Andreas Koziol: Anpassungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Koziol: Anpassungen

Koziol/Koziol-Anpassungen

ENDE DER VORSTELLUNG

Ein Theater machen
Persönlich werden
Die Maske runter
Charakter nicht Charakter
Keine Rolle mehr

 

 

 

Das Heft enthält keine Gedichte sondern Redensarten

sowie redensartverwandte Formulierungen, die zum größten Teil aus dem anonymen Reservoir der Umgangssprache stammen. Redensarten gehören zum Bodensatz der Sprache. Jemand, der sich nur mit Redensarten verständigen wollte, müßte entweder sehr borniert oder sehr am Boden sein. Vielleicht läßt sich sagen, daß Redensarten der kleinste populäre Nenner eines dialogischen Unvermögens sind. Sie produzieren Stummheit. „Ich hatte das Gefühl“, erzählte mir Andreas Koziol, „als würde ich mit dieser Aufzählung lapidarer, allesamt im Infinitiv stehender Sprüche einen toten Punkt vor mir herschieben, an den ich gekommen war. Meine Motivation für das Schreiben von Gedichten machte in der letzten Zeit auf mich selber einen ziemlich verlorenen Eindruck. Sie schien förmlich zu regredieren, und zwar auf das Feld der bloßen Idiomatik, also auf ein Vorfeld eigentlichen Schreibens und Sprechens.“

So sind diese „Anpassungen“ zustande gekommen. Ich dachte, ehe es uns noch völlig die Sprache verschlägt, nehme ich erst einmal Urlaub vom lyrischen Subjekt und schneide den stummen Konsequenzen eine ganze Serie idiomatischer Grimassen.“ Andersherum läßt sich der Hintergrund des Ganzen als Versuch lesen, zu einem Urteil über die eigene Situation zu finden, indem man sich auf lauter anonyme Zeugen stützt, von denen aber zumindest feststeht, wo sie herkommen: aus Wörterbüchern.

H. G., Druckhaus Galrev, Programmheft, 2004

 

 

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Henryk Gericke liest am 28.6.2023 im Baiz.Berlin seinen Andreas Koziol-Nachruf „Inschrift“ und Robert Mießner schließt sich mit Andreas Koziols „Nachschrift“ an.

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die A.koziol“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Andreas Koziol

 

Andreas Koziol liest 3 Gedichte zur Autorenlesung der Literatur- und Kunstzeitschrift „Herzattacke“ am 28.1.2016 im Roten Salon der Volksbühne.

