Anthonya Visser: Blumen ins Eis

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anthonya Visser: Blumen ins Eis

Visser-Blumen ins Eis

DIE LYRIKDISKUSSIONEN DER JAHRE 1966 UND 1971/1972 IN IHREN LITERARISCH-KOMMUNIKATIVEN ZUSAMMENHÄNGEN

1. Einleitung

(Drei Doktoren gründlich tilgen Mickels Zeilen,
Bis es keine auf der ganzen Welt mehr gibt
.)
1

In dem der DDR-Literatur gewidmeten, 1976 in der DDR publizierten Band 11 der Geschichte der deutschen Literatur2 wird in dem Schlußkapitel „Entwicklungstendenzen der DDR-Literatur in den siebziger Jahren“ die sogenannte Zweite Lyrikdiskussion der Jahre 1971/1972 in der Zeitschrift der Akademie der Künste Sinn und Form mittelbar nicht erwähnt. Lediglich vier Sätze lassen in einem allgemeineren Sinne auf zu jener Zeit ausgetragene Auseinandersetzungen schließen:

Zur Diskussion standen auch die Tätigkeit der Literaturwissenschaft und -kritik und im Zusammenhang damit die Pflege der Tradition. Verschiedene Schriftsteller machten darauf aufmerksam, daß diese Disziplinen die Wechselwirkung von Kunst und Wirklichkeit nicht allseitig genug untersuchten und die Dialektik von Inhalt und Form nicht ausreichend beachteten. Auch wäre es nötig, die künstlerischen Traditionen in breiterem Umfang zu erschließen, auf diesem Gebiet „Reserven“ zu entdecken. Das war eine notwendige Kritik, doch wurden auch Stimmen laut, welche die ideologischen Funktionen der Literaturwissenschaft und -kritik sowie den Ideologiecharakter der Literatur unterschätzten.3

Eine solche Paraphrase läßt in ihrer Vagheit nicht nur kaum etwas von der inhaltlichen Vehemenz spezieller Diskussionen wie der Zweiten Lyrikdiskussion erkennen, sondern auch ihre Bedeutung für die literarische Kommunikation in der DDR ist ihr nicht zu entnehmen. Wohl begegnet in dem gleichen Abschnitt eine positive Einschätzung gewisser Veränderungen in dem literarischen Bereich im Vergleich zu dem letzten halben Jahrzehnt unter Ulbricht:

Das schöpferische Experimentieren und Suchen nach einem aussagekräftigen, persönlichen Stil, nach einer eigenwilligen und wirksamen Darstellung bewegte viele Autoren. Ihrer Bemühung um die Eigenart der Kunst wurde auch im öffentlichen Leben mehr Rechnung getragen. In dieser Hinsicht waren deutliche Fortschritte zu bemerken gegenüber der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als die Schriftsteller zu stark auf einzelne wichtige Themen und auf eine bestimmte Art ihrer Behandlung orientiert wurden.4

Diese geringe Aufmerksamkeit für das öffentliche Gespräch über Charakter und Funktion von Lyrik, wie es 1971/72 in Sinn und Form stattfand, erstaunt nicht angesichts der Tatsache, daß die Erste Lyrikdiskussion von 1966 in der Studenten-Zeitschrift Forum im laufenden Text dieser Literaturgeschichte genauso unerwähnt bleibt. Wohl begegnet der Hinweis, daß in den sechziger Jahren „[ü]ber die Entwicklung der Lyrik […] viel beraten und diskutiert [wurde]“.5 In dem Zusammenhang wird ausschließlich der Schriftstellerverband genannt,6 nicht jedoch wird ausdrücklich auf Forum hingewiesen, geschweige denn, daß die dort vorgetragenen Argumente präsentiert würden.7 Es macht sich der die ganze Darstellung prägende Versuch auch hier bemerkbar, Widersprüche zu verschleiern, um somit eine Entwicklung als einheitlich und harmonisch zu präsentieren. Das ist ebenso der Fall bei der einzigen direkten Erwähnung der Forum-Debatte, nämlich in einer Anmerkung zu dem sich mit Georg Maurer befassenden Teil. Es geht dort um das „Wechselspiel […] von objektiven und subjektiven Faktoren“ in der Frage „des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein“ .8 Zu diesem Thema bemerkt das Autorenkollektiv:

In der Lyrik-Diskussion im Forum 1966 spielte u.a. das Verhältnis des Ich zu seinen gesellschaftlichen und natürlichen Bedingungen eine wesentliche Rolle. Vgl. insbesondere Hans Koch: „Haltungen, Richtungen, Formen“.

Diese Bemerkung bezieht sich auf Karl Mickels Gedicht „Der See“ und das darüber entfachte Streitgespräch, auf das weiter in diesem Kapitel eingegangen wird.
Der Bezug auf Hans Kochs Beitrag zur Diskussion ist als eine Parteinahme für die restriktiven kulturpolitischen Teilnehmer an der Debatte zu betrachten. Hier schimmern Dissense durch, die sonst bagatellisiert bzw. verneint werden.
9 Wenn wesentliche Elemente des Literatur-Gesprächs zwischen Lyrikern und Literaturwissenschaftlern eher verdeckt bleiben, werden eventuelle Verbindungen zwischen der Diskussion in Sinn und Form und der im Forum nicht ersichtlich. Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß es sie gab. Manche Teilnehmer an der Sinn-und-Form-Diskussion weisen sogar explizit darauf hin,10 andere eher implizit.
Die umfassendste westdeutsche Gesamtdarstellung der DDR-Literatur, die Kleine Literaturgeschichte der DDR,
11 geht auf die beiden Lyrikdiskussionen getrennt ein, unterläßt es aber ebenfalls, sie nachdrücklich zu verbinden.12 Ihr Verfasser, Wolfgang Emmerich, sieht die Zweite Lyrikdiskussion als Niederschlag der politischen Öffnung nach dem Machtantritt Erich Honeckers im Mai 1971. Der berühmte Satz des neuen Vorsitzenden des Staatsrats: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“,13 bildete den Auftakt zu einer Liberalisierung der Kulturpolitik. Die Erste Diskussion erwähnt Emmerich im Zusammenhang mit dem In-Erscheinung-Treten einer neuen Generation von Lyrikern, die das Gesicht der Lyrik der späten sechziger und der siebziger Jahre in der DDR prägte. Auf die Auseinandersetzung in Forum selber geht er kaum ein.14
Manfred Jäger legt in seinem „historische[n] Abriß“ Kultur und Politik in der DDR15 gleichfalls den Schwerpunkt auf die Signalwirkung, die die Diskussion von 1971/72 für eine relative Liberalisierung der Kulturpolitik hatte, und die darauf basierte, daß es dogmatischen Wissenschaftlern 1972, im Gegensatz zu 1966, nicht gelang, sie abzubrechen: „[…] der alte Unterdrückungsmechanismus funktionierte nicht mehr“.16 Jäger sieht demzufolge vor allem den Bruch zwischen beiden Diskussionen, weniger die Übereinkünfte, obwohl er darauf hinweist, daß die Opponenten des Polemik-Initiators Adolf Endler im Jahr 1972 „[…] erkannten, daß Endler da wieder einsetzte, wo die Lyrikdebatte 1966 administrativ abgebrochen worden war“,17 mit dem Hinweis nämlich, daß der „[…] Abbruch der Beziehungen zwischen Germanisten und Poeten […], inzwischen perfekt geworden ist“.18
Gerhard Kluge verbindet in seinem Artikel „Die Lyrikdebatte im Forum (1966). Vermittlung als ideologisches und ästhetisches Problem“19 beide Diskussionen expliziter. Nachdem er auf das Scheitern der Forum-Diskussion in der „Vermittlung“ zwischen Literatur einerseits und Gesellschaft sowie Literaturtheorie andererseits hingewiesen hat, meint er:

Da das Ende der Debatte nicht zugleich das Ende dieser Lyrik war, kam es Anfang der siebziger Jahre zu einer weiteren […] Diskussion, die dem Subjektiven in der Lyrik des vorhergehenden Jahrzehnts Rechnung trug und mit seiner Rechtfertigung endete.20

Doch geht es in der Zweiten Diskussion keineswegs lediglich um das Durchsetzen von Subjektivität in der Lyrik der DDR, sondern werden vor allem Kriterien, Verfahrensweisen und Aufgaben der Literaturkritik diskutiert, spielt das durchaus problematische Wechsel-Verhältnis zwischen ihr und der Literatur eine große Rolle. Endler provoziert mit seiner Behauptung eines Abreißens der Beziehungen zwischen Germanisten und Lyrikern zumindest eine Reaktion dieser Germanisten, um die es ihm wohl geht. Er initiiert damit trotz aller Skepsis einen Ansatz zur Wiederherstellung dieser Beziehungen, unter der Voraussetzung allerdings, daß die Literaturwissenschaft sich von den Dichtern belehren lasse. Wichtig in der Zweiten Diskussion ist weiter das Element der Öffentlichkeit, das für die Position von Literatur in der Gesellschaft für lebenswichtig gehalten wurde. Darauf wird später zurückzukommen sein.
Die Erste Diskussion wird von Kluge als „die wichtigste“ eingeschätzt, weil sie die „[…] gut zehn Jahre anhaltende […], mehr oder weniger offen schwelende Konfliktsituation“ zwischen Staat und Autor markiere, zu deren Folgen der Weggang vieler Lyriker nach der Biermann-Ausbürgerung zu zählen sei. Außerdem meint Kluge 1984 feststellen zu können:

Mögen die Inhalte der Diskussion von 1966 inzwischen historische sein, die Methode, mit der sie geführt wurde, und ihre Wirkungen reichen bis in unsere Gegenwart.21

Am Ende seines Artikels schlußfolgert er dann, bevor er zur Selbstkritik hinsichtlich der Rezeption von DDR-Literatur übergeht:

Behauptet haben sich die Autoren, geblieben sind ihre Gedichte; zurückgeblieben sind die zur Vermittlung aufgeforderten Kritiker und Wissenschaftler; den Rückstand an Reflexion und ästhetischem Bewußtsein haben sie, was die Modernität des Gedichts und seiner Poetik betrifft, nicht eingeholt.22

Kluges Thesen wecken den Eindruck, als hätte sich in Methodik und Auffassungen der Literaturkritik und -wissenschaft der DDR seit 1966 nichts verändert, und es wundert, wie sich die Lyrik unter solchen Umständen trotzdem relativ unabhängig von ihren Direktiven entwickeln konnte. Kluge sieht das kommunikative Spannungsfeld der Lyrik und ihrer Rezeption in der DDR als einen in ständiger Eskalation begriffenen und 1976 in der Biermann-Ausbürgerung kulminierenden Konflikt. Da gilt es zu untersuchen, wie das Zusammen- oder Gegen-Spiel von Lyrik und Germanistik/Kritik konkret beschaffen war, welche Erneuerungen gesehen und wie sie bewertet wurden. Nachzugehen ist auch, inwieweit sich die Eigen-Einschätzung der Lyriker von 1966 durchgesetzt hat bzw. inwiefern sie veränderten Auffassungen angepaßt wurde. Außerdem ist zu untersuchen, ob denn diese so einheitlich war, wie es in späteren Darstellungen manchmal den Anschein hat. Richtig ist aber auf jeden Fall, daß es die Zweite Lyrikdiskussion ohne die erste so nicht gegeben hätte.
Trotz oder dank des mit dem Machtwechsel Ulbricht-Honecker verbundenen kulturpolitischen Wendepunkts gibt es nämlich mindestens zwei Charakteristika der Zweiten Diskussion, die ohne die von 1966 nicht unbedingt zu erklären sind: die Schärfe, mit der die Standpunkte 1971/72 vorgetragen wurden und durch die die Fronten von Anfang an gezogen schienen, sowie das anfänglich weitgehende Fehlen von Argumenten, die sich direkt auf Inhalt und Poetologie der lyrischen Texte selber bezogen. In der Forum-Diskussion von 1966 war es den teilnehmenden Lyrikern selber in erster Linie um eine Neuorientierung betreffs formaler und inhaltlicher Aspekte des Gedichts gegangen. Die Ablehnung bestimmter Gedichte wie auch der mit ihnen verbundenen Poetologie durch manche Kulturwissenschaftler/-funktionäre bzw. Germanisten (Hans Koch, Horst Haase und Edith Braemer),23 wurde hingegen mit weltanschaulich-politischen Kriterien begründet. Das machte eine Auseinandersetzung auf Grund literarischer Argumente weitgehend – und mit den abschließenden Worten der Redaktion von Sinn und Form nach Kochs Beitrag dann ganz – unmöglich. Angesichts der Tatsache, daß das 11. Plenum des ZK der SED erst ein Jahr vorher (1965) stattgefunden hatte,24 mag das nicht wundern. Dort wurde die Beurteilung der Kunst/Literatur unter weltanschaulichem Aspekt, und zwar nur unter diesem, von seiten der führenden Politiker praktisch verbindlich gemacht. Das Umlenken der literaturkritischen Debatte in eine ideologische, die darüber hinaus noch abgeblockt wurde, führte jedoch logischerweise zur Frustrierung der Beziehungen zwischen Autoren und Germanisten. Konrad Franke weist darauf hin, daß „[d]ie Lyrikdiskussion im Forum […] für die Jahreskonferenz des Schriftstellerverbandes [1967, A. V.] offenbar nicht stattgefunden [hatte]“.25 Seine Feststellung kann sich allerdings lediglich auf die abschließende „Erklärung“ der Konferenz beziehen. Wenn auch der Begriff ,Lyrikdiskussion‘ dort nicht auftaucht, im Grundsatzreferat von Hans Koch sind unmißverständliche Allusionen an sie vorhanden: Im Hinblick auf die „Kontinuität“ in der Entwicklung der Literatur meint Koch, daß die „in der Diskussion über Lyrik besonders in Frage gestellt worden ist“, was etwa auf Elke Erbs Beitrag im Forum Bezug haben mag.26 Er selbst habe seinen „Standpunkt zu dieser Frage ausführlich schriftlich dargelegt“,27 (u.a.) ein Jahr zuvor im Forum nämlich. Am deutlichsten aber bezieht sich Koch auf die Auseinandersetzung im Forum, wenn es um die Eignung künstlerischer Mittel aus „bürgerlicher Kunst“ für die Literatur der DDR geht:

Das ,Abklopfen‘ bürgerlicher Kunst, ihrer Endzeit, nach der ,Brauchbarkeit‘ von Gestaltungsmitteln, nach ihrer ,Umfunktionierung‘ mag vielleicht wichtig sein; aber es bleibt defensiv. Ein klar und scharf konturiertes Gegenbild ist notwendig, das aus einer bewußt und betont geführten Auseinandersetzung mit der spätbürgerlichen Kunst- und Geisteswelt erwächst, das sich auf geistige Überlegenheit gründet, das reale Erfahrungen unserer Wirklichkeit zu verarbeiten weiß.28

Das kann als eine ziemlich direkte Antwort auf das im Forum besprochene (von Heinz Czechowski initiierte) Thema betrachtet werden (vgl. S. 59). Meinungsäußerungen wie diese waren eher als Weisung denn als Diskussionsbeitrag zu verstehen. Das direkte Streitgespräch zwischen Kritikern und Autoren war bis Ende 1971 im öffentlichen Raum blockiert.

