtig, war in Athen zunächst Schüler Platons, dann des Aristoteles; dieser soll ihm auch den Namen des „göttlich Redenden“ beigelegt haben. Er wurde selbst ein sehr erfolgreicher Lehrer (er soll an die 2000 Schüler gehabt haben!) und nach dem Tode des Meisters dessen Nachfolger als Haupt der Peripatetischen Schule. Unter den über 200 Schriften, die das Altertum von ihm kannte, ragen nicht nur die Charaktere (die La Bruyère erneuert hat) und die Meinungen der Physiker (der Naturphilosophen) als älteste griechische Philosophiegeschichte hervor; besonders bezeichnend für ihn sind seine naturwissenschaftlichen Werke: über Wein und Öl, Honig, Steine, Metalle, Winde und Wasser, Salze, Säfte und Gerüche, Früchte. Seine noch heute bewunderte Botanik entwirft ein System der Pflanzen und umfaßt eine Pflanzengeographie und -physiologIe.
In des Diogenes Laertios unerschöpflichen Leben und Meinungen berühmter Philosophen (von 275 v.Chr.) spielt in der Vita des Theophrast (Buch 5, Kap. 2) auch der Garten eine wichtige Rolle, den er nach Aristoteles’ Tod erworben oder geschenkt erhalten hat. In ihm befand sich sowohl der Peripatos, seine Schule, als auch ein Musenheiligtum, das bei einer Belagerung Athens durch König Demetrios im Jahre 294 zerstört wurde; das Testament des Philosophen stiftete Geld zur Wiederherstellung. Der Garten wird in diesem Testament nebst der Schule den Schülern und Freunden zu Eigentum und Pflege vermacht:

sie sollen es wie ein Heiligtum gemeinsam besitzen und in vertrautem und freundschaftlichem Verkehr miteinander benutzen, so wie es geziemend und gerecht ist. (…) Mich aber soll man auf dem Platze des Gartens begraben, der am angemessensten dafür scheint, ohne jeden Prunk bei der Beerdigung oder für das Denkmal.

Soweit die Nachricht über den „Garten des Theophrast“ aus Diogenes Laertios. Was ist von ihr in das Gedicht eingegangen?
Es ist die Welt der Gärten, in denen die Sokratischen Gespräche das geistige Feuer anzündeten und die klassische Zeit des Denkens heraufführten, Platons Akademie und das Lykeion des Aristoteles. Ein Zeitgenosse des Theophrast ist Epikur, der um 300 die Schule der „Philosophen im Garten“ gründete, in der er die Weisheit des πάθος und die ἀταραξία, die leidenschaftslose Gemütsruhe, lehrte. Von ihm teilt Diogenes Laertios im 10. Buch einen kleinen Brief mit, den er unmittelbar vor dem Tode einem Freunde schrieb: „Als Gegengewicht gegen alles dies (die Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß übersteigen) dient die freudige Erhebung der Seele bei der Erinnerung an die zwischen uns gepflogenen Gespräche“, heißt es.

Die erste Versgruppe des Gedichts – das übrigens durch eine teils umfassende, teils freier schweifende Reimbindung zusätzlich organisiert ist, wobei den Reimpaaren besondere Verweisungen eignen dürften, wie Feuer : Gemäuer, Boden : roden, Staub : Laub – die Verse 1–4 also übernehmen den Duktus des Testaments, der Erblassenschaft. Ihre Einlösung wird im Bewahren und Gedenken geschehen; aus dem Schoß der Erinnerung gehen die Künste als die Gaben der Gedenkenden hervor, vom Einst (Vergangenheit) zum Einst (Zukunft). Die Verse 5–8 zeichnen die Gestalt des Erblassers und die Stunde der Erblassung: den großen Lehrer, hingegeben den einfachen Pflichten im Dienst an der Natur „Mit Eichenlohe zu düngen (…) / Die wunde Rinde zu binden (…)“, aus deren Beobachtung er seine Erkenntnis zog; ihr vertrauend wurde er gütig. Vv 9–12 gehen über die Situation des historischen Theophrast hinaus – es sei denn, man dächte an die kriegerische Zerstörung von Garten und Heiligtum wenige Jahre vor seinem Tode oder an seine wenn auch nur kurzfristige Verbannung aus der Hauptstadt: der letzte Trost ist der letzte Ölbaum, er „ist noch Stimme im heißen Staub“.
Athene hatte ihn einst der Landschaft geschenkt, den Ernährer, den Reichtum Attikas und das Fundament der mediterranen Kultur. Wer dächte dabei nicht an jenen heiligen Ölbaum auf der Akropolis, an der Westseite des Erechtheions und nahe dem Bezirk der Taugöttin, welchen Erechtheus einst aus der Hand der Göttin gewählt; und wem käme nicht das Hohelied in den Sinn, welches Sophokles ihm im Ödipus auf Kolonos gesungen hat, als er seinen unglücklichen Helden, den Blinden am Arm der Tochter Antigone, zum schönsten Obdach, ins glanzhelle Kolonos, führt. Da spricht der Chor in der zweiten Strophe (in der Übersetzung Solgers, Hölderlin hat leider nur die erste Strophe und Antistrophe dieses Chorliedes übertragen):