1 Antwort : Andreas Koziol: Anpassungen”

  1. Redaktion sagt:

    Andreas Koziol oder Die Gabe der zugespitzten Zunge

    Seine Sprache pendelt zwischen dem „Einreden“ und dem „Ablauschen“ – Andreas Koziol, Jahrgang 1957, Dichter. Willkürlichkeit der Phantasie und manische Assoziationsketten auf der einen Seite und Demut des Sehers, dem die Wirklichkeit Wahrheit einflüstert, auf der anderen Seite sind die Pole, die seine Sprachwelt begrenzen. Texte „zur Widmung der Gabe des wirklichen, also des andächtigen Lauschens“ sind beispielhaft für diese Welt. Nach ihrem Mittelpunkt zielt er in der Form der Legende, da er sich zutraut, den Kern (also den Samen einer Geschichte) aufzuspüren.
    Andreas Koziol gehen die Worte nicht aus, sondern ein und aus – wie im Taubenschlag aufgeregten Flügelschlagens. Statt an einer Genesis der Denkmäler und -würdigkeiten versucht er sich lieber an einer „Genesis des Spotts“ – in einem nicht-denunziatorischen Sinn – es geht ihm um die Gabe des Lachens dabei.
    Andreas Koziol dreht Pirouetten in der Phantasie eines Träumers, ohne sich im Schraubstock der von ihm geschilderten Verhältnisse einzuzwängen. Gedankenschlaufen und -sprünge wortwörtlich und gleichzeitig in ihrer übertragenen Bedeutung zu meinen ist die Kunst Koziolschen Schreibens. „Consens durch nonsens“ lautete die frühe Formel dafür in einem Gespräch mit Egmont Hesse. Folglich entsteht eine Aufzählung von Einfällen, die nur dem weniger traumtänzerisch begabten Leser manchmal mühsam an den Haaren herbei gezogen scheint. Mit dieser Ausgelassenheit der Einfälle ist jedoch kein purer Übermut verbunden. So kommt unter dem prächtig schillernden Märchenumhang und dem altweise wuchernden Kaiserbart seiner Texte kein gutmütig besonnener Märchenerzähler hervor, sondern einer, dem es selbst schwerfällt, seine Haut vor dem Würgeengel (der Geschichte) zu retten. Die Abrechnung mit der Dichtung bzw. den Dichtern des Prenzlauer Bergs in seinem Lebenslauf ist immer auch der potentiellen Selbstverurteilung eingedenk. Bereits im Bestiarium Literaricum hat Andreas Koziol selbst der Verwandlung in ein Fabelwesen nicht widerstanden. Sein ironisch-kritisches Selbstporträt ist eine Papageienart, die unablässig Worte hervorsprudelt. Und gerade die klingenden Worte des Tönens, Schallens und Klapperns häufen sich in seinen Texten und bilden die onomatopoetische Entsprechung zum Topos des Schweigens.
    Je größer der Berg (drückender Verhältnisse, seines Schreibdruckes) hinter ihm ist, desto gewaltiger rollen die Wortlawinen, und reißen so manchmal auch den Dichter mit sich davon. Dem Leser klingen die Ohren vor zarten und lauten Tönen, deren bekannte Melodien aber so polyphon verwoben sind, dass er manchmal Schwierigkeiten hat, die Nachtigall von der Lerche zu unterscheiden. Zumal sich das Labyrinth (der Stimmen) als des Gedanken liebster Aufenthaltsort entpuppt: Andreas Koziol ist eine kindliche Freude am Ausprobieren eigen, den Dingen die Wörter auf den Leim gehen zu lassen, so dass sie zumindest für die Dauer eines Textes eine haltbare Verbindung eingehen. Seine Sprache ist verstiegen, verschlagen und mit allen Wassern der Poesie gewaschen. Dem Drang nach Anspielung – in einem breiten Spektrum von Bezügen – gibt Andreas Koziol gerne nach, so dass Dantes Göttliche Komödie beispielsweise auf Songs von Bob Dylan trifft.
    Dem Ich-Erzähler bzw. dem lyrischen Ich, Hauptperson vieler Texte, wird die eigene Identität suspekt, und so erfindet er die „erste Unperson Einzahl“, um von sich – zumindest einen Lebenslauf lang – reden zu machen.
    Nichts, das Andreas Koziol nicht in Worte umwandeln und somit verwandeln könnte: mit Witz und Spott versetzt, mit Phantasie gemischt und als Text ausgesondert; ein Text, dem die Zunge nicht zum Hals heraushängt, sondern der vergnügt immer weiter plaudern und plappern kann. Andreas Koziols Sprache ist ein sechster (wörtlicher) Sinn zu eigen. Dieser sechste Sinn für Sprache und Wort ist gekennzeichnet durch eine Treffsicherheit, mit der ein Wort auf alle ihm innewohnenden Bedeutungen stößt. Sein Zungenspitzengefühl befähigt den Dichter, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen. Doch es gibt nicht nur einen Namen, die Vielzahl seiner Texte legt Zeugnis davon ab.