Der von westdeutschen Forschern herausgestellte kulturpolitische Stellenwert der beiden Lyrik-Diskussionen markiert nicht mehr als den Rahmen, innerhalb dessen sie stattgefunden haben. Argument dafür, diese Diskussionen als Ausgangspunkt bei vorliegender Untersuchung nach Erneuerungen in der DDR-Lyrik und ihrer Rezeption in den siebziger und achtziger Jahren zu wählen, ist die These, daß eine detaillierte Beschäftigung mit Strategien und Inhalten der beiden Literaturgespräche von 1966 und 1971/72 wichtige Aufschlüsse über die Entwicklung und Komplexität der ihnen folgenden literar-kommunikativen Entwicklung aufzuzeigen vermag.
Die Legitimation einer ausführlichen Analyse der Ersten Lyrikdiskussion liegt in der Möglichkeit, nachzuweisen, daß und in welchem Maße Exponenten unterschiedlicher Interessengruppen auch untereinander differierende Meinungen und Ansichten vertraten. Das stellt die Voraussetzung dar, für das Aufdecken nicht nur von Unzulänglichkeiten in Unterschiede eher verdeckenden Einschätzungen (wie der eingangs zitierten DDR-Literaturgeschichte [S. 29]), sondern auch von solchen, die ein polares Verhältnis zwischen Germanisten und Lyrikern behaupten. Für die Untersuchung von lyrischen Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt künstlerischer und rezeptioneller Innovationen erscheint es wissenschaftlich zweckmäßiger, Differenzierungen nicht zu ver-, sondern vielmehr aufzudecken.
Es fällt auf, daß westliche Arbeiten zum Thema Lyrik-Diskussion, die meistens, wie auch in vorliegendem Fall, im Rahmen einer umfassenderen Untersuchung durchgeführt werden, eine Gegenüberstellung von Lyrikern und Germanisten von Anfang an voraussetzen, um festgestellte ästhetische Erneuerungen, die mit tradierten SED-parteigebundenen Vorstellungen kollidieren, mit sozial-politischer Kritik gleichsetzen zu können. Als Beispiel könnte der bereits erwähnte Beitrag Harald Hartungs in Die Literatur der DDR dienen, dessen Titel in dieser Hinsicht schon vielsagend genannt werden kann:

Die ästhetische und soziale Kritik der Lyrik.

Hartung zeigt gesellschaftliche Momente auf, die er als für die unterschiedlichen formalen Ausprägungen der DDR-Lyrik verantwortlich betrachtet.29 Da das Marktgesetz dort nicht vorhanden ist, dränge es den Lyriker folglich auch nicht zu „sprachliche[r] Innovation oder hervorstechende[r] Subjektivität“,30 damit er bei seinem Publikum Erfolg habe und gut verkauft werde. Der DDR-Lyriker sei so „von Marktrücksichten weitgehend frei, vor allem auf inhaltliche Differenzierungen verwiesen“. Die diesem Mechanismus zugrunde liegende Motivation wird nicht erörtert. Und es bleibt also die Frage unbeantwortet, warum ein Autor, wenn er doch inhaltlich differenzieren kann oder will, das nicht genauso gut in formaler Hinsicht könnte oder möchte. Der zweite, eine gewisse Formsprache in der DDR-Lyrik bestimmende Aspekt sei „das Negativkriterium ,Formalismus‘“, durch das Formexperimente lange Zeit weitgehend verpönt waren. Außerdem wurden, so Hartung, „Anregungen aus der westdeutschen und der westlichen Lyrik überhaupt erst spät und zögernd rezipiert“. Das muß, wenn dafür andersartig Fremdes rezipiert wurde und „westliche […] Lyrik“ nicht als absoluter Wertmaßstab betrachtet wird, noch nicht beschränkenden Provinzialismus bedeuten. Da aber solche Hinweise fehlen, ist anzunehmen, daß gerade das hier gemeint ist. Eine letzte, den Absatz zur Formproblematik abschließende Bemerkung bleibt ebenfalls merkwürdig unkommentiert. Sie gilt der Tatsache, daß die Volker-Braun-Generation in den siebziger Jahren „ihrerseits stilbildend geworden“ sei. Es wird nicht deutlich, ob diese Autoren, weil als Künstler in einer, was die formale Seite des Gedichts angeht, ,rückständigen‘ Zeit aufgewachsen, damit für eine gewisse Tradition an Form-Anomalie verantwortlich sind oder ob sie im Gegenteil angefangen haben, ihr ein Ende zu setzen.
Wichtiger als manche Undeutlichkeiten in Hartungs Argumentationslinie ist die Schlußfolgerung, die den Titel des Aufsatzes verwirklicht:

Festzuhalten bleibt, daß avancierte Weisen des Ausdrucks, sofern sie überhaupt in Erscheinung treten, nicht Resultate subjektiver Willkür oder zeitgenössischer Zwänge sind, sondern den besonderen, durch die gesellschaftliche Situation gegebenen Nötigungen entsprechen, d.h. sie sind bestimmt durch spezifische Situationen und entsprechende Rezeptionsweisen, die ein komplexeres oder verdeckteres Sprechen erfordern. Andererseits ist auch das Beharren auf konventionellen Mustern durch ganz konkrete Bedingungen bestimmt und oft genug das Symptom von Angepaßtheit und gesellschaftlicher Affirmation. So ist bereits die Form ein Politikum. [Hervorhebungen A. V.]

Ferner meint Hartung, daß „das Vertriebs- und Verbreitungssystem“ in der DDR Kontakte zwischen Lesern und Lyrikern herstelle, die eine „Popularität erzeugen“, die den Autor anscheinend dazu verführe, „in einem bestimmten sprachlich-formalen Bezugssystem zu verharren“. Obwohl die Kulturpolitik auch im Falle der Lyrik auf einen möglichst großen Rezipientenkreis aus sei, sieht Hartung in diesem Beweggrund für das verständliche Gedicht weniger eine politische Entscheidung; in der Hinsicht beinhalte er sogar einen Widerspruch: ist „mit den Mitteln einer bürgerlichen Lyriksprache von gestern (und oft vorgestern) ein neues, unbürgerliches Bewußtsein zu formulieren“?31
Zusammenfassend kann man Hartungs Position wie folgt beschreiben: wenn Autoren tradierte Formen mehr oder wenig epigonal übernehmen, gibt es dafür entweder politische oder praktische Gründe. In den Fällen, wo Autoren sich für komplexere Formen, sprachliche Neuerungen usw. entscheiden, sind sie dazu durch die gesellschaftliche Situation ,genötigt‘, liegen also politische Gründe vor. Die Konklusion kann somit nur sein, daß die Lyriker, die tradierte Formen durchbrechen, innovierend vorgehen, (kultur-)politisch unbequem sein müssen. Die Aussage des komplexen, nicht unmittelbar verständlichen Gedichts besteht nach einer solchen Ansicht vor allem in verschlüsselter Gesellschaftskritik, die in einer offenen Weise nicht verwortet werden kann.32
Es soll hier nicht verneint werden, daß Kunst – und also auch Lyrik – ein kritisch-subversives Element durchaus in sich haben oder sogar davon getragen sein kann. Das wäre eine ebenso einseitig-undynamische Sicht wie die beschriebene. Es geht darum, Unterscheidungen zu verfeinern, um damit möglichst viele Aspekte einer ästhetischen Entwicklung in den Blick zu bekommen. Wie problematisch eine schematische Einteilung der Literaturgesellschaft DDR in seinen Konsequenzen sein kann, zeigt die Diskussion um die Lyrik und Lyriker des sogenannten Prenzlauer Bergs, nachdem mit der Wende Stasi-Verbindungen einzelner Autoren aufgedeckt wurden, die einer undifferenzierten Gegenüberstellung von Kulturpolitik – mit dem Literaturwissenschaftler als Repräsentanten – und einer bestimmten literarischen Gruppierung definitiv ein Ende setzte. Auf die ,Prenzlauer-Berg-Lyrik‘ wird im IV. Kapitel ausführlich eingegangen.

 

2. Die Erste Diskussion und ihre vorbereitende Wirkung für die Zweite

Daß es gerade der Lyriker/Kritiker Adolf Endler ist, der Ende 1971 erneut eine Diskussion zwischen Lyrikern und Germanisten/Kritikern um die Lyrik der DDR vom Zaun bricht, ist in Zusammenhang damit zu sehen, daß die von ihm zusammen mit Karl Mickel herausgegebene Anthologie In diesem besseren Land33 im Jahr 1966 die Erste Lyrikdiskussion geprägt hatte. Vor allem ihre Anordnung der Gedichte und das poetologische Vorwort boten zu jener Zeit Anknüpfungsmöglichkeiten für ein prinzipielles Streitgespräch über die Lyriksituation im Land: In der Einleitung zur damaligen Auseinandersetzung wurde die Endler-Mickelsche Anthologie als „ein größerer Rahmen, ein weiterer Horizont für die Forum-Lyrik-Debatte“ betrachtet.34 Direkter Auslöser des Gesprächs waren jedoch drei Fragen, die die Redaktion der Zeitschrift verschiedenen Lyrikern bereits vor Erscheinen der Anthologie gestellt hatte:

1 . Führt die neue Stellung des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft, wie sie insbesondere durch die technische Revolution herbeigeführt wird, zu inhaltlichen und strukturellen Veränderungen der Lyrik?35

2. Unter welchen Voraussetzungen seitens des Autors und des Lesers kann Lyrik in unserer Gesellschaft Wirkungen zeitigen und wie könnten diese beschaffen sein?

3. Vor welchen hauptsächlichen Schaffensproblemen stehen Sie zur Zeit?36

Natürlich lenken Fragestellungen eine Diskussion immer und stets auch in eine gewisse Richtung. In der Hinsicht stellen diese drei keine Ausnahme dar: Erkennbar mußte für die Rezipienten und Autoren der damaligen Zeit das Anknüpfen in der ersten Frage an eine in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in Gang gesetzte Koppelung von Ökonomie und Kunst sein. Mit der Neu-Interpretation im Jahr 1965 des auf dem VI. Parteitag 1963 vorbereiteten und im gleichen Jahr in Kraft getretenen ,Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung‘ und der positiven Einschätzung der ,Wissenschaftlich-technischen Revolution‘ stellten sich auch für die Künste neue Aufgaben. Ihre Funktion wurde von den führenden Politikern auf bloße ökonomisch-ideologische Instrumentalisierung verkürzt.37 Somit waren die erste und sicherlich auch die zweite Frage als auf das ideologische Moment des Kunstschaffens/Schreibens zielende zu verstehen.38
Ähnliches galt für den als Diskussionseinsatz gemeinten Fragenkomplex, der sich auf die Anthologie In diesem besseren Land bezog. Dessen erster Teil war an sich noch als an den ästhetisch-poetologischen Aspekt appelierend einzuschätzen:

Sind es tatsächlich die stärksten Gedichte, haben die Autoren der Sammlung richtig gewählt, bestehen ihre Kriterien? Und falls man antworten kann: im großen und ganzen ja – wie ist dann diese poetische Frucht dieser 20 Jahre zu beurteilen? Was ist erreicht, gemessen am Möglichen und Notwendigen? Wo enden Wege und warum? Wo reißt etwas ab, was fortgesetzt werden sollte? Wo wachsen die Lücken? Wo geht es weiter? Ist die Tendenz gesund, wenn man die Stabübergabe an die jüngste der drei Generationen ins Auge faßt? Wovor muß man da warnen? Wird die Neigung zum Extravaganten, zum Esoterisch-Exklusiven nicht zur Gefahr? Vielleicht ist der oder jener vermeintlich neue Hut längst abgelegt? Welche problematischen Entwicklungen sind notwendig als Durchgangsstufen? Wo liegen, besonders für die Jungen, die echten, objektiven Schwierigkeiten beim ,Machen einleuchtender Bilder‘?39

Die abschließende Frage und der anschließende Hinweis waren jedoch explizit auf die ideologische Aufgabe von Literatur/Lyrik gerichtet:

Wo scheitert es am individuellen Subjektivismus? Schließlich wird man dabei immer wieder auf die außerästhetischen Voraussetzungen sozialistischer Dichtung, auf die Notwendigkeit außerordentlicher Bemühungen um die Einsicht in die geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche stoßen.40

Manche Autoren geben sich 1966 Mühe, die drei ihnen von Forum gestellten Fragen ernsthaft zu beantworten, dabei öfter versuchend, den Interpretationsraum möglichst weit zu fassen (so Heinz Czechowski41 und Rainer Kirsch42) oder zu überschreiten (Günter Kunert43), andere antworten verneinend (Karl Mickel zur 1. Frage,44), ausweichend (Adolf Endler45) oder weigern sich direkt, zu bestimmten Fragen überhaupt Stellung zu nehmen (Karl Mickel zur 3. Frage). Hanns Cibulka antwortet mit einem Ausschnitt aus seinem Tagebuch, in dem er auf das Verhältnis von Wissenschaft/Technik und Kunst eingeht, die in ihrer schöpferischen Kraft verwandt seien. Er legt dar, daß sie keine autonomen Kräfte seien, sondern ihre Anwendung durch den Menschen entscheidend für die Auswirkung sei. Seine Stellungnahme ist eher von einer humanistischen als von einer kommunistischen Denkweise geprägt:

Was uns begleitet ist das Antlitz des Menschen, ganz gleich ob [sic!] wir es Vater, Bruder, Freund oder Genosse nennen.46

Sarah Kirsch geht in provokativer Formulierung soweit, sogar die Ausgangsthese der ersten Frage zu verneinen:

Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich die Stellung des Menschen in der Gesellschaft durch die technische Revolution so sehr verändert, und dann gar so, daß es sich gleich auf die Lyrik auswirkt?47

Abgesehen davon, daß der Versuch festzustellen ist, das Politische so weit wie möglich zu interpretieren – mit Ausnahme des Lyrikers Uwe Berger, eines der späteren Herausgeber der Anthologie Lyrik der DDR,48 der in seinen Antworten noch einmal den Bitterfelder Weg bestätigt –,49 ist das sehr genaue Eingehen auf formale und inhaltliche Aspekte in der DDR geschriebener Lyrik zu beobachten. Damit wird die Komplexität und Differenziertheit der zur Debatte stehenden Problematik und die Eindimensionalität der Fragestellungen von seiten der Zeitschrift ersichtlich. Bemerkt werden muß noch, daß vom einflußreichen Lyriker/Essayisten/Lehrer Georg Maurer entgegen der Ankündigung der Redaktion in Heft 8 von Forum, keine Reaktion auf die gestellten Fragen abgedruckt wird.