Auch steht hier ein Gewächs,
Wie das Gefild Asia keines
Noch weit prangend die Flur dorischen Eilands,
Die pelopische, denk ich,
Erzeugt, von selbst treibend, ungewartet,
Der Feindeslanzen Schreckenbild,
Das reichlich aufblüht in dieser Landschaft:
Gesproßpflegender blau schimmernder Ölzweig,
Den nie ein Jüngling noch Greis, so jemals
Heer anführt, mit Gewalt tilget und umwirft;
Denn es beschaut ihn unendlich stets
Wach Zeus Morios’ Augenstern
Und blauäugig Athene.

Dieses Ruhmeslied lag über hundert Jahre zurück, als Theophrast seinen Garten in das Testament einschloß. Schneidender ist die Klage des Dichters unserer Tage. Unabwendbar atmet das „Sie gaben Befehl (…)“ die Feindseligkeit und Barbarei der ungenannten Verderber – gleich unaufschiebbar, wenngleich andern Sinnes, wie das Wort Johannes des Täufers: „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt“ (Matth. 3, 10). Und schon ist’s geschehn: im letzten Vers, dem kürzesten, langsamsten und härtesten des Gedichts: „Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“. Nichts ist von der hexametrischen tänzerischen Bewegung der Verse geblieben, die Stimme stockt und bricht. Die Helle der weißen Feuer des Beginns endet in Finsternis, und was göttlichen Schutz bot allen Schutzflehenden (mit Wollbändern umwundene Ölzweige, wie im Anfang der Schutzflehenden des Aischylos; „Ringsum gekränzt mit bittenden Gezweigen“ heißt es am Anfang des Ödipus Tyrannos), sinkt nun selbst schutzlos, das heilige Laub.
Es bleibt, im Verlust und aus dem Verlust der Gärten, des Ölbaums, der Gespräche das Gedächtnis zu retten. Das ist der Auftrag des Gedichts und seine Möglichkeit. [Ein englischer Interpret hat jüngst den Text direkt aus der unmittelbaren Lebenssituation des Autors zu verstehen gesucht: Peter Hutchinson, „Der Garten des Teophrast – An Epitaph for Peter Huchel?“ in: German Life and Letters, Januar 1971, S. 125–135 (abgedruckt hier). Er hat sich dazu von vorangehenden deutschen Anregern verführen lassen, u.a. Reinhold Lüdtke, „Über neuere mitteldeutsche Lyrik im Deutschunterricht der Oberstufe“, in: Der Deutschunterricht, Jg. 20, 1968, Heft 5, S. 49–51. Da ist der Garten des Theophrast einfach und direkt Peter Huchels Zeitschrift Sinn und Form; von den gärtnerischen Tätigkeiten Vv8 und 9 heißt es: „Das ist, gleichnishaft formuliert, eine sehr genaue Beschreibung der Funktion, die Peter Huchel jahrelang im Bereich der mitteldeutschen Literatur ausgefüllt hat“ (so Lüdtke); der Ölbaum ist abermals die Zeitschrift und das „Gemäuer“ gar die Berliner Mauer! „Line 9, for example, appears in a much clearer light: Sinn und Form, the only periodical to sell in both East and West, is seen as breaching the restrictions of the wall“ (Hutchinson). Bei solchem Kreuzworträtseln bleibt nur zu fragen, ob der Dichter nicht klüger daran getan hätte, einen kulturpolitischen Leitartikel zu verfassen oder sonst seine Meinung deutlicher kundzutun, statt ein so durchsichtiges Maskenspiel zu treiben? „(…) denn man kann nicht immer beurteilen, ob man für andere deutlich genug war“ (Goethe).] Es hat ihn schon erfüllt durch sich selbst. Der tote „Garten des Theophrast“ lebt unzerstörbar

Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt.

Alfred Kelletat, aus Alfred Kelletat: Drei Deutungen (Huchel, Celan, Uhlmann), Fridtjof-Nansen-Haus, 1971

4 Antworten : Alfred Kelletat: Zu Peter Huchels Gedicht „Der Garten des Theophrast“”

  1. Die Interpretation von Huchels „Der Garten des Theophrast“ ist sehr klug. Es müssten nur die zwei durch ? ersetzten griechischen Wörter noch eingetragen werden (das zweite ist sicher ataraxía, aber das erste?).
    Norbert Tholen (https://norberto42.wordpress.com)

  2. Redaktion sagt:

    Wir vertrauen ihrem Spürsinn und haben das zweite ? durch ἀταραξία ersetzt.

  3. Vielleicht vertrauen Sie noch einmal meinem Spürsinn und ersetzen das erste Fragezeichen durch páthos (πάθος).

  4. Redaktion sagt:

    Wir freuen uns über ihren Spürsinn und ersetzen das Fragezeichen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00