    Ersinnt man eine Bewegung der Texte, wäre es die eines Schweifens: ab und aus oder aus und davon. Oftmals wird dabei der Leser an die freizügigsten Orte der Phantasie geführt, wie etwa in Träume, in die sich Andreas Koziol zu stürzen scheint, wie andere oder frühere Dichter in Drogen und Rausch. Der Traum ist der Torhüter gegenüber einer Wirklichkeit, der das Aufwachen des Träumers im real sich entwickelnden Kollaps der DDR droht. Aber Koziol lässt sich lieber locken von dem „Sirenengesang von den surrealen Küsten des Unbewussten“ und ernennt die DDR sogleich zum „schlechten Traum“, – um sie nicht als „Herkunft meiner Lebensprägung“ anerkennen zu müssen, so schreibt er in einer Vorrede zum Lebenslauf. Die DDR – Wirklichkeit und Traum – verharrte im Zustand der „Dauerbelagerung“, „ein Zustand, der einfach zu alltäglich geworden war, um sich allen Ernstes daran abarbeiten zu wollen.“ Andreas Koziol ist der „Träumer dieses Traums“, und ausgehend von den Erinnerungsinkongruenzen zwischen Traum und Wirklichkeit (nach dem Aufwachen) können „allerlei schillernde Variationen“ darüber erzählt werden. Damit verweigert er sich der trashigen Biographie im handelsüblichen „damals, zu DDR-Zeiten“ Nostalgie-Format. Die Treue zu sich selbst lässt seine Literatur weit über die Stränge der Phantasie eines Realismus schlagen, so dass die Grenzen von Traum und Wirklichkeit durchlässig werden.
    Der Traum spricht „die Sprache sich selbst verzeichnender Bilder“, ohne dass dadurch die Souveränität des Autors in Frage gestellt wird. Von dieser künden zumindest die fertigen Bücher mit ihren Geschichten, deren Wege und Spuren so lange von ihm verfolgt werden, bis sie aufs Blatt Papier gefunden haben. Diesen Geschichten ist demnach immer (nur) die besondere Plausibilität von Träumen eigen, und das ist ihr Reichtum und ihre Eigenwilligkeit.
    Zwar taugt die DDR-Wirklichkeit zum Stichwortgeber für Ironie, Spott und Witz, aber ihre Darstellung verkümmert nie zum Abziehbild:
    Andreas Koziols Fiktionalisierung von (DDR-)Vergangenheit erweist sich als besonders auffällige Variante im Umgang mit einem so literaturträchtigen Thema. Im Lebenslauf wird die wiedererkennbare Geschichte (einer Biographie in einem kleinen Lande), indem sie erzählt wird, zu subtiler Prosa versponnen, die den Autor als großen Erzähler ausweist und nicht als Biographen oder Seismographen einer Eins-zu-eins-Genauigkeit des Verhältnisses von Geschildertem zu Gewesenem.
    Der Anspruch des Autors lautet, den „Berg“ (der Niederlagen) hinter sich zu lassen. Und so beginnt er sein Sisyphus-Programm mit einem „Prolog im Hellen“, der das Pendant zum Lebenslauf mit „illustren Finsternissen“ bildet. In diesem illustren/finstren Lebenslauf geht es um die glanzvollen Finsternisse, nicht die eingetrübten, grau-in-grauen. Das heißt: das Trübe wird darin aufgegeben, das Licht ausgeschlämmt aus seiner missbräuchlichen Verwendung. Die Lichtmetaphern sind vielfältig und wirksam, sowie sie sich mit all ihren Assoziationen in die verfügbaren Schatten stürzen.
    Walter Benjamins Engel der Geschichte, dem anstelle des prophezeiten Sturms der Geschichte schon in einem frühen Gedicht von Andreas Koziol nur die Winde aller Utopien in den Flügeln blättern und der „den Text nicht fassen [kann], den er transportiert, geistert ein weiteres Mal durch den Prolog. Doch hat er unterdessen eher Form und Gestalt eines Pechvogels angenommen, und selbst dem Wind geht der Atem aus: „Warum der ganze Wind um einen ruinierten Zeitraum? […] Ich kenne den Grund dafür selber nicht.“ So liest sich das Folgende wie ein Beschwörungsversuch mit der einen einzigen Hoffnung: „Mögen die Flügel seiner Syntax den gähnenden Abgrund zwischen Verfasser und Leser mit Satzgestöber erfüllen.“ Dabei ist der Leser – wie auch in früheren Texten – mehr als eine Richtung, zu der man spricht: Er ist Adressat des Wunschtraumes nach einem „nicht ganz Legende gewordenen Leser“, dem die Rezensenten nicht als Geschmacksverderber bzw. -verstärker dienen.