 

2.1. Die Extreme: Elke Erb und Hans Koch

Nicht der Initiator der Zweiten Lyrikdiskussion, Adolf Endler, der seine poetologischen Argumente im Vorwort von In diesem besseren Land expliziert hatte, nimmt es auf sich, in Forum eine inhaltliche und formale Analyse der Dichtung in allgemeinem und individuellem Sinne zu leisten; es ist Elke Erb, die diese ,Aufgabe‘ übernimmt und sie in Form einer Rezension zu In diesem besseren Land präsentiert.50 Endler selbst meldet sich nur einmal in einer Antwort zu den drei eingangs gestellten Fragen zu Wort und beteiligt sich an der weiteren Diskussion im Gegensatz zum Mitherausgeber Mickel nicht. Erb kritisiert die Literaturwissenschaft der DDR wegen ihres fehlenden Sinns für Erneuerung, der dazu geführt habe, daß „die Lyrik der Nachkriegszeit in Gefahr [war], in Vergessenheit zu geraten“. Sie formuliert einen schwerwiegenden Vorwurf, wenn sie davon spricht, daß „Gewohnheit“ einen festen lyrischen Kanon habe entstehen lassen, der seit Jahren unverändert sei. Darüber hinaus stellt sie eine „mangelnde […] ästhetische […] Kritik“ fest, die die Starre eben dieses Kanons verstärke. Sie ist der Auffassung, daß der zeitlich-rezeptive Kontext einer Literatur variable Bewertungs- und Bedeutungsgewichtungen zur Folge habe. Da die Kritik in der DDR diesem Umstand keine Rechnung getragen habe, war das „Bild“, das diese von der Lyrik dieses Landes vermittelte, ein „verzerrtes“.51
Im folgenden legt Erb eine von Anthologien vermittelte Art ,Negativ-Katalog‘ der Lyrik der DDR bis 1966 dar, der mit Erscheinen der Anthologie In diesem besseren Land durchbrochen sei. Womit impliziert ist, daß die Herausgeber der Sammlung eine Aufgabe der Literaturkritik übernommen hätten, nämlich eine Korrektur der theoretischen und inhaltlichen Kriterien, mit denen diese zu arbeiten hätte und nach denen Literatur/Lyrik beurteilt werden solle. Auf poetologisch-inhaltlicher Ebene expliziert sie die Eigenschaften, „die Lyrik nicht haben sollte“. Stichwort bei der Beschreibung der Unzulänglichkeiten, von dem sich alles andere ableiten läßt, ist die „[U]nlebendig[keit]“, die diese Lyrik kennzeichne und sie „abstrakt“ mache. In der Erbschen Explikation dieses Begriffs fällt auf, daß sie großen Wert legt auf das Erfassen von Realität in Gedichten. Insofern scheint ihre Auffassung mit der der offiziellen Literaturkritik weitgehend übereinzustimmen, nur – und das ist wesentlich – spielt für sie in der Darstellung von Realität das „gegenständlich und konkret faßbare […] Individuum“ eine große Rolle, während es doch z.B. Hans Koch – um ihn als Vertreter der linientreuen Literaturkritik zu zitieren – an erster Stelle geht um „den sozialistischen Standpunkt“ eines Autors, der sich u.a. darin zeige, daß „sich im lyrischen Subjekt ein neuer, zeitgemäßer Typus des sozialistischen Kämpfers in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter [formt], der mit all seinem Tun heute in diesem Land bewußt und gewollt beiträgt, die weltweiten und weltgeschichtlichen Kämpfe unserer Epoche auszufechten“.52 Eine solche Forderung führt nach Erbs Meinung zu einer abstrakten Lyrik, weil die „Identität“ zwischen „Individuum und historischem oder gesellschaftlichem Subjekt“ „lehrhaft arrangiert“ werde.
Erb sieht vier Folgen für das unter derartigen Voraussetzungen entstandene Gedicht, die alle mit dem Schlagwort ,Wirklichkeitsverlust‘ zu charakterisieren sind, wobei Wirklichkeit als individuell-erlebte, subjektive Realität verstanden wird. Einbuße an solcher Wirklichkeit zeige sich in Widerspruchslosigkeit und Verallgemeinerung verbaler ,Bekundungen‘. Es werde gezeigt und gelehrt, nicht wirkliche ,Betroffenheit‘ und ,Teilnahme‘ vermittelt:

Im Ganzen wurde im besten Fall ein rein gedankliches Erleben spürbar, das aber nicht genügend Kraft entwickelte, kommunikativ zu werden.

Kurz und gut, eine solche Lyrik besaß nach Erb nicht einmal mehr die Möglichkeit, ihrer von der Partei auferlegten didaktischen Funktion gerecht zu werden53 auch wenn sie ihr gerecht werden möchte. Ähnlich wie Erb sieht der Lyriker Heinz Czechowski in seiner Antwort auf die von Forum gestellten Fragen die Gestaltung des – gesellschaftlich – ,Neuen‘ in der „künstlerischen Aneignung“ von Widersprüchen, in Gedichten, „die unter der Oberfläche allgemeiner Anschauungen ihr Material suchen“.54
Elke Erb betrachtet es als die Leistung der Anthologie In diesem besseren Land, daß sie die von ihr kritisierte Lyrik ihres Primats enthoben hat. Das sei in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Entwicklung der Lyrik in der DDR, in der die von ihr beschriebene Lyrik zwar noch präsent, quantitativ jedoch nicht mehr vorherrschend sei. Nach dieser allgemeinen Bestandsaufnahme der DDR-Lyrik kritisiert Erb die Auswahl einiger Gedichte von einzelnen Autoren,55 wobei sie feststellt, daß „der Auswahl sowohl inhaltlich als auch in ästhetischer Hinsicht im ganzen Repräsentanz bescheinigt werden [kann]“. Dies, obwohl sie gleichzeitig darauf hinweist, daß einige „Gruppen“ von Gedichten (z.B. das „politische Gelegenheitsgedicht“) und einige Autoren, „die nicht das Niveau der übrigen erreicht haben“, nicht aufgenommen sind. Dabei ist fraglich, ob sie das Fehlen der Namen Reiner Kunze und Wolf Biermann in der Anthologie auf Qualitätsmangel beider Lyriker zurückführt.56 Erb selber nennt hier keine Namen. Sie formuliert es als eine Aufgabe an die Literaturkritik, die Gründe für fehlende Qualität aufzuspüren, indem sie sich „analytisch“ [Hervorhebung A. V.] mit den Texten beschäftige, und die Rückständigkeit der Texte, die eine „intime Thematik“ behandeln (Liebesgedichte), eben mittels dieses Verfahrens zu erklären.

Die Stellung des Erbschen Beitrags nach dem des stellvertretenden Chefredakteurs Rudolf Bahro, der auf die provokante Antwort Günter Kunerts zur Forum-Umfrage reagiert,57 ist als pikant zu bezeichnen. Die Abqualifizierung dieses Lyrikers nimmt er dadurch vor, daß er ihm u.a. eines „geschichtlich-geschichtslose[n] Standort[s]“, einer „grundsätzliche[n] Resignation“, des „sozialen und politischen Disengagement[s]“ sowie einer „intellektuell hilflose[n] spätbürgerliche[n] Gesamthaltung“ beschuldigt.58 Zur ,Beweisführung‘ werden – wenn überhaupt – Äußerungen zu Gedichten herangezogen, Texte selber lediglich genannt. Bahro leistet damit eine von Elke Erb geforderte Text-Analyse gerade nicht und stellt somit in ziemlich unmittelbarer Weise ein Gegenbeispiel zu ihren Forderungen dar.59
Die Anordnung der Diskussionsbeiträge ist anfangs auffallend ausgewogen. Der verurteilenden Stellungnahme Bahros folgt eine, in der Überschrift in Kapitalen auch gleich so genannte, (Einzeltext-)Analyse des Literaturwissenschaftlers Dieter Schlenstedt zu Mickels Gedicht „Der See“.60 Dieter Schiller, dessen Beitrag ans Ende dieses Hefts gesetzt ist, vermittelt eine allgemeinere Sichtweise auf die zur Debatte stehende Problematik. Um jedoch deutlich zu machen, zwischen welchen methodischen und poetologischen Polen sich die Diskussion bewegte, sei hier zunächst verwiesen auf das Schlußwort des Kulturfunktionärs/Literaturwissenschaftlers Hans Koch.
Obwohl sogar Koch es als einen Vorteil der Diskussion in Forum betrachtet, daß sie „an konkreten Gegenständen konkret geführt wird“,61 lenkt er seinen Beitrag sofort in die ideologische Bahn, denn die abgedruckten Gedichte würden zeigen, „daß die ,Struktur‘-Debatte und die Diskussionen über ,Verständlichkeit‘62 eine vorrangig weltanschauliche Auseinandersetzung verhüllen“.63
Aus seiner direkten Reaktion auf Erb gehen die unterschiedlichen Auffassungen, die die beiden bezüglich der Funktion von Literatur vertreten, klar hervor. Über die von ihr wegen ihrer Vordergründigkeit kritisierte Lyrik lernten Koch und seine gleichgesinnten Generationsgenossen (die „damalige ,FDJ-Generation‘“) „eine neue Zeit begreifen und selber aufbauen“.64 Wichtiger Ausgangspunkt in seiner Beurteilung dieser Lyrik ist für Koch der ,Klassenkampf‘ in der Nachkriegszeit, für die sie eingesetzt wurde.65 Es ist kennzeichnend für seine Argumentation, daß ein sachliches Reagieren nicht möglich scheint, sondern stattdessen der Angriff immer wieder gegen Personen gerichtet ist, von denen Koch anzunehmen scheint, daß sie den Sozialismus mit jeder auch nur wenig abweichenden Meinung unterwandern wollen. In der letzten Zeile seines Artikels gibt er noch einmal unmißverständlich zu erkennen, daß das Ästhetische in der Diskussion um Literatur immer mit Politisch-Ideologischem verbunden sei.66

Nach Koch lassen sich Probleme in der Lyrik in dreifachem Sinne verallgemeinern: An der Lyrik sei abzulesen, was in der Kunst „überhaupt“ im Gange ist; Literatur/Lyrik werde von der Realität geformt und gestalte diese ihrerseits umgekehrt ebenfalls mit. Daraus gehen zwei Fragen hervor: welches Publikum spricht diese Lyrik an, und wie agiert sie im Klassenkampf: Die Wechselwirkung mit anderer Literatur mache deutlich, zu welchen „geistigen Traditionen“ sie sich bekenne. Wenn der Ausgangspunkt – und das steht bei ihm selbstverständlich nicht zur Diskussion – der „sozialistische […] Humanismus“ und die „Entwicklung der sozialistischen-realistischen Literatur“67 ist, so ergibt sich aus genannten Punkten seiner Meinung nach folgendes Problem: Es werden „in der Lyrik Weltanschauungs- und Richtungsgegensätze offenbar“.68 Und da nach Koch Struktur und Form des Gedichts von eben dieser Weltanschauung abhängen, reiche eine ideologische Besprechung von Gedichten aus, um – auch ästhetische – Probleme zu klären. Damit wendet sich Koch dann Gedichten einzelner Autoren zu.
Zunächst wird noch einmal auf Mickels „Der See“ eingegangen,69 einen Text, dem er hinsichtlich seiner Haltung zur als „häßlich“ gekennzeichneten ,Wirklichkeit‘ die Lyrik von Fürnberg, Becher, Brecht, Fühmann, Deicke, Werner u.a. gegenüberstellt. Da sei „in der sozialistisch-humanistischen Haltung […] die Liebe zum Menschen untrennbar mit der Liebe zur Natur“ verbunden.70 Generalisierend meint er schlußfolgern zu können, daß Mickels Position (also nicht lediglich die seines Gedichttexts) „[…] Affront gegen dieses Programm“71 ist. In bezug auf das lyrische Ich kommt er zu keiner positiveren Einschätzung, es sei nämlich vollkommen isoliert und auf sich selber fixiert, verneine außerdem das Gegebene. Der von Schlenstedt noch – allenfalls partiell – verteidigte Tamerlan-Bezug des Gedichts wird, weil es sich hier um einen „vergeistigten Tamerlan“ handele, der nicht, wie bei Goethe, seine „menschliche Größe“ hervorhebe, von Koch verworfen. Darüber hinaus bleibt das „Tun […], das zwischen Welt und Ich vermittelt“, so Koch, „ziemlich inhaltsleer“. Schärfer als Schlenstedt kritisiert er dieses ,ziellose‘ Handeln des lyrischen Ich. Außerdem seien positive Qualitäten wie „Genuß“ oder „Freude“ dem Text nicht abzulesen.
Da Koch untersuchen möchte, inwiefern Mickels „Der See“ exemplarisch zu nennen ist für die junge Lyrik in der DDR, betrachtet er als zweites dessen Text „Odysseus in Ithaka“, wobei er vorausschickt, daß ein neues Moment in der DDR-Lyrik ein „besonders deutliches Hinwenden zur Ideen- und Mythenwelt der Antike“ ist. Das nun sei „völlig legitim“ und nicht als „Gegenwartsflucht oder poetische […] Esoterik“72 zu deuten. Da es nämlich die „höchste Verpflichtung“ der Literatur in der DDR sei, „an der Ausprägung des sozialistischen Menschenbilds mitzuwirken“, werde man sehen, daß die Ursprünge dieses Menschenbilds nicht in der Gegenwart liegen, außerdem müsse man sich „aus der Kulturgeschichte an […] eignen, was uns gehört“, und damit „den reaktionären Anspruch auf die antik-christlichen Grundlagen einer reaktionären Abendlandsidee zurückweisen“. Als letzter Grund wird angeführt, daß große Teile der europäischen Kunst ohne Kenntnis der Antike nicht verständlich seien. Von diesen allgemeinen Prinzipien geht Koch über zur Antike-Rezeption in der sozialistischen deutschen Literatur, für die die Figur des Odysseus, an der der Abschied von der „Schicksals-Idee“ demonstriert werde, eine große Rolle spiele. Koch stellt fest, daß in den 60er Jahren Polyphem, Sysiphos und Philoktet allmählich mehr in den Vordergrund rücken. Als positives Beispiel erwähnt er u.a. Heinz Czechowskis „Sagora“,73 wendet sich dann über Odysseus-Gestaltungen bei Seghers, Brecht und Maurer, bei denen es um Odysseus’ Empfindung gehe, nach seiner Heimkehr „in der Gemeinschaft der Seinen“ zu sein, Mickels im Forum nicht abgedrucktem „Odysseus in Ithaka“ zu.74 Koch kann insofern mit der Darstellung dieser Odysseus-Figur einverstanden sein, als sie nicht mehr an die „göttergegebene […] Schicksalsidee“ gebunden ist, sondern als „Vollstrecker eigener, freier Entschlüsse“ erscheint Es ist wohl diese lobenswerte Seite, die das Gedicht für Koch zur „bisher stärkste[n] Probe des poetischen Talents Mickel“ macht. Trotzdem und umgekehrt proportional zu seiner Stärke hat auch dieses Gedicht für ihn problematische Züge: so hält Koch den Text für „die genaueste Diagnose der Krankheit, die dieses Talent [Mickel, A. V.] auszuzehren droht“. Grund für die harte Verurteilung ist, und das mag angesichts des Vorangehenden kaum verwunderlich sein, die Wirklichkeitsdarstellung im Gedicht. Die Realität sei „kleinlich und häßlich“, wie in „Der See“.75 Das wäre durchaus akzeptabel, hätte das Ich des Textes die Kraft, sie zu verändern. Eben das sei aber nicht der Fall, weil dieses Ich in vollkommener Isolation „den anderen und allem anderen nur verneinend gegenüber[steht]“. Das heißt, die Vereinzelung sei selbstverschuldet, was Koch so deutet: „dieses Ich entläßt sich aus aller ethischen Verantwortung gegenüber einer – seiner – Gesellschaft“. Nicht nur, daß damit seine Omnipotenz keinesfalls als „sozialistisch und humanistisch begründet“ gelten könne; mittels Fettdruck hebt Koch zweimal hervor daß es seine Pflicht der „Heimat“ gegenüber versäume.76 Im zweiten moralischen Vorwurf zeigt sich noch einmal die Humorlosigkeit des parteitreuen Literaturwissenschaftlers sowie seine als kleinbürgerlich zu charakterisierende Denkweise. Mickels Gedicht zeigt Penelope aus Odysseus’ Perspektive, und Odysseus erscheint in seinem Denken als eine sehr menschliche Figur. Er betrachtet die Szene mit seiner Gattin und den Freiern und überlegt:

Penelope, entweder
Mit jedem macht sie’s, keinen will sie dauernd
Dreihundert Mann ersetz nicht einmal ich!
Oder mit keinem? da wär sie zu langweilig
Und Kirke fällt mir ein, wenn ich sie vögle
Die Sau
.
77

Die Ironie und die Trivialisierung des Mythos spricht ihm und den agierenden Personen jedwede Aura des Heiligen ab, verleiht ihm im Gegenteil einen Anflug von Banalität (der seine Berechtigung übrigens durchaus im Mythos selber findet). In bezug auf diesen Punkt legt Koch erst richtig los:

Dieser jämmerliche, zynische und vulgäre Sexualpragmatismus, oder wie immer man das nennen soll, der da glaubt, intellektuelle Überlegenheit, Unabhängigkeit und nur ihm eigene ,Größe‘ durch Prahlen mit dem offenen Hosenlatz kundzutun, dieser Zynismus enthüllt endgültig die miserable Subjektivität dieses Odysseus und macht die Brüchigkeit seiner ,humanen‘ Beweggründe offenbar: „Für Kirkes Schatten soll ich / Dreihundert abtun? Keinen. Troia reicht“.