    Und so beginnt der Dichter seinen Lebenslauf mit einer chronologischen Erzählung von Ereignissen, die nachfolgend jedoch immer wieder aus der Reihe tanzen wollen. Zu Anfang ist das Kind, das die Dunkelheit zu Geschichten verspinnt. Diese sind absonderlich, weil kein Einspruch der Wirklichkeit von Seiten der längst schlafenden, älteren Brüder erfolgt. Die Flucht in die Abgeschiedenheit – schließlich gilt es, die früh verspürte Überflüssigkeit in einen handfesteren Aggregatzustand zu überführen – erfolgt per Büchereinverleibung, die kein Maß kennt. Das spätere Ergebnis der Manifestation von Erfahrungen und Lesefrüchten ist das Schreiben – das Buch.
    Das Kind wird Speicher der Bilder und schafft sich mittels der Lektüre einen solchen Vorrat an Worten und Bildern an, dass ihm die Verwandlung in „einen anderen“ (Arthur Rimbaud, sein Zeuge) erfolgreich gelingt. Seine Kino-Besuche steigern seine Verwandlungskompetenz. Schon in dieser „durchschnittlich schweren Kindheit“ sprießen dem Kind auf dem Boden der Tatsachen so manche Himmel und Höllen, die sich immer mehr zum Thema verdichten.
    Die Struktur seiner Bewegungen erscheint wiederum labyrinthisch: Seine Kritzelzeichnungen, seine Einkreisungen der Mädchen, für die er sich interessiert, auf dem Eis (er unternimmt „labyrinthische Lauffiguren“), und vor allem die Sprache – als Übersetzerin dieser Bewegung in Gedankenschlaufen und -sprünge – zeugen davon. So ist von keiner Entwicklung die Rede, sondern es handelt sich eher um Betrachtungen, die sich fortspinnen.
    Der Lauf seines Lebens führt ihn vom kleinen Kind über den großen Jungen zur NVA. Die Armee lässt seinen Menschenverstand „vom Schock des Drills entwurzeln“. So kommt er, also Ich, die „erste Unperson Einzahl“, in seinen „verschiedenen Existenzanläufen“ über Gott, den er weder findet noch sucht, und „der sich weigerte, bei ihm einzuziehen“, zum Gedicht bzw. zum „inneren Menschen“. Doch findet er oft nur den „trostlosen inneren Menschen“ in den Gesichtszügen jener Leute wieder, die zugleich die „Leere der Metaphern“ spiegeln, weisen sie doch selbst „Pfeifen als Gefäße des Geistes“ aus. Und so wird das Ich zur „einsamen Nummer“, zum Außenseiter, der die Armlehnen der Stühle vom Aussitzen allzu gut kennt. (Hier setzt nun die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Prenzlauer Berg in aller Deutlichkeit ein. Zwar werden die Bezüge immer wieder von neuem gebrochen, aber der Hintergrund DDR bleibt ihnen als Handlungsspielraum erhalten.)
    Der Protagonist macht sich lustig über die Selbstüberschätzungen und die angetragenen Wichtigkeiten des „Seinsollens“, die er als „wie auf den Leib geschriebene Statistenrolle in dieser kleinen Gesellschaftskomödie“ entlarvt. In diesem „Hinterhofstaat“ konstatiert er „die Spuren unseres Verschwindens von allen landläufigen Bildflächen“ und weist sie als Unmöglichkeit aus, da Spuren Zeugen sind. Im Gegenteil dazu spricht er von den „Werkstattzeiten des Binsenwahren, Formschönen und Superguten“, die durch „Abwesenheit aller großen Meister“ und Mangel jedes Anflugs von Sinn charakterisiert sind. Er ironisiert das schlagartige Zunehmen der „Schatten von Bedeutungen“ und distanziert sich von den „Stasischatten“ auf manchen Gesprächen: „Ich für meinen Teil ziehe hiermit einen Schlußstrich durch mein aus guten Gründen ausschließlich defätistisches Verständnis für diese Geschmacksrichtung des Hungers nach Macht.“ Sein Gegenprinzip lautet: „Mit dem Mut der Verzweiflung eines ganz kleinen Lichts entschloß ich mich, meinen Schatten in die Schlacht zu werfen.“
    Nun beginnt das Märchen, damit die Verteilung von gut und böse – zugunsten eines „kategorischen pechschwarzblütenweiß“ als möglich behauptet werden kann: der Kampf mit dem Nichts und dem Drachen, dem „feuilletonistisch verschuppten Schnarchschrat […] aus dem Schlachthaus der Sekundärliteratur“. Man fühlt sich an eine verspielte Don-Quijote-Version erinnert, die sich den Literaturbetrieb als Windmühle sucht. Die Frage, ob es sich um Mut oder Mutwillen handelt, DDR-Geschichte als Märchen zu erzählen, stellt sich nicht, sondern das ist Andreas Koziols adäquate Alternative. Anstelle von Denunziationen oder gepachteten Wahrheiten erzählt er lieber Märchen, auch wenn ihm dabei der „Absturz“ an einer „Assoziationsblockade“ droht und die eigenen Geschichten über den Kopf und übers Papier wuchern.
    So weiß der Leser manchmal kaum Traum, Geschichte und Realität zu unterscheiden, weil alle mit der Phantasie vermählt sind. Das „Bestimmungsbuch der Meise“ (auch ein wichtiger Greßmann-Vogel) entpuppt sich als „Buch mit sieben Siegeln“ und allen Stationen der Hölle. Dantes Vergil wird zu „Wörtschill“; dem Schulterreiter und „Stichwortvogel“, der den Protagonisten auf seinem Gang durch die Hölle begleitet. Dort führen ihn die Synekdochen ab, während das Oxymoron zum Material erklärt wird und der Anakoluth klangfarblich besonders gut zum Talisman taugt – aus der Gelehrtheit der Begriffe wird das Spiel ihrer Verfremdung bzw. Verwendung. Stilkundewörter entfalten ihre eigenen lautmalerischen Geschichten in einer Gegend, wo sich per Gedankensprung und geflügelten Worten fortbewegt wird. „Heiße Luft“ wird gegen „dichterischen Atem/frischen Wind“ gesetzt. Der „Orphische Lügendetektor“ spuckt dem Höllenreisenden Wahrheiten über Dichter aus, die auf der Hand zu liegen scheinen: Er muss nur seine Hand in den Apparat stecken, und anstelle der Lektüre beginnt die so bittere Konkurrenzgeste der Zerfleischung doch fällt hier in ungewöhnlicher Umkehrung die eigene Hand zum Opfer. Wawerzinek, Kolbe, Häfner werden bei dieser Prozedur als Dichter zugelassen, Fuchs ist bereits „Dichter und Wahrheitsforscher“, Papenfuß und Döring sind nur mehr „Verdichter“, bekommen sie doch ihr eigenes präfixes Spiel systematisch zugeschrieben. All das zusammen ergibt ein Buch eines „ordentlichen Durcheinanders von Fremdbestimmungen und Selbstbezichtigungen“. Die Suche nach dem „richtigen Wort“ jedoch geht weiter. Die Worte waren „schuldig am Tod der Sachen, die sie richtig getroffen hatten“. Und da die „Dinge starben, wurden Worte ausgequetscht, ob sie was von deren Tod zu verlauten wüssten“. Anstelle der „Hetze der Propaganda“ und der „harten Nüsse des Bedeuten müssens“ taugt dem dichterischen Protagonisten als Gegengift der Kalauer. Die einzige Gefahr dabei: „die Sprache würde sich von den immer schwerer von Begriff gewordenen Dingen lösen […] und sich nur noch um sich selbst drehen“.
    Eine weitere Zäsur im Lebenslauf: die Mauer fällt. Nun tritt wieder ein Ereignis in das handlungsarme Leben des Protagonisten: „Und alle in den letzten Jahren auf Manuskriptseiten und Dichterlesungen beschworenen Wörter, dem verfehlten Leben doch den Gefallen zu tun und die richtigen zu sein bzw. wenigstens aus dem Zustand ihrer Gepreßtheit in das Stadium einer ordentlichen Gedrucktheit hinüberzuspringen, regneten aus jener erleichterten Wolke über dem Wendepunkt wie Konfetti auf einer Siegesparade.“ Die eigenen Manuskriptberge betrachtend, findet er sie ebenso finster wie zuvor, nur dass die „Finsternis nicht mehr so allumfassend anmutete, sondern wieder auf das gebräuchliche Papierformat geschrumpft war“.
    Der Versuch, die „auf dem Kopf stehenden Verhältnisse“ mittels „anstoßerregender Verse“ auf die Füße zu stellen, war gescheitert und „die Begriffe vom wirklichen Leben“ waren „verfehlt“. „[D]ie Zeiten [damals] standen still und weigerten sich ins Land zu gehen.“ Nun kündigt sich eine andere Wirklichkeit mit Forderungen und Möglichkeiten an, doch die „Ankunft in der Wirklichkeit dort draußen fiel ins Wasser irgendeines Regens, der mit Strippenstichen den Himmel auf die Erde nähte.“ Solcherart traut sich die Poesie (der Bilder) nun hervor, ohne dass die „Rückschau mit DDR-Fleck“ auf den Berg, der einem „Haufen Lügen“ ähnelte, bewältigt wird oder gar abzuschließen ist.