Mickel verwerfe die klassischen Ideale, ohne dafür neue einzusetzen und damit bewege er sich in Richtung „spätbürgerlicher Antike-Rezeption“, breche er mit „,eigener‘ Tradition“.
Im Anschluß an Heinz Czechowski, der die „individuelle Haltung zur Wirklichkeit“ „zugleich eine gesellschaftliche“78 nennt, meint auch Koch, daß ein lyrisches Ich nie „privat“ sei, und deswegen könne der Lyriker an ihm Merkmale des „sozialistischen Menschenbilds“ besonders gut zeigen. Mickels Ich nun, und hier verallgemeinert Koch seine ,Analyse‘-Ergebnisse, bringe „Anarchismus“ hervor. Es stelle einem „Ich bin ich“ ein „Sei du“ (Hervorhebung A. V.) gegenüber. Koch generalisiert seine Betrachtung weiter am Beispiel des vielzitierten Gedichts von Günter Wünsche: ,Rehabilitierung des Ich‘, dessen Skizzierung der Situation des Ich vor seiner ,Rehabilitierung‘79 anhand der Beispiele Becher („Größe und Elend des Menschen“) und Kuba („Gedicht vom Menschen“) zu widerlegen versucht werden.80 Die beiden Gedichttexte zielen auf eine bejahende Haltung bei Rezipienten, die Mickels Texte für sich nicht beanspruchen. ,Nicht meine Schulter ist’s / die Demeter‘ zeige nur das Anderssein-Wollen des lyrischen Ich, das sich der Verantwortung verweigere. Koch koppelt eine solche Haltung sofort an die Tagespolitik, nämlich die „,schreckliche Spaltung‘ Deutschlands“ und an das „,gespaltene […]‘ Land […] Vietnam“, um deutlich zu machen, was sie politisch bedeute.81
Koch formuliert eine Art Ausgangsthese für einen weiteren Angriff auf mehrere junge Lyriker:

Der entscheidende Schritt in der Ausprägung des sozialistischen Menschenbilds durch unsere Literatur während der letzten drei, vier Jahre war: die möglichst genaue literarische Formung des Hineinwachsens in bewußte persönliche Verantwortung des einzelnen für die Gesellschaft […], organisch verbunden mit der Entdeckung und Freisetzung einer enormen schöpferischen Kraft, deren Quellen in unserer Revolution liegen, einer Kraft, die in allen Konflikten fähig und willens ist, die eigene Gegenwart und Zukunft zu meistern.
Dieser Schritt ist in wesentlichen Teilen der Lyrik nicht mitvollzogen worden.

In der von ihm gemeinten Lyrik zeige sich eine Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft. Es folgen Angriffe auf Volker Braun („Jazz“,82 „R.“ [= Reiner Kunze, so weiß Koch]), Heinz Czechowski (da geht es um dessen Diskussionsbeitrag im Forum), Sarah Kirsch („Seestück“, „Fahrt“), Friedemann Berger („Quadrate“, „Galberg“, „Gotha. Steinstraße“), Rainer Kirsch („Zeichnung“, „Auszog das Fürchten zu lernen“), Bernd Jentzsch („In stärkerem Maße“), Günter Kunert („Geschichte“) und noch einmal Mickel („Leben des Physikers / Lamento“). In diesen Texten sei die „Weltsicht“ von „Unbestimmtheit“ gekennzeichnet, äußern sich „Stimmungen der Bangnis bis hin zu Lebensangst in dieser ,bedrohten Zeit‘“, gestalten sich ,falsche‘ Solidarisierungen (nämlich mit „linksbürgerlichen“ Sympathisanten), kurzum, diese Gedichte könnten den „gesetzmäßigen Fortschritt in der Hauptrichtung der sozialistischen Literatur […] lähmen und zurücknehmen“. Ein solcher Fortschritt mache sich bemerkbar in der Gestaltung des „umfassende[n] sozialistische[n] Aufbau[s] [als] eine Etappe des Klassenkampfes [Hervorhebung bei Koch]“. Mangelnde ,Parteilichkeit‘ sei, so Koch, öfter eine Konsequenz der „Enge geistigen Lebens in kleinen Zirkeln“.
An Texten älterer Autoren macht Koch seines Erachtens die Gegenposition zu der von ihm kritisierten jungen Lyrik deutlich.83 Die Argumente, die er anführt, wiederholen sich dabei in abgewandelter Form ständig und zielen auf ideologische und moralische Standpunkte. Bemerkenswert ist, daß nicht nur Literatur gegenüber Literatur gestellt wird, sondern auch Personen gegen Personen gesetzt werden. Das geht soweit, daß er den Jüngeren implizit ihren Mangel an Erfahrung und Bewährung im persönlichen Klassenkampf vorwirft.84
Die für eine sozialistische „Haltung“85 erforderlichen moralischen und ästhetischen Kategorien, die Koch bei den meisten jungen Lyrikern vermißt, denen er bei den vor allem älteren Schriftstellern dagegen wohl begegnet, lassen sich wie folgt zusammenfassen. Notwendig sei:

– Parteilichkeit;

– schon in der Form „ein[en] überlegene[n] Standort und Standpunkt“ zu zeigen, d.h. Das Dargestellte müsse ,durchschaut‘ und ,geordnet‘ werden und vor allem ,die Zusammenhänge aufdecken‘ (verstanden als Aufgabe ,realistischer‘ Literatur);

– potentielles Vorhandensein der „Lösbarkeit und Lösung“ des „Problem[s]“ in der dargestellten menschlichen Tat;

– ein Sich-Befassen „alle[r] Genres und Gattungen der Literatur“ mit der „Lehre über den sozialistischen Humanismus [der] sozialistischen Literatur in unserer Zeit“;

– „historische Konkretheit“.86

In bezug auf den zweiten Punkt, die Form, sieht Koch drei Probleme:

– Die poetische Selbstreflexion, die zum Thema haben sollte, „wie eine neue Wirklichkeit literarisch entdeckt und verarbeitet werden kann“,87 sei zu wenig ausgeprägt;

– „Chiffrierungen und Verschlüsselungen“, „Verwandlungen in Einzelbilder“ und „dunkle Symbole“ kommen häufiger vor. Das gehe zum Teil „bis an die Grenzen der Formzerstörung“;

– eine „neue [sic!] Trennung von Kunst und Volk“ (hervorgehend aus beiden obigen Punkten).

Auch was diese Aspekte betrifft, verbindet Koch die ,Fehlerscheinungen‘ mit den „grundlegenden Klasseninteressen“. Nicht daß er derartige Kunstformen ohne weiteres verurteilt, er spricht vielmehr seine ,Beunruhigung‘ über sie aus, wäre es doch möglich, daß die angesprochenen Lyriker sich „ungewollt“ dem „ausgeprägten philosophischen Reaktionär […]“ Jose Ortega y Gassets „nähern“.88 Die Parallelen zwischen Ortega y Gassets Kunstauffassung und manchem Gedicht in der jungen DDR-Literatur deuten, so Koch, auf „die latente und die akute Gefahr, daß ideologische und weltanschauliche Fronten zunächst verwischt und dann gewechselt werden können“.
In dieser Argumentationsweise erscheint es nur logisch, daß Czechowskis Forderungen, westliche Literatur zur Kenntnis zu nehmen und auch deren „formale Neuerungen“ „unseren sozialistischen Bemühungen zu integrieren“,89 von Koch nicht gerade bejaht wird. Er möchte ein solches Umgehen mit einer anderen Literatur nicht verstanden wissen als „Literaturaustausch“ oder „mechanische […] ,Umfunktionierung‘ von Gestaltungsmitteln“, sondern als ,geistige[n] Kampf‘, d.h. als ,Klassenkampf‘. Deswegen könne eine solche „Integration“ nur „Aufhebung“ sein, „auch im Sinne dialektischer Verneinung nichtsozialistischer Inhalte“.90 Praktisch geht das darauf hinaus, daß Formprinzipien der modernen westlichen Literatur verpönt bleiben.
Auf geschickte Weise versucht Koch den Vorwurf des lediglich inhaltlichen Urteils dadurch zu umgehen, daß er die formale Seite der von ihm aus inhaltlich-weltanschaulichen Gründen hochgeschätzten Gedichte Armin Müllers kritisiert. Nach Kochs Ansicht gehe es um eine „völlig unnötige Komplizierung der Formen“, die darüber hinaus „unangemessen“ sei.91 Müllers Gedichten stellt er Gedichte des Bandes von Jens Gerlach, Okzidentale Snapshots, gegenüber, die auch nicht „,auf Anhieb‘ verstehbar“ seien. In Gerlachs Texten hätte der diffizile Charakter allerdings einen „entlarvenden, oft verblüffenden satirischen Sinn, werde […] aktives Moment gezielter Aussage!“. Bei anderen – z.B. Bernd Jentzsch – diene die komplizierte Formensprache nur dazu, „Belanglosigkeit“ zu verdecken. Koch kommt zu allem Überfluß noch einmal zur Konklusion:

Schwerverständlichkeit oder Leichtverständlichkeit eines Gedichts können als solche keinesfalls ideologisch-ästhetisches Kriterium des Urteils über ein Stück Poesie sein; Gegenstand und Inhalt des Gedichts, Temperament und Individualität des Dichters spielen hier eine ausschlaggebende Rolle. Unverständlichkeit bringt Kunst als Kunst in Gefahr.

Von verschiedenen Teilnehmern (z.B. Elke Erb und Dieter Schiller) wird darauf hingewiesen, daß ,Unverständlichkeit‘ ein relativer Begriff ist, dessen Füllung sich mit der historisch-sozialen Perspektive des Rezipienten wandelt. Für Koch hingegen spielt nur die heutige Sicht auf ein Kunstwerk eine Rolle, die er zwar noch in „konkrete[r] Analyse“ entwickelt haben möchte, denn nicht alles, was schwerverständlich sei, sei verurteilenswert.92

(…)

 

3. Die Zweite Lyrikdiskussion: Adolf Endler und ,gewisse‘ Germanisten

3.1. Der Auftakt

Wolfgang Emmerich kommt in dem Kapitel seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR, das sich mit der Periode 1971 (Ablösung Ulbricht-Honecker) bis 1976 (Ausbürgerung Biermann) befaßt, zur Schlußfolgerung, daß „das Jahr 1971“ in der Hinsicht „eine bedeutende Zäsur“ sei, „als es der kritischen DDR-Literatur zu mehr Öffentlichkeit verhalf“.93 Die entscheidende Wende dieser liberalisierenden Tendenz sieht er dann 1976 mit der Ausbürgerung Biermanns vollzogen; nicht unbedingt etwa damit, daß ab dem Zeitpunkt ,Kritisches‘ überhaupt nicht mehr erscheinen konnte, sondern durch die „Abwanderung“ in den Westen einer „Reihe von Künstlern“, die die DDR-Literaturgesellschaft „laut und leise, mitgeprägt hatten“.94 Die wenigen Jahre zwischen 1971 und 1976 stellen nach seiner Darstellung somit eine Art kulturelle bzw. kulturpolitische Insel dar; auf eventuelle Konsequenzen damals zutage gekommener lyrischer und literaturwissenschaftlicher Positionen für die Periode(n) der literarischen Kommunikation in der DDR nach der Biermann-Ausbürgerung wird somit nicht eingegangen.
Die Zweite Lyrikdiskussion in der Zeitschrift Sinn und Form, die Ende 1971 mit einem Artikel von Adolf Endler einsetzte, der in der Form einer Rezension des Buches Verse, Dichter, Wirklichkeiten des Jenenser Germanisten Hans Richter die Diskussion des Jahres 1966 noch einmal aufgriff,95 bezeichnet Emmerich als eine „Debatte […], an der abzulesen ist, inwieweit die Partei ihre eigene Losung der Enttabuisierung ernstnahm“.96 Endlers polemischer Aufsatz stelle, abgesehen von einer Besprechung des erwähnten Buches, zweierlei dar:

ein Plädoyer für die „ganze Plejade lyrischer Talente“ und für die Förderung ihrer „nicht abreißenden Produktivität“ […] und eine Philippika gegen die Germanistik. […]97

Harald Hartung sieht ebenfalls ein duales Anliegen in dem die Diskussion auslösenden Artikel Endlers. Das erste Moment stellt für ihn die Offensive gegen die Germanistik dar, als zweites erwähnt er jedoch – und hier unterscheidet sich seine Einschätzung von der Emmerichs – „die Situation der Lyrik, d.h. […] die Rivalität zweier konkurrierender Konzeptionen von Lyrik in der DDR“98 Gerrit Jan Berendse faßt die Zweiteilung in den lyrischen Konzeptionen, von denen Richter/Endler mit unterschiedlichen Werturteilen sprechen, in den Begriffen ,Monosemie‘ und ,Autonomie‘. Er meint, die „neue Lyrik“ – die weitgehend von den auch von Emmerich genannten Lyrikern verfaßt werde – sei

dem dominanten Sprachmilieu der Kulturpolitik, wie auch sonstigen Sprachmilieus […] dialektisch verhaftet. Sie fährt eine bewußt angelegte ,Doppelspur‘. Die Lyriker emanzipieren sich nicht, indem sie selbst Ausschließlichkeit beanspruchen und sich isolieren, sondern begeben sich ins Handgemenge mit der Monosemie um ausgehend von einer Reflexion im und über das dominante(n) Sprachmilieu: eine eigene Position innerhalb der ,Literaturgesellschaft‘ zu erobern.99

Zur ,neuen Lyrik‘ rechnet Berendse die „veränderungswilligen Jüngeren, deren Fürsprecher Adolf Endler war“.100 Sie sind wohl weitgehend gleichzusetzen mit denjenigen Lyrikern die für Berendse die ,Sächsische Dichterschule‘ bilden.101 Dem „Monosemie-Gebot“ unterliege die Germanistik, die somit eine Lyrik, die – zumindest teilweise – auf eine Autonomie bestehe, ideologisch verurteile. Sie setze, so Berendse, Autonomie mit „Ästhetisierung“ gleich, was sie als „eine Kunst für bzw. über die Kunst“ betrachte.102
Für Berendse ist mit der Gegenüberstellung Monosemie-Autonomie bzw. Germanistik-,neue Lyrik‘ die Essenz der Zweiten Lyrikdiskussion für seine auf „Dialogizität“ (in der Lyrik der ,Sächsischen Dichterschule‘) gerichtete Untersuchung angesprochen, deren weiteren Verlauf er deswegen nicht mehr verfolgt. Trotzdem ist die Debatte für ein solches Thema gerade interessant, weil sie zeigt, daß die Gespräche auch zwischen Vertretern der Germanistik und der Lyrik allmählich mehr in Gang kamen, und – wichtiger noch – erstgenannte sich immer ernsthafter primär mit Literatur statt mit Ideologie befaßten.
In bezug auf die ,literarische Kommunikationssituation‘ ist ferner die Problematik wichtig, auf die Wolfgang Emmerich hinweist, nämlich „wie ,öffentlich‘ die literarische Auseinandersetzung eigentlich sein dürfe“,
103 eine Frage, die sich bis ans Ende der DDR stellen läßt und auch mit wachsender Intensität immer wieder neu gestellt wird. Eines der letzten Male, daß das geschieht, war auf dem X. Schriftstellerkongreß von 1987, wo Christoph Hein in seiner „Diskussionsgrundlage“ zur Arbeitsgruppe „Literatur und Wirkung“ ein vehementes und zugleich ironisches, fast zynisches, Plädoyer für die Öffentlichkeit – nicht nur – der literarischen Auseinandersetzungen hielt,104 auf das noch zurückzukommen ist. In der gleichen Rede und genauso heftig sprach er sich gegen die Zensur in der DDR aus, wie er es auf einer Tagung des Berliner Schriftstellerverbandes schon einige Jahre zuvor, am 3.6.1982, dann allerdings wieder in einer Forderung nach Öffentlichkeit des kulturellen Arbeitens, ebenfalls getan hatte.105
Manfred Jäger hebt die Forderung nach Öffentlichkeit, die in der Zweiten Lyrikdiskussion von seiten des Redakteurs von Sinn und Form, Wilhelm Girnus, gestellt wurde, besonders hervor.106 Girnus betrachtet das Fehlen eines öffentlichen Meinungsstreits in den Jahren vor 1971 als Ursache für „Stagnationserscheinungen“ in der Literatur.107 Girnus’ Beschreibung treffe „wieder exakt“, so Jäger in einer Nebenbemerkung, auf die „Gegenwart der ausgehenden siebziger und beginnenden achtziger Jahre“ zu.108 Mit Christoph Heins Äußerungen wäre eine solche Linie bis mindestens 1987 durchzuziehen, so scheint es. Die Crux liegt bei Jäger allerdings in der Unterstellung einer vollkommenen Kongruenz unterschiedlicher Phasen, ohne dabei die tatsächliche Entwicklung der literarischen und literaturkritischen Erscheinungsformen zu berücksichtigen.
Rückblickend sind anhand analoger Symptome für verschiedene Perioden gültige Aussagen eines bestimmten Abstraktheitgrades zum Kultur-/Literaturbetrieb gewiß zu machen. Sie erklären freilich die so unterschiedlichen literarischen Formen und Inhalte, zu denen es trotz beschriebener Umstände doch kam, sowenig wie theoretische und praktische Veränderungen in der Literaturkritik/-wissenschaft. Um dieser Problematik beizukommen, ist eine differenziertere Darstellung nicht zu umgehen. Bezogen auf die Kritik an fehlender Öffentlichkeit bei Girnus bzw. Hein bedeutet das u.a. ein genaues Hinsehen auf gelieferte Argumente und begriffliche Füllung der Ansprüche.
Christoph Hein schränkt seine Vorstellung von Öffentlichkeit in keinerlei Weise ein, schon deshalb nicht, weil das ein Widerspruch zu eben dieser Vorstellung bedeutet hätte. Er meint:

Es gab in den vergangenen Jahren Maßnahmen bei uns […], um die bürgerliche Kultur in einigen ihrer Erscheinungen nicht wahrhaben zu müssen, ihnen durch Verbote zu entkommen. […] Verbote können Bedürfnisse nicht regeln, sondern bewirken lediglich, daß sich diese Bedürfnisse auf andere und zum Teil paradoxe Art bewegen.
Kultur ist immer auch ein Auseinandersetzen mit anderen Kulturen, das Eigene ist nur mittels des Fremden zu entwickeln
.109

Seine wohl der Absicherung dienende Berufung auf Marx bedeutet keine Einschränkung des zuvor Verlangten.110
Das ist anders in Wilhelm Girnus’ Verteidigung der Veröffentlichung des Aufsatzes von Adolf Endler gegenüber Martin Resos scharfem Angriff auf die Redaktion, in dem die Publikation von Endlers Artikel als „politische[r] Fehler“ und deshalb „unverzeihliche Haltung“ bezeichnet wird.111 Girnus weist darauf hin, daß er 1971 anläßlich eines Moskauer Literaturgesprächs bereits in Sinn und Form geschrieben habe, wie die Teilnehmer alle der Überzeugung waren, „daß Literatur im Gegensatz zu einer Reihe anderer Bereiche der gesellschaftlichen Tätigkeit112 eine öffentliche Angelegenheit sei“.113 Damals hieß es weiter:

Es gehöre zum Wesen der Literatur, daß sie nicht nur für die Öffentlichkeit wirke, sondern auch in voller Öffentlichkeit, aus deren Problematik hervorwachse und deshalb ohne öffentliche Diskussion ihrer Probleme, geleitet von der Partei [letzte Hervorhebung A. V.] lebensunfähig sei.114

In einem anschließenden Artikel stellt die Redaktion der Zeitschrift ihre „Erste[n] Gedanken zu Problemen der Literaturkritik“ dar,115 mit denen sie die Konsequenzen, die sich mit einem Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU zur Kritik für die DDR ergeben,116 herausarbeitet. Es werden die Forderungen gestellt, das Niveau der Literaturkritik zu heben, bisher nicht besprochenen Werken „des In- und Auslands“117 (darunter ,junger‘ DDR-Literatur) Aufmerksamkeit zu schenken und Beurteilungskriterien der Kritik am „konkreten literarischen Gegenstand“ zu zeigen.118
Bei dem geforderten Meinungsstreit gehe es darum, „die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung sozialistischer Literatur herauszufinden“.119 Die explizite Berufung auf den Sozialismus hat zur Folge, und das ist der große und bedeutende Unterschied zu Christoph Heins Aufruf zur Öffentlichkeit in den achtziger Jahren, daß – obwohl das Ergebnis von jeweiligen Teildiskussionen nicht von vornherein feststehen könne –,

Auffassungen, die sich auf irgendeine Weise gegen die sozialistische Ordnung unserer Republik oder gegen unsere sozialistischen Verbündeten richten, innerhalb dieses Meinungsstreits keinen Platz finden.120

Mit den Darlegungen der Sinn-und-Form-Redaktion ist der Rahmen für den verlangten und wohl auch von der Partei im Anschluß an die KPdSU propagierten Meinungsstreit gegeben. Nicht auf diesen zielt Wolfgang Emmerich jedoch, wenn er die Öffentlichkeit, in der sich die Zweite Lyrikdiskussion abspielte, als eine „esoterische […]“ bezeichnet,121 sondern auf die Zeitschrift Sinn und Form selber. Es muß allerdings angemerkt werden, daß Interessierte die Zeitschrift im Buchhandel, vor allem aber an Kiosken in der DDR erwerben konnten. Sollte Emmerich jedoch meinen, daß die von dieser Zeitschrift dargestellte Plattform einem größeren Publikum einfach zu elitär sei, bemängelt er damit fehlende offene Diskussionen in den Massenmedien der DDR. Ein einigermaßen funktionierendes Feuilleton, wie es die BRD und andere (west-)europäische Länder besitzen, hat es in der DDR tatsächlich nie gegeben.122

In Anbetracht der den Teilnehmern gewährten Möglichkeiten zur Replik wäre die Zweite Lyrikdiskussion vielmehr denn die Erste als Diskussion zu bezeichnen. Im Jahr 1966 – es wurde schon darauf hingewiesen – waren lediglich zwei Briefe (von Karl Mickel und Rainer Kirsch als defensive Reaktion auf Rudolf Bahros ersten Angriff auf Günter Kunert) als Widerrede publiziert. Im übrigen gab es keinerlei öffentlichen Widerspruch von Autoren oder Wissenschaftlern, die mitunter doch scharf attackiert wurden. Das ist 1971/72 anders. Entscheidend anders ist außerdem die Tatsache, daß die Sinn-und-Form-Redaktion eine offene Debatte befürwortet und bei dieser Unterstützung durchaus bleibt, ja sogar auf anderem Gebiet als der Lyrik ebenfalls Auseinandersetzungen initiiert.123 Zudem breitet die Diskussion – vor allem zum Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Literatur – sich auf andere Zeitschriften aus, wobei mitunter eigene Zielsetzungen formuliert werden.124 Überdies wird die Diskussion jetzt nicht von parteitreuen Kulturfunktionären bzw. Literaturwissenschaftlern beendet; im Gegenteil, ein definitives Ende wird überhaupt nicht herbeigeführt. Das hat dann – und die intensive und vielfach engagierte Teilnahme weckt den Eindruck, daß das mit einer im Bereich der literarischen Kommunikation fast allgemein geltenden Erkenntnis nötiger Veränderungen in Literaturwissenschaft und -kritik einhergeht – tatsächlich zur Folge, daß in ihr angesprochene literarische Problematiken auch in Zukunft immer wieder aufgegriffen und besprochen werden, daß diese Diskussion also eine Art Durchbruch darstellt, die für die sanktionierte literarische Produktion nicht ohne Folgen blieb. Der mit literarischen Fragen verbundene kommunikative Gesamtkomplex berechtigt durchaus dazu, aufgrund angegebener Umstände von einer neuen Phase in der literarischen Kommunikation wie in der Literatur der DDR zu sprechen. Dabei sollte dieses Neue auf keinen Fall verabsolutiert werden und es kein Augenschließen geben vor neuen Einschränkungen, die es angesichts radikalerer Neuerungen in der DDR immer wieder geben sollte. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Adolf Endler und anderen, unter ihnen Literaturwissenschaftlern wie Annemarie Auer, muß Ende 1971 in hohem Maße daran gelegen sein, mit der Lyrik der DDR und ihrer Bewertung verbundene Probleme zu ihrer Veränderung/Lösung in die Öffentlichkeit zu bringen. Es ist nämlich nicht so, daß diese seit 1966 überhaupt von den Betroffenen nicht mehr diskutiert wurden: die Mitteilungen des Schriftstellerverbands zeugen z.B. davon, daß in den Aktivs zur Lyrik und Literaturkritik (letzteres gab es erst seit 1967) wiederholt die Situation in eben diesen Bereichen besprochen wurde.125 Interessant ist, daß es am 10. Mai 1968 eine „gemeinsame Beratung der Aktivs Lyrik und Literaturkritik“ gegeben hat, auf der das Thema „Literaturkritik gestern und heute“ behandelt wurde und Adolf Endler eine Einführung hielt.126 Aus dem Bericht zu dieser Zusammenkunft geht hervor, daß außer Endler auf jeden Fall noch zugegen waren: Horst Haase, Klaus Jarmatz, Dieter und Silvia Schlenstedt.
Diese verbandsinterne Diskussion – die, wie es heißt, „sehr rege“ war127 – findet hier Erwähnung, weil bemerkenswert ist, daß Endler dort ähnliche Vorwürfe und Vorschläge in Richtung Literaturkritik äußerte wie 1971 in Sinn und Form. Das macht um so deutlicher, daß Richters Buch für Endler nur den Anlaß bzw. Vorwand seiner kritischen Ausführungen darstellte. Darüber hinaus fällt auf, daß er 1968 zwar in ähnlicher Weise scharf formuliert, jedoch in den Angriffen differenzierter vorzugehen scheint als drei Jahre später. Zu den Vorwürfen gibt er des öfteren mit Namen versehene positive Gegenbeispiele. Noch keine zwei Jahre nach Abbrechen der Diskussion im Forum bezeichnet Endler nicht die „abstrakt-normative […] Betrachtungsweise“ als das größte Manko der DDR-Literaturkritik, wie er es 1971 in Sinn und Form wohl tut,128 sondern attestiert ihr einen „geschmäcklerische[n] Relativismus“.129 Zusammen mit dem „undifferenzierten Applaus, den die Presse der Lyrikwelle von 1963/64 gezollt habe, wobei auch weniger begabte jüngere Lyriker mit hohem Lob bedacht“ wurden, habe das zu einem „Schwund an Quantität und Qualität der Lyrikkritik“ geführt.130
In diesem Punkt führt Endler dann allerdings Gegenbeispiele auf und meint, daß „u.a. Karl Mickel, d[ie] Schlenstedts, Dieter Schiller, Ursula Püschel und Günther Deicke […] nicht nur sicher in der ästhetischen Wertung gewesen seien, sondern auch bruchlos historische Aspekte einbezogen“ hätten.131 Hier ist es also keineswegs nur die „glänzende Lyrikeressayistik“, die in einer dem poetischen Gegenstand angemessenen Weise arbeitet, wie er später in Sinn und Form behauptet. Gegenüber den Arbeiten der erwähnten Kritiker stünde der Großteil der Literaturkritik, der sich kennzeichne durch „zunehmende Vorsicht und Diplomatie […], durch eine Unbestimmtheit, die sich über nichts mehr entschieden zu äußern vermöge“.132 Dieser Vorwurf bildet nicht unbedingt einen Gegensatz zu dem später geäußerten „brutalen Dogmatismus“,133 sondern stimmt mit dem Fehlen von „um Verständnis bemühten Analyse[n]“ überein.134 Aus der kurzen Diskussionswiedergabe in den Mitteilungen des Schriftstellerverbands geht hervor, daß von den Anwesenden zwei charakteristische Positionen vertreten werden: Horst Haase und Klaus Jarmatz heben die Relation zwischen Werk und Wirklichkeit bzw. Weltanschauung hervor, die für die „poetologische Konzeption“ verantwortlich sei, hingegen vertritt Silvia Schlenstedt die Auffassung, daß die „Strukturanalyse auch für die weltanschauliche Wertung des Gedichts unerläßlich“ sei.135
Letztere ,aufklärerische‘ Tendenz in der Literaturkritik wird von Endler 1971 in Sinn und Form nicht berücksichtigt. Er schreibt einen polemischen Aufsatz, in dem es ihm darum geht, verbreitete Mängel und Unzulänglichkeiten der Berufsgruppe unmißverständlich herauszustellen. In bezug auf diesen Punkt sind seine Darlegungen nach drei Kategorien aufzugliedern: allgemeine Vorwürfe der Germanistik/Kritik gegenüber; Vorwürfe, die direkt und lediglich Hans Richters Buch betreffen; schließlich Forderungen an die Germanistik/Kritik. Die zweite Kategorie ist hier aufgrund des einmaligen Charakters von weniger Interesse, die erste und dritte hingegen sollen kurz präsentiert und erläutert werden.

 

3.2. Endlers Vor-Würfe

Eines der schwerwiegendsten Probleme136 – gemessen an der Schärfe der Formulierung –, die Endler mit der Germanistik/Kritik hat, ist ihre präskriptive Haltung, verbunden mit dem Nicht-Wahrnehmen bestimmter lyrischer Tendenzen (und Autoren): sie beschimpfe „immer noch als eine dürre Gouvernante einen blühenden Garten“.137 Die Konsequenz zeige sich in dem „vollkommenen Abbruch der Beziehungen zwischen Germanisten und Poeten“, der sowohl „verständlich“ als auch „perfekt“ sei.138
Eine weitere Schwierigkeit ist das Fehlen einer „um Verständnis bemühten Analyse“. Statt dessen begegne immer häufiger eine „abstraktnormative […] Betrachtungsweise“ (auch „brutale[r] Dogmatismus“ genannt), aus dem Grund, daß man sogar jetzt erscheinende Literatur „in Hinblick auf eine geplante Literaturgeschichte“ versuche „zu sortieren und zu bewerten“.139 Es bleibt unklar, ob dies ebenfalls der Grund dafür ist, daß „unsere […] mutigen Literaturprofessoren stets ein[en] weite[n] Bogen“ beschreiben um die von Endler gelobten Autoren.140
Zu den weiteren Mängeln des „Berufsstand[s]“ Germanistik rechnet Endler „die nahezu vollständige Ignorierung des internationalen Kontextes“ bei der Betrachtung von DDR-Lyrik.141 Etwas weiter setzt Endler „internationalen Kontext“ mit „Weltlyrik“ synonym, die gleich darauf – mit den Worten Czechowskis in bezug auf Essays von Georg Maurer – identisch zu sein scheint mit „sozialistische[r] Weltliteratur“,142 mit der letztendlich aber durch Hinweise auf Maurers, Bechers und Brechts Auseinandersetzungen mit unterschiedlichster – sozialistischer wie nicht-sozialistischer – ausländischer Literatur doch wirklich Weltliteratur gemeint ist.143
Vor allem in gerade diesem Punkt der nicht isolierten Betrachtung von Literatur ist Endler der Meinung, daß die Germanistik von der Lyriker-Essayistik, für die er das Beispiel Czechowski zur Verfügung hat, lernen könne. Nun zeigt das bereits angeführte Teilzitat Heinz Czechowskis, daß Endler in der Weite und Vielfalt dieses Kontextes durchaus einen Schritt weiter geht als sein Dichter-Kollege. Dabei ist nicht zu übersehen, daß es auch ihm – ähnlich Maurer, Becher und Brecht – bei der Beschäftigung mit Lyrik unterschiedlicher Weltanschauung um die Herausarbeitung einer sozialistischen künstlerischen Position geht.
Als „geschmäcklerische Grobheit“ bezeichnet es Endler ferner, daß „auch von Richter“ gute und schlechte Gedichte zum Beweis seiner Ausführungen herangezogen werden, „als sei ihnen ganz die gleiche Beweiskraft zu eigen“.144 Der Sache Lyrik ebenso wenig angemessen ist für Endler die Tatsache, daß die Literaturwissenschaft den „gesellschaftlichen Hintergrund poetischer Phänomene nur nach Willkür streift“.145 Auch das führe zu einer entstellenden Einschätzung der lyrischen Landschaft.
Der Ursprung aller Fehler scheint jedoch in der bei Germanisten in der DDR festzustellenden „vollkommenen Unfähigkeit zum Kunstgenuß“ zu liegen,

als sei dieser Menschengruppe das Organ abgestorben, das es ihnen möglich macht, von einem künstlerischen Produkt, z.B. einem Gedicht, überrascht, überwältigt, besiegt zu werden.

Endler ist der Ansicht, erst diese „Begeisterungsfähigkeit“ legitimiere „die Auseinandersetzung mit Kunst“.146
Nun wird keineswegs die herausgestellte Lyriker-Essayistik der Germanistik nur lobend gegenübergestellt. Endler sieht durchaus eine ihr anhaftende Schwäche, nämlich daß sie „nicht selten gekennzeichnet [ist] von einer voluntaristisch-literaturpropagandistischen Überschätzung ihres Gegenstands“,147 von der Martin Reso in seiner Replik meint, Endler selber leide genauso an ihr. Dennoch bietet sein Aufsatz trotz aller Polemik einen interessanten Katalog an germanistischen Schwachstellen, der von manchem im weiteren Verlauf der Diskussion aufgegriffen und weiterdiskutiert wird. Darüber hinaus gibt Endler Ansätze zum Konstruieren von Entwicklungslinien innerhalb der Lyrik der DDR.148
Wertvoll ist ebenfalls Endlers zu Beginn seines Aufsatzes gemachte Beobachtung, Richter habe die Todesthematik bei Becher „bewundernswert differenziert dargestellt“,149 habe es allerdings dabei unterlassen, „einen Blick auf die gleichzeitigen und sehr verwandten Prozesse bei sehr viel jüngeren Autoren“ zu werfen.150 Es soll hier weniger um die Hervorhebung des Todesmotivs gehen, vielmehr um das Unterstreichen, daß ähnliche künstlerische „Prozesse“ bei Repräsentanten unterschiedlicher Generationen auftreten können. Nur allzu oft hat man in der DDR- und westlichen Germanistik die Unterschiede in den kreativen Vorgängen verschiedener Generationen verneint bzw. betont, um so Generationsbrüche als (kunst- )politisch relevant zu dementieren bzw. zu konstruieren. Nicht immer bot das optimale Sicht auf die Leistungen und Eigenschaften des Objekts Lyrik. Darauf wird in einem späteren Kapitel noch zurückzukommen sein.

 

3.3. Gegen-Reden, Mit-Reden und Weiter-Reden

Wie schon angedeutet, gab es auf Endlers geharnischten Aufsatz divergierende Reaktionen; die Skala reicht von scharf verurteilenden, ernsthaft überlegenden bis zu zustimmenden. Die zweite Gruppe ist am interessantesten, weil sie auf die Potenz der von Endler aufgeworfenen Fragen hinsichtlich künftiger Literaturbetrachtung verweist.
Bei vielen Diskussionsteilnehmern besteht ein Konsensus über den Belang des ,internationalen Kontextes‘ bei der Betrachtung der nationalen Lyrik. Reso und Weisbach, aber auch die Literaturwissenschaftler Mierau, Annemarie Auer, Rita Weber,151 die Lyriker Heinz Czechowski, Günther Deicke, Günter Kunert und Roland Erb, sie alle sehen diesen Aspekt als einen wichtigen an, mit dem es sich ernsthaft auseinanderzusetzen gilt. Mierau fordert außerdem neben der „Prozeßstudie“, deren Mangel es manchmal sei,

die Gegenwart jeweils nur als eine verlängerte Vergangenheit anzusehen und damit die neuen Probleme auf die alten zu beschränken[,]

eine „Synchronschau auf kleine Abschnitte“.152
Annemarie Auer formuliert als neues Moment für die Arbeitsweise der Literaturkritik, zu akzeptieren, „daß die konkrete Vorwärtsbewegung, wie überall sonst, auch in der Belletristik in Widersprüchen vor sich geht“. Wohl hält sie an der von der philosophischen Kategorie der nicht-antagonistischen Widersprüche geforderten Zielsetzung einer prinzipiellen Verschmelzung von Gegensätzlichkeiten fest:

Hier zu vermitteln, die Widersprüche zur Synthese zu führen, indem man auf das Ganze sieht, wäre vorrangig die Aufgabe der Wissenschaft.153

Als hemmend in dem ganzen Prozeß bezeichnet sie es, wenn ein literarischer Streit „zu einem ideologischen Stellungskrieg verfestigt“,154 und obwohl das für sie keineswegs bedeutet, daß man Literatur etwa als selbständigen, von gesellschaftlichen Faktoren unabhängigen Prozeß betrachten müsse,155 meint sie doch, daß die „kritische[n] Verfahren“ „vor der historisch, gewordenen, relativen Eigenständigkeit formaler Elemente nicht zurückscheuen“ sollten.156 In der Tendenz ist hier, obwohl vorsichtig ausgedrückt, eine deutliche kritische Distanzierung von den 1966 in Forum von Braemer, Haase und Koch in extremer Weise vertretetenen Positionen zu erkennen.
Obwohl Auer es nicht für fruchtbar hält, aus den in der Forum-Diskussion157 entstandenen Empfindlichkeiten eine neue Diskussion zu entwickeln, knüpft sie trotzdem an damals vertretene Sichtweisen durchaus an, so z.B. an die Dieter Schillers, indem sie darauf hinweist, daß „das Interesse der Klassen, sei es im revolutionären Aufstieg, sei es in der Phase ihrer Stabilisierung, gewisse Affinitäten zu bestimmten überbrachten Formen der Literatur entwickelt“.158
Positiv steht Auer Endlers Anstrengungen gegenüber, größere Zusammenhänge, nicht nur international, sondern auch – thematisch-stofflich – national, für die neuere Lyrik aufzuweisen. Sie verbindet eine solche Verfahrensweise mit der sozialistisch-optimistischen Zielsetzung, „die komplexe Vorwärtsbewegung des Genres zu erfassen“.159 Wie wichtig die Autorintention für die Kritik in der DDR zu der Zeit ist, zeigt ihre Bitte an Endler, er möge doch einmal darlegen,

was seine Generationsgruppe jüngerer Lyriker, die mittlerweile im produktivsten Lebensalter stehen, nun heute treibt oder vorhat; ob man sich untereinander noch als verwandt empfindet, oder welchen besonderen Weg dieser oder jene fand.160

Gerade das fordert Endler aber von einer analytischen Textbetrachtung der Kritik, wie er in seiner Reaktion auf bisherige Diskussionsbeiträge, „Weitere Aufklärungen“, hervorhebt. Darüber hinaus zeige Auers Bitte genau, worin die Mängel der Literaturkritik bestehen, sie

meint die mittlere Generation der Lyriker, die in anderen Ländern längst im Bild der nationalen Poesie dominiert; wer über die Tatsache, daß eine schon immer um Verständnis und Kenntnis bemühte Frau wie Annemarie Auer um Aufklärung bitten muß, wie es heute mit unseren Lyrikern um die fünfunddreißig bis vierzig steht, wer über diese Bitte nicht tief erschrocken ist, dem ist nicht zu helfen.161

Verspätete und lückenhafte Wahrnehmung wäre das zu nennen, was Endler der Literaturkritik hier vorwirft.
Rita Weber verübelt Endler ihrerseits, in seinem „Lyrik-Bild der DDR fehlen Namen wie Preißler, Kahlau, Berger, Weisbach, Jo Schulz, Günter [sic!] Deicke“, auf die sie nicht verzichten möchte.162 Aus Endlers Antwort wird deutlich, inwiefern dieses Auslassen mit unterschiedlich angelegten Qualitätsmaßstäben verbunden ist. Endler stellt fest, daß die von Weber Erwähnten „zwar in meinem Lyrik-Bild nicht fehl[en]“, möchte allerdings „an einer Stelle […], wo ich ausschließlich positive Beispiele reihe“, nicht an erster Stelle diese nennen:

Wirklich, ich würde zwanzig bis dreißig Namen vor mindestens dreien Ihrer Liste nennen, […] die gleichfalls nicht in meinem Sinn-und-Form-Artikel erscheinen.163

Im folgenden listet er 18 Namen von Lyrikern auf, die ihm wichtiger erscheinen als die, die Weber fehlten:164 Hanns Cibulka, Kurt Bartsch, Wilhelm Tkaczyk, Uwe Grüning, René Schwachhofer, Kito Lorenc, Peter Gosse, Joochen Laabs, Brigitte Reimann, Bernd Jentzsch, Jürgen Rennert, Richard Leising, B.K. Tragelehn, Paul Günter Krohn, Eckhard Ulrich, Friedemann Berger, Inge Müller und Elke Erb. Wichtig ist Endlers anschließender Hinweis auf die Menge der unveröffentlichten Gedichte, die von diesen Autoren vorlägen.165
In seinem die Lyrik-Diskussion auslösenden Sinn-und-Form-Artikel hatte Endler das erste Mal auf die „Vielzahl der unveröffentlichten […] Arbeiten der jüngeren Lyriker der DDR“ hingewiesen, allerdings ohne konkrete Namensnennung. Eine bissige Bemerkung von Weisbach war die Folge; die Beschuldigung blieb in der Luft hängen.166 Wenn man ihr anhand der hier erwähnten nachgeht,167 läßt sich feststellen, daß Endlers Herausstellung gerade dieser Namen als bedeutende Lyriker der DDR sich nicht in allen Fällen bewahrheitet hat, andererseits aber legen die Publikationsdaten nahe, daß sie ihre lyrischen Produktionen in der Tat erst verspätet veröffentlichen konnten. Die Publikationsorte und die Tatsache, daß die von Weber geschätzten Lyriker vornehmlich unter weltanschaulichem Aspekt als einigermaßen einheitlicher Lyrikerkreis zu betrachten sind, können Anzeichen dafür sein, daß Publikationen zumindest einige Male aus ideologischen Gründen nicht früher möglich waren. Trotzdem wäre es verfehlt, in jedem der vorliegenden Fälle politische Kriterien als ausschließliches Motiv in Erwägung zu ziehen; die auch später quantitativ meist relativ bescheidene lyrische Produktion und der Charakter sonstiger Arbeiten könnte gleichfalls darauf hinweisen, daß Autoren wie Leising, Krohn, Berger und Rennert nicht in erster Linie Lyriker waren/sind.168
Anneliese Große stellt sechs Punkte auf, über die ihrer Meinung nach „heftig zu streiten wichtig und wertvoll ist“: Die ersten drei Punkte beziehen sich auf die (individuell erlebte und konkret vorhandene) Realität sowie die Bindung des Kunstwerks an sie,169 der vierte berührt die Qualitätskriterien,170 Punkt fünf unterstreicht den Belang des „Rezeptionsvorgang[s]“, der bei Endler ausgespart bleibe (welche „Rückwirkungen“ hat die Rezeption auf den „Kunstprozeß“), und der sechste Punkt fragt nach dem Inhalt des bei Endler auftauchenden Begriffs ,auf der Höhe der Zeit stehen‘.171 Der Rezeptionsvorgang sollte im Laufe der siebziger Jahre immer größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Darauf wird in einem späteren Teil dieser Arbeit ausführlicher zurückzukommen sein.
Günter Kunert greift den von Endler gerügten literaturwissenschaftlichen Umgang mit Literatur auf: Mit Ironie räumt er ein, daß es bei den von Endler geäußerten Vorwürfen nicht um die Germanistik, sondern um einen Teil gehe:

manche, einige, gewisse und sogenannte.

Dieser Teil leide „an einer fruchtbaren Impotenz“, und betone fortwährend und „penetrant […]“ die „eigene […] ,Wissenschaftlichkeit‘“.172 Eine der größten Schwierigkeiten sei durch „den einem gewissen historischen Materialismus konträren Glaubenssatz von der Suprematie der Theorie“ entstanden,173 die in der Kunstbetrachtung zu der Ansicht geführt habe, daß aus der „richtige[n] Weltanschauung“ nahezu von selber wichtige Kunst entstehe.174 Dadurch, daß nicht die „Realität“, sondern die „Theorie“ an erster Stelle kam, kam auch die Literatur statt vor, nach der Literaturwissenschaft, bekam „von ihr die ästhetischen Gesetze vorgeschrieben […]: das Ergebnis ist bekannt: es war die Stagnation der Kunst“.175 Die Literaturwissenschaft/-kritik betrachte die von ihr einmal herausgearbeiteten Normen als unveränderliche, was zur Folge hatte, daß „jedes der Fixation widersprechende Weiterleben abweichender ästhetischer Normen als Gesetzesverstoß geahndet werden müßte“.176 Nun ist aber Kunert der Meinung, daß jede Literatur gerade einen solchen Normverstoß („formal und thematisch“) immer betreibt, das liege sozusagen in ihrem Charakter beschlossen.
Kunert stellt des weiteren fest, daß dadurch, daß die Germanistik sich die Literatur zum Objekt gemacht habe, die „Ausgangspositionen von Lyrik und Germanistik […] grundverschieden“ seien, und zwar „in aller Welt“, auch bei Übereinstimmung in den ideologischen Ausgangspunkten.
177 Kunert sieht schreiben als „Akt […] der Selbstbefreiung […], der Identitätsfindung“,178 der vom Leser nachvollzogen werde.179 Deswegen gebe es für Kunst auch kein begrenztes Publikum, das wäre eine „Reduktionskunst“, wo doch Kunst immer „Grenzüberschreitung“ bedeute.180
In dieser Zweiten Lyrikdiskussion ist Kunert derjenige, der die ,Aufgabe‘ der Kunst/Lyrik am weitesten faßt, ohne nachdrücklich auf das Adjektiv ,sozialistisch‘ zu verzichten:

Wenn Lyrik […] zur Selbstverwirklichung und Selbstverständigung der Menschen beiträgt, ist sie faktisch gesellschaftlich; ich behaupte: sogar sozialistisch, da Selbstverwirklichung und Selbstverständigung jenseits bürgerlich-materieller Manipulation nur innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft sich vollziehen kann.

Selbstverständlich hat eine solche Ansicht Folgen für den Charakter des lyrischen Ich:

Im lyrischen Subjekt, im Ich des Gedichts erscheint – und darum zur Befreiung berufen – das vollkommene (im Sinne von ,vollständig vorhandene‘) Individuum, exakt das, worauf jeder Sozialismus, der utopische wie der säkularistische abzielte und insistierte.181

Mit derartigen Formulierungen hebt Kunert auch den Begriff der ,Widerspiegelung‘ ins Philosophisch-Abstrakte, der einen größtenteils unkontrollierbaren Vorgang darstellt. Seine Auffassung vom Charakter der Kunst erscheint insofern eine positivistisch-moderne, als er die „Kommunion“ für durchaus möglich und darstellbar hält. Für die Literaturwissenschaft sieht Kunert in einem solchen Prozeß kaum eine Aufgabe; sie solle zwar „das prärationale Herkommen von Lyrik […] erkennen und in das Licht der Rationalität […] heben“,182 aber nach mehr als einer Korrektur ihrer eigenen Fehler/Mängel mutet das nicht an.183
Der Abschluß der Diskussion wird in Heft 4 bereits für das nächste Heft angekündigt und mit einem Schlußwort der Redaktion vollzogen.184 Die Redaktion behauptet nachdrücklich, daß die Diskussion, „nicht einen definitiven Abschluß, sondern nur einen zeitweiligen finde185 und fordert eine Literaturdiskussion als ständigen, öffentlichen Prozeß dessen Ergebnisse je nach historisch-gesellschaftlichen Bedingungen anders aussehen werden. In bezug auf die Zweite Lyrikdiskussion stellt sie fest, daß „der eigentliche Gegenstand, das Zustandsbild der Lyrik in der DDR und Ausblicke für die Zukunft“ nicht das Hauptthema der Auseinandersetzung darstellte. In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde dargelegt, daß gerade das in der Ersten Diskussion in erheblichem Maß wohl der Fall war, in einer solchen Weise jedoch, daß die Art der Behandlung geradezu zum Gegenstand der nächsten Aussprache werden mußte. Dadurch blieb die Frage nach der Eigenheit der Lyrik der DDR und wie man deren Qualität messen könne weitgehend ausgeklammert. Ebensowenig wurde, so konkludiert die Redaktion, das Verhältnis von Lyrik und Germanistik geklärt:

Die Lyriker fühlen sich von den Germanisten nicht als Künstler [Hervorhebung im Original, A. V.] verstanden und gewertet. Sie haben das Gefühl, ihre Arbeit werde nach dem gleichen Maßstab gewertet wie wissenschaftliche Argumentationsfolgen, philosophische Essays […] oder journalistische Leitartikel.186

 

 

 

Vorwort

Im Jahr 1989 begann ich mit einer Untersuchung zu Innovationen in der Lyrik und Literaturkritik der DDR in der Annahme, daß die Ergebnisse einen Beitrag zu einer Art Zwischenbilanz darstellen würden. Das Ende des untersuchten literarisch-kommunikativen Prozesses war für die unmittelbare Zukunft nicht abzusehen. Am 9. November ,fiel‘ jedoch die Mauer (obwohl ,Mauerspechte‘ geraume Zeit brauchten, ihre materielle Form wegzuschaffen, und zu befürchten ist, daß es sie in den Köpfen der Deutschen in ihrer immateriellen Ausprägung noch lange geben wird); seit dem 3. Oktober 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Und so beschäftigt sich die nunmehr vorliegende Arbeit in gewissem Sinne mit einem (literatur-)historischen Gegenstand. Gerade in Anbetracht der vielfältigen Politisierungen im Umgang mit DDR-Literatur in der – auch allerjüngsten – Vergangenheit ist jetzt eine Aufbereitung dieses Komplexes meines Erachtens besonders erforderlich.
Daß die politischen und in deren Nachfolge germanistischen Umwälzungen mich nicht verunsichert haben, sondern sich produktiv haben auswirken können, verdanke ich vor allem dem zugleich vielleicht kritischsten Leser meiner Überlegungen, Professor Gerd Labroisse. Er wurde nie müde, immer wieder über verschiedenste Aspekte meines Themas mit mir zu diskutieren, und gab mir dabei stets neue Anregungen. In den lebhaften Gesprächen mit ihm habe ich nicht nur gelernt, meine Ansichten über die DDR-Lyrik immer wieder zu durchdenken und mit Argumenten zu versehen, sondern auch viele Einsichten in methodologische Fragen gewonnen. Für die freundschaftliche Atmosphäre, in der er meine Arbeit betreute, bin ich besonders dankbar. Sie gab unserer Beziehung einen sehr wertvollen persönlichen Charakter, und ich hoffe deshalb, daß manches trotz des geographischen Abstands weitergeführt werden kann.
Professor Ian Wallace gebührt Dank für seine ruhige, aber bestimmte und sachverständige Art des Urteilens, mit der er meine (Selbst-)Zweifel beseitigen konnte. Die positive Reaktion, die er vor einigen Jahren auf meine damaligen Denkansätze in bezug auf das hier präsentierte Kapitel über Volker Braun zeigte, hat gewiß zu deren Wiederaufnahme im Rahmen dieser Arbeit beigetragen.
Daß sich Professor Wolfgang Emmerich bereit fand, meine Arbeit ebenfalls als Gutachter zu beurteilen, betrachte ich, angesichts seiner geschätzten Untersuchungen auf dem Gebiet der DDR-Literatur, als eine Ehre.
Neben diesen in wissenschaftlicher Hinsicht am direktesten Beteiligten danke ich allen an der Abteilung Deutsch der Vrije Universiteit in Amsterdam Beschäftigten für ihr ständiges Bemühen, auch lediglich zeitweilig dort Verweilende in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Zu den Letztgenannten gehören auch Andrea Kunne und Cristina Siertsema-Pumplun, die immer in sehr persönlicher Weise Interesse an meiner Arbeit und den mit ihr verknüpften Sorgen zeigten. Der dritten im Bunde, Marieke Krajenbrink, danke ich außerdem für die anregenden Diskussionen, die ich mit ihr über literaturwissenschaftliche Fragen führte.
Hans Varkevisser und seinen Mitarbeiterinnen bin ich für ihre Bereitschaft, mir bei Computerproblemen zu helfen, verpflichtet.
Dafür, daß die DDR mir nicht fremd blieb, sondern zu einer mir vertrauten Umgebung wurde, möchte ich vor allem Bettina und Wolfgang, Katrin sowie Kitty und André danken. Die intensiven persönlichen Gespräche, die ich mit ihnen über das Leben in der DDR geführt habe, haben mich viele Eigenheiten des ostdeutschen Staates besser verstehen lassen. Katrin danke ich außerdem für die Korrektur der Druckfassung meiner Arbeit, die sie unter nicht gerade einfachen Umständen durchgeführt hat. André gebührt Dank für den Entwurf des Buchumschlages. Daß Bettina und Wolfgang mich im letzten Jahr sogar mehrere Monate ertragen haben, hat sehr zur Fertigstellung der Dissertation beigetragen. Das gilt auch für die finanzielle Unterstützung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
Meinen Eltern gegenüber möchte ich an dieser Stelle ebenfalls meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Die Freiheit, die sie mir gewährt haben, und ihre Zuwendung und Hilfsbereitschaft gaben mir immer ein Gefühl der Sicherheit. Das wurde durch das Interesse und die materiellen Hilfeleistungen seitens Pauls Eltern noch verstärkt.
Den bisher Genannten bin ich jeweils für bestimmte mit dieser Arbeit zusammenhängende Faktoren dankbar. Bei der letzten hier zu erwähnenden Person, der ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet bin, ist das anders. Pauls Anteilnahme erstreckte sich auf alle Aspekte, die mit ihr in den letzten Jahren verbunden waren. Ohne seine Hilfe und ohne seine Bereitschaft, in unserem persönlichen Leben manches zurückzustellen, wäre sie so nicht möglich gewesen. Seine Auffassung, dies alles sei ,normal‘, macht sein Zur-Seite-Stehen noch mehr zu etwas Außergewöhnlichem.

Einleitung

1. Zum Thema

bis daß
im normgemäßen Grau des morgendlichen Zimmers
verfliegt
was ich oft preisen hörte
.
187

Zwei Jahre nach der ,Wende‘ in der DDR überdachte Wolfgang Emmerich den bisherigen Umgang mit ihrer Literatur in Ost und West und plädierte er im Rahmen einer Neukonzeption für „[n]eue Kontexte, neue Paradigmen, ein[en] neue[n] Kanon“.188 In einer Überlegungen Bernhard Greiners vom Anfang der achtziger Jahre189 aufgreifenden (selbst)kritischen Betrachtung bemerkte er, daß die bisherige Erforschung der DDR-Literatur das Objekt zu stark in den Dienst einer Untersuchung „gesellschaftlich-politischer Verhältnisse“ gestellt habe, während die Literatur selber „in den besten Fällen“ durch ihre „ästhetische Anmutung“ „gerade erst als Literatur aus anderen Diskursen“ herausgehoben wurde.190 In dem Zusammenhang hält er es nicht nur für notwendig, „literarische Texte […] als Texte [Hervorhebung im Original, A. V.]“ zu untersuchen, ebenso wesentlich sei, zu dem Zweck eine bereits von Greiner vorgeschlagene „Vielfalt der Zugänge“ zu legitimieren und damit in der Konsequenz den Abschied von dem ,grand recit‘ der „einen, ganzen Geschichte“, dafür aber eine „Vielfalt der Literaturgeschichten“ zu akzeptieren.191 Das entspräche der Einsicht, daß die Entfaltung der Literatur „ein System widerspruchsvoller, interferierender Bewegungen“ darstelle, das man nicht „von einem vorab gegebenen archimedischen Punkt“ fassen könne.192 Die Frage nach der Relationierbarkeit der unterschiedlichen Konzepte bzw. Herangehensweisen stellt Emmerich nicht.193 Sein Bezug auf Wolfgang Welsch und Jean-François Lyotard suggeriert aber, daß er ein vollkommen beziehungsloses Nebeneinander nicht ohne weiteres akzeptieren würde. Im zweiten Teil meiner Einleitung gehe ich auf diesen Punkt ausführlich ein.
Im Verlauf seiner Darlegungen macht Emmerich mehrere Vorschläge für eine Neuperspektivierung der DDR-Literaturforschung/-geschichtsschreibung, indem er einige von ihr bisher vernachlässigte Aspekte benennt. Für eine diachrone Betrachtungsweise empfiehlt er in Anlehnung an Greiner unter anderem, „die DDR-Literatur als kommunikatives System im Lauf von vierzig, fünfundvierzig Jahren zu untersuchen“, mit der Zielsetzung, herauszufinden, inwiefern diese „die Kraft zum strukturellen Wandel der Apparate [der literarischen Kommunikation, A. V.]“ besaß.194 Die Ergebnisse in bezug auf diese Problematik scheinen sich nach Emmerichs Vorstellung in Form von Differenzierungen bisheriger Einsichten präsentieren zu müssen: denn „[…] einen wirklichen ,Strukturwandel‘ der Apparate hat die Literatur der DDR eben keineswegs erzwingen können, auch wenn sie die Grenzen der Zensur zu verschieben vermochte“.195
Die Frage nach der literarischen Kommunikation betrifft jedoch ihrem Wesen nach mindestens zwei Aspekte eines in der Tat zu nuancierenden Sachverhalts. Meine These ist demnach, daß der partielle Wandel dessen, was ich statt „Apparate“ lieber ,Institutionen‘ nennen möchte, als das Resultat eines Wechselspiels zwischen verschiedenartigen Teilnehmern an diesem Prozeß zu beschreiben ist. Die vorliegende Untersuchung greift insofern den Vorschlag Emmerichs auf, um ihn an einigen exemplarischen Fällen auszuarbeiten. Dabei liegt der Schwerpunkt einmal auf der institutionellen Seite (wenn es im 1. Kapitel um die Lyrikdiskussionen von 1966/1971 geht), einmal auf der ästhetischen Komponente (in bezug auf Volker Brauns Zyklus Der Stoff zum Leben im III. Kapitel), sonst zwischen diesen beiden (die Anthologiereihe Auswahl im II. und die Lyrik[er] vom ,Prenzlauer Berg‘ im IV. Kapitel).
Wichtiger aber noch als die Erforschung der literarischen Kommunikation ist nach Emmerich „eine Literaturgeschichte der DDR, die die Kategorie des Ästhetischen zum Fluchtpunkt macht“:

Denn es ist ja vor allem die schrittweise ästhetische Emanzipation der (besseren) Literatur, die ihre Qualität, ihre Würde, ihren Schulz vor Vereinnahmung und Instrumentalisierung ausmacht.196

In Anlehnung an Michel Foucaults in Die Ordnung der Dinge entwickelte Überlegungen meint er, daß die Ästhetisierung der Literatur sie „im emphathischen Sinne modern“ macht.‘197 Die Koppelung, die Foucault zwischen Macht und Diskurs vornimmt, läßt meines Erachtens die Gefahr entstehen, DDR-Literatur nach dem Grad, in dem sie ein „,Gegendiskurs‘ zum Leitdiskurs einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung in einer bestimmten gesellschaftlichen Epoche“ war, doch wieder in erster Linie politisch zu beurteilen, zwar nicht (mehr) in bezug auf die „oft fragwürdigen politischen Meinungen und weltanschaulichen Illusionen der Autoren“,198 sondern die Texte selber betreffend. Darüber hinaus läßt sie (vor)schnell eine Zweiteilung, um nicht zu sagen: Gegenüberstellung entstehen,199 die den „Leitdiskurs“ von vornherein als ein statisches, bestenfalls (zu) spät sich korrigierendes, übergeordnetes und anordnendes System auffaßt, von dem die – gute – Literatur sich abtrennt. Ich möchte mich auch deswegen dafür aussprechen, den ästhetischen Charakter der Literatur der DDR in ihrer kommunikativen Situation zu betrachten, d.h. also die beiden Vorschläge Emmerichs zu kombinieren, um so zu einer differenzierenden Darstellung eines literarischen Prozesses kommen zu können. Und auf noch einen wichtigen Aspekt muß in diesem Zusammenhang hingewiesen werden: Nicht jede Entfernung von einem – gegenüber der Literatur definierten – offiziellen Diskurs hat die von Emmerich gemeinte Ästhetisierung zur Folge. Vor allem hinsichtlich einer Bewertung der „Verweigerungshaltung [der] Szene-Künstler“200 vom Prenzlauer Berg scheint mir das eine nicht unwichtige Erwägung zu sein.
Sowohl Wolfgang Emmerich als auch Günter Erbe schreiben Ende der achtziger Jahre die Entwicklung der DDR-Literatur als eine Annäherung an die historische Moderne im Sinne von literarischer Emanzipation von politischen (Selbst-)Zwängen.201 Es ist hier nicht der Ort, auf die Unterschiede und Probleme der bei ihnen begegnenden ,Moderne‘-Begriffe einzugehen, sondern es soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß Emmerich seine Überlegungen weitgehend losgelöst von ihrem kommunikativen Zusammenhang betrachtet, während Erbe diesen einbezieht, jedoch in einer solchen Weise, daß der Literatur selber ein besonders geringer Platz eingeräumt ist. Für den für meine Untersuchung relevanten Zeitraum der „neueren DDR-Literatur“ werden von Günter Erbe keine literarischen Werke, sondern „[p]oetologische Selbstreflexionen von Schriftstellern im Kontext der Moderne“ vorgeführt.202 Volker Brauns Einstellung gegenüber der Moderne wird so vor allem dargelegt an Hand von Ausführungen aus dem Jahr 1971, in denen er „die sozialistische Poesie von der modernen polemisch ab[grenzt]“.203 Demgegenüber wird seine Position von Mitte der achtziger Jahre mittels seines „Rimbaud-Essays“ erläutert, der eine „Zwischenzone zwischen Eingreifenwollen und kunstvoller Inszenierung“ markiere204 und als „Kommentar zu dem 1987 erschienenen Gedichtband Langsamer knirschender Morgen“ verstanden wird.205 Nur, auf die (lyrischen) Texte Brauns, in die eine gewandelte Einstellung gegenüber der Moderne Eingang finden müßte, gehen Erbes Betrachtungen nicht ein, so daß die Art und Weise, wie Braun seine neuen Ansichten umsetzt, für die Literatur unerforscht bleibt.
Dagegen geht Erbe in bezug auf „[j]üngere Autoren“ auf Texte und Schreibweisen wohl ein, sich dabei vor allem auf Uwe Kolbe, Bert Papenfuß-Gorek und Sascha Anderson konzentrierend, um am Ende zu einer auch bei Emmerich begegnenden Einschätzung dieser ,jungen‘ Lyrik zu kommen:

Sie lösten sich vom offiziellen sozialistisch-realistischen Kunstbegriff – nicht, um der Kunst eine unmittelbar kritische gesellschaftliche Funktion zurückzugewinnen, sondern um sie, frei von politischen Zwecksetzungen, zur Selbstartikulation zu nutzen. […] Der Rückgriff auf avantgardistische Verfahrensweisen diente […] der Rückgewinnung von Kunstautonomie in einer Gesellschaft, die das avantgardistische Versprechen, Kunst und Leben bzw. Politik miteinander zu verbinden, durch Entmündigung des Künstlers diskreditiert hatte.206

Ähnlich Emmerich meint Erbe nach Bekanntwerden der Stasi-Mitarbeit Andersons und Schedlinskis, daß die Leistung der ,Szene‘ bestehen bleibt, versucht zu haben, „die unvermeidlichen Identitätsspannungen künstlerisch produktiv zu machen“, und daß sie damit „auf ihre Weise den Erosionsprozeß der DDR vorangetrieben“ habe.207 Eine so allgemeine Schlußfolgerung würde jedoch auf viele Nicht-Szene-Autoren der DDR genauso zutreffen.
Abgesehen davon, daß die literarischen Texte in Erbes Untersuchung nur einen geringen Stellenwert besitzen, halte ich auch die Trennung in Umgang mit Literatur einerseits und die betreffenden literarischen Werke anderseits in der Darstellung für nicht glücklich, weil so m.E. die eingebrachten oder unterbliebenen Leistungen einer ,Institution‘ wie der literarischen Kritik nicht ausreichend deutlich werden. In meinen Bedenken gegen Erbes Vorgehensweise hegt bereits die Begründung für meine Darstellung beschlossen, jeweils am konkreten Objekt kritisch-argumentativ auf vorliegende Einschätzungen aus Ost und West einzustehen. In einem solchen Sinne bietet diese Untersuchung anhand von vier ,Fallstudien‘ einen Ansatz, der Innovationsproblematik bei Lyrik und Literaturkritik in der DDR ab Mitte der sechziger Jahre beizukommen. Dabei geht es nicht um eine allgemein-philosophische Definition des Begriffs ,Innovation‘, sondern stellt ,neu‘ einen relativen Begriff dar, zu dessen Anwendung deswegen DDR-interne Entwicklungslinien beachtet werden.
In der Konsequenz bedeutet das, daß zunächst einmal ein Ausgangspunkt, eine Grundlage zur weiteren Betrachtung entwickelt werden muß. Angesichts vorhandener Studien wurden dafür die Ereignisse in der literarischen Kommunikation der Jahre 1966 und 1971 gewählt, als in öffentlichen Medien der DDR ,Streitgespräche‘ zum Thema ,neue‘ DDR-Lyrik bzw. DDR-Lyrik in einem allgemeineren Sinne geführt wurden, und zwar in Verbindung mit jeweils vorhandenen Vorstellungen von Rezeption. In der Diskussion des Jahres 1966 herrschte der Streitcharakter vor, 1971 wurde die Auseinandersetzung mehr zu einem Dialog. Interessant an beiden Debatten sind verschiedene Aspekte: Zum einen springen die Zeitpunkte, zu denen sie stattfanden, ins Auge. Das erstgenannte Jahr fiel in die Ulbrichtsche politik-ideologisch restriktive Phase die 1965 mit dem 11. Plenum ihren Höhepunkt erreichte. Es ist daran zu erinnern, daß dort nicht nur viele Kunstwerke (und Künstler) verboten wurden, sondern außerdem das Postulat einer Funktionalisierung der Kunst für politisch-propagandistische Zwecke erneuert wurde. Allerdings ist mit dieser politischen Situation nur ein Teil des gesellschaftlichen Hintergrunds gegeben, vor dem sich die Erste Lyrikdiskussion abspielte. Ein anderer Aspekt war die in den Jahren zuvor empfundene Entspannung des kulturellen Lebens, die u.a. in der ,Lyrikwelle‘ vom Anfang der sechziger Jahre zum Ausdruck gekommen war (darauf geht das II. Kapitel ein). Wichtig ist jedoch, daß eben diese beiden Komponenten zu den bestimmenden Modalitäten der stattfindenden Kontroverse gehörten. Ausmachbar sind dadurch ein gesteigertes Selbstbewußtsein bei den Teilnehmern auf der einen Seite gegenüber einer vehement restriktiven kulturpolitischen Frontstellung auf der anderen, um die Extreme zu markieren. Dabei verläuft die Trennlinie nicht einfach parallel mit der Zugehörigkeit zu den jeweiligen Professionen (Lyriker vs. Kritiker), wie es bis jetzt in der Forschung den Anschein hatte. Das I. Kapitel bietet deswegen eine differenzierende Analyse der verschiedenen Positionen, ausgehend von der These, daß die Erste Lyrikdiskussion vor allem in thematischer Hinsicht Weichen für die Zweite gestellt hat und diese deswegen ohne die Erste nicht zu beurteilen ist.
In der Ersten Lyrikdiskussion werden bereits bedeutende literaturkritische Neuansätze versucht, die eine ernsthafte Bemühung um den literarischen Text statt um die vorgeschriebene kulturpolitische Linie dokumentieren. Auch der Versuch zur Erweiterung des Regelkanons kommt nicht nur von seiten der Autoren. Derartige Erneuerungen können sich jedoch zu der Zeit nicht durchsetzen, und so wird die Auseinandersetzung im Jahr 1971 noch einmal aufgegriffen, – eindringlich und polemisch. In diesem Jahr kam Erich Honecker an die Macht (und blieb es bis zum Ende der DDR) und hatten sich die (kultur)politischen Konstellationen gewandelt. Außerdem war das Bewußtsein für notwendige Veränderungen im Umgang mit Literatur gewachsen. So entstand ein Klima, das es möglich machte, auf die in der Ersten Lyrikdiskussion letztendlich doch wieder tabuisierten Innovationen produktiv einzugehen, auch wenn die Debatte durch Frustration, und wohl auch der erwünschten Eindringlichkeit wegen, teilweise in ausgesprochen scharfer Weise geführt wurde. Da damals jedem in das literarische Leben der DDR Eingeweihten klar sein mußte, daß hiermit das ,Gespräch‘ von 1966 reaktiviert wurde, konnte auf Explizierung der Standpunkte in mancherlei Hinsicht verzichtet werden: man wußte, um was es ging.
So wird deutlich, daß die beiden Debatten in ihrer Kombination gelesen und analysiert werden müssen. Die Forschung hat bis jetzt lediglich die Zweite Lyrikdiskussion – wegen des Zusammenfallens mit dem Machtwechsel Ulbricht-Honecker als Neuanfang gesehen.
Beide Diskussionen fanden in öffentlichen Zeitschriften statt. Das als Studentenzeitschrift geltende Forum bezeichnete sich als „Organ des Zentralrats der FDJ. Zeitung für geistige Probleme der Jugend“. Insofern ist die Verlagerung des Streits 1971 auf die Zeitung der Akademie der Künste, Sinn und Form, schon als Indiz für die Absicht zu sehen, ihn nunmehr als eine Kontroverse um Kunst und weniger als eine um Politik zu führen.
In einem zusammenfassenden Überblick zu diesem Kapitel werden die angesprochenen Themen in bezug auf den literaturkritischen Umgang mit Lyrik und auf die lyrischen Texte selber punktuell aufgeführt. Dieser Konspekt bildet die literarisch-kommunikative Folie, auf der die folgenden lyrischen und literaturkritischen Vorgänge untersucht werden. Der Begriff ,literarische Kommunikation‘ ist in dieser Arbeit nur insofern synonym verwendet mit dem des ,kommunikativen Spannungsfelds‘, als er sich auf die Rezeption in der DDR bezieht.208 Zum ,kommunikativen Spannungsfeld‘ gehört darüber hinaus ebenso die Komponente der westlichen-Rezeption von in der DDR erschienenen lyrischen Texten. Rezeption meint in beiden Fällen die öffentliche Aufnahme der literarischen Werke durch professionelle Leser, die ihre „Verstehensakte“ in Form von „sich begrifflich äußernde[n]“ Berichten fixiert haben.209

An der Anthologiereihe Auswahl „Neue[r] Lyrik – Neue[r] Namen“ wird im II. Kapitel in erster Linie ein Innovationsanspruch untersucht und auf seine Berechtigung geprüft. Aussagen zu Einzelbänden erfolgen im Kontext der Reihenleistung, die ihrerseits in breiteren Zusammenhängen lyrischer und literaturkritischer Konstellationen betrachtet wird. Der Beginn der Anthologie vor der Ersten Lyrikdiskussion im Jahr 1963 und ihre kontinuierliche Weiterführung bis zum Ende der DDR machen es möglich, eine diachrone Sichtweise auf den behandelten Zeitraum an einem konkreten Gegenstand zu entwickeln. Möglichkeiten des ,Neuen‘ werden aus unterschiedlicher Perspektive in Erwägung gezogen und nachgeprüft. Eine Untersuchung, ob wissenschaftlich oder essayistisch, zur kompletten Reihe wurde bisher nicht durchgeführt.
Ausgehend von der Frage, welcher Anspruch mit dem Untertitel der Reihe, „Neue Lyrik – Neue Namen“, im Verlauf der Zeit erhoben wird, werden die Vorworte – als einzige Quelle, die für solcherart Informationen für nahe alle Bände verfügbar ist – analysiert. Die Rezensionen zu den einzelnen Bänden – vornehmlich aus der DDR, weil andere kaum existieren – kommentieren von einer zeitgenössischen Position aus manchmal das behauptete Konzept (des Bandes, selten der Reihe). Im ersten Abschnitt spielen sie deswegen vor allem in dieser Hinsicht eine Rolle, während sie im Teil danach die Funktion haben, ein Bild von der damaligen Einschätzung vom Verdienst des betreffenden Bandes auf dem Gebiet der – neuen – Lyrik zu bieten.
Innovative Momente in der Lyrikkritik, so lautet meine These, müßten sich an einem relativ ,stabilen‘ Gegenstand, wie ihn die Auswahl-Reihe durch ihre lange Existenz und den unveränderten (Unter-)Titel darzustellen versucht, besonders prägnant herausarbeiten lassen. Wenn sich bewahrheiten sollte, daß die Reihe neue Talente tatsächlich registriert, muß trotzdem angenommen werden, daß das lyrisch Innovative der betreffenden Autoren sich erst allmählich voll entfaltet. Das bedeutet, daß die Untersuchung der Reihe als Reihe ein Erkennen neuer literaturkritischer Beobachtungskriterien schon dadurch am ehesten garantieren müßte. Wenn der Neuwert einer Kritik sich z.B. darin erschöpft, neue Inhalte des lyrischen Objekts wiederzugeben, ist das vergleichsweise einfach an Hand von früheren Rezensionen festzustellen.
Unter dem Stichwort Repräsentativität wird unter verschiedenen Gesichtspunkten der Bedeutung der Lyrikreihe nachgegangen. Es stellt sich die Frage, ob die aufgenommenen Lyriker tatsächlich dichterische Anfänger sind. Sollte das nicht der Fall sein, wird jeweils nach anderen Gründen für die Einbeziehung in den betreffenden Band gesucht. Daran gekoppelt ist die Frage nach einer Repräsentativität des Bandes für eine allgemeine Lyrikentwicklung in der DDR. Mit anderen Worten: Sind an den vorgestellten Texten formale oder inhaltliche Eigenheiten zu bemerken, die zwischen Anfang der sechziger und Ende der achtziger Jahre in der literarischen Landschaft der DDR Veränderungen anzeigen? Im Zusammenhang mit diesem Aspekt und überleitend zum nächsten werden die Autoren, die Auswahl während ihrer Existenz vorgestellt hat, einer näheren Betrachtung unterzogen. Sie werden der ,Auswahl‘ anderer Anthologien vergleichend gegenübergestellt, um so aus meiner zeitlichen Distanz zu ermitteln, ob und – bei einer Bestätigung – worin sich die Auswahl-Auslese von den anderen unterscheidet. Alle in Auswahl begegnenden und sämtliche in die drei anderen Sammlungen aufgenommenen Autoren sind, um meine Aussagen besser überprüfbar zu machen und außerdem dem Leser einen leichteren Überblick zu ermöglichen, in alphabetischer Reihenfolge in eine lange Tabelle aufgenommen, die am Ende des Kapitels erscheint. Wie ich im II. Kapitel darlegen werde, hat es bisher keine die Gesamtzeit der DDR umfassende Anthologie gegeben. Daher kann ein derartiger Vergleich nur zu eingeschränkten Schlußfolgerungen Anlaß geben, die die Spezifika der betreffenden Sammlungen berücksichtigen. Es wird versucht, solche Eigentümlichkeiten darzulegen, wobei die relevanten entstehungsgeschichtlichen Umstände in die Darstellung einbezogen werden.
Für die siebziger und achtziger Jahre wird es am schwersten sein, durch Anthologie-Vergleich Einblick darin zu erhalten, ob bestimmte Autoren zu Recht oder zu Unrecht in Auswahl vertreten oder nicht beachtet sind. Zum Schluß wird deswegen versucht, zumindest anhand von Textuntersuchungen für diejenigen, die Gedichte in Auswahl publiziert haben, festzustellen, ob die aufgenommenen Texte für den betreffenden Lyriker typisch zu nennen sind. In Anbetracht des politisch-propagandistischen Beginns der Reihe ist zu vermuten, daß vor allem in bezug auf die jüngste Generation von einer Repräsentativität der Texte nicht die Rede sein wird. Sie war – so macht das IV. Kapitel deutlich – teilweise ideologisch umstritten. Deswegen reicht die Skala der Lyriker, von denen Gedichte näher betrachtet werden, von Christiane Grosz, über die es nie literaturkritische Meinungsverschiedenheiten gegeben hat, bis zu Rainer Schedlinski, der einen Aufnahmewandel erfuhr, der ihn vom diskurstheoretischen Ideologiekritiker der Vor,Wende‘-Zeit zum Stasi-Lyriker herabsetzte. Der abschließende Teil dieses Kapitels geht auf den vermuteten Sprungbrett-Charakter der Reihe zusammenfassend noch einmal ein.

Volker Braun gilt seit seinem