    Weiterhin nimmt der Protagonist die Position zwischen den Stühlen ein. In der Hölle war er ein „von oben gekommener“, in der Höhe jedoch konnte er nicht verbergen, dass – so der Protagonist – „ich von unten kam, nach unten gehörte und mich allerhöchstens im hohen Ton verflogen hatte“. Bevor aber die beschriebenen Verhältnisse in ihrer Konkretheit allzu dingfest und damit haftbar gemacht werden können, wird es surreal und unwahrscheinlich: Balken, die Schwellen sein wollen, beginnen sich zu biegen und schweben.
    Was bleibt: „die behutsame Umkrempelung von Traumtänzern zu Vertretern für Kugelschreiber und Konversationslexika“? Und so bescheidet der Protagonist sich mit dem „Entsorgungsversuch“ jenes „Häufleins besserwisserischer Pechvögel“ und errichtet sich eine „Verseschmiede tief im Innern“, um den erneuten Umgang mit der Einsamkeit zu pflegen. Träume, die in der neuen Luft liegen, wählen sich ihn zum Medium, passieren ihn und werden von seiner „lieben Frau und Traumberaterin“ (an)gedeutet.
    Auffällig bleibt, dass auch in den Erzählberichten der Gegenwart das Ich sich solcherart in seinen Quasselstrippen verheddert, dass die höllische Vergangenheit mit ihren Wortlawinen die Gegenwart weiterhin thematisch dominiert.
    Zu wenig „Episodisches“ – merkt seine Frau an, doch er verwahrt sich gegen die Filmreife bzw. -tauglichkeit, die „geistige Nahrung“ zu „Glotzfutter“ verkommen ließe -; er zieht immer noch kompromisslos Nicht-Konsumierbarkeit vor. Die Überzeugungskraft seiner Märchen bleibt stabil, gerade da bekommt er die durcheinander schreienden Stimmen in den Griff. Hoffnung und Ausblick bestehen darin, „daß die Wörter ihre Freiheit gewinnen, überall hinzugehen […] Das Spiel entläßt sie aus ihrer Verbeamtung zu Verwaltern der Wahrheit und verspricht ihnen das Paradies einer wiederzugewinnenden Sprache ohne Scham vor sich selbst oder Widerspruch gegen die Schöpfung.“
    Jedoch scheinen Freiheit der Worte und Uferlosigkeit des Themas nahe beieinander zu liegen, so dass die von dem Dichter geschaffenen Gestalten ihr Eigenleben beginnen. Dennoch gelingt es ihm, sich nicht an der Sprache zu vergreifen: Das „Umdrehen“ (der Wörter) erscheint ein angemessenes Verfahren, den Dingen von allen Seiten auf die Spur und den Leib zu rücken und damit der Selbstbespiegelung zu entgehen. Folglich ergibt sich kein Ende im Lauf eines Lebens, weil die Anzahl der Seiten der Dinge wohl nicht festzulegen ist. Der Lebenslauf (als Buch) jedoch endet, weil die Hölle geschlossen ist.
    Andreas Koziols Lebenslauf ist als Absage an Sinnbilder der Allgemeingültigkeit zu lesen, denn in der Phantasie ist der Sinn nur nebenamtlich zuständig. So wimmelt es in seinem „komatösen Comicstrip“ in Worthüllen und Füllen, die der Vergangenheit des Protagonisten nicht aus ihrem kindlichen Zustand der besonders eindrücklichen Ausprägung in die Bewältigung verhelfen.
    Beachtlich ist vor allem Andreas Koziols Vermögen, „ohne Groll“ auf die „Wortspielhölle“ zurückzuschauen und die Befriedigung darüber, dass „die Bleikammern des qualvollen Lesen zwischen den Zeilen verwaisen“. Man kann wieder auf den Zeilen lesen, ohne dabei das Gefühl zu haben, auf den Strich gehen zu müssen.
    Andreas Koziols Lebenslauf verliert sich nicht im klagend bitteren Ton, sondern läutert im Sinne einer „kathartischen Klopsiade“, damit das „über uns selbst hinausweisende Wort“ endlich gelingt.

    „Definiert ist man so gut wie tot“ so enthalte ich mich wohlwollend und warte auf Andreas Koziols zukünftiges Schreiben, damit mein interessiertes Lesen zum Zuge kommen kann.

    Kristin Schulz, aus: Roland Berbig, Birgit Dahlke, Michael Kämper-von den Boogart und Uwe Schoor (Hrsg.): Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der DDR nach 1990. Eine Bestandsaufnahme, Theater der Zeit, 2001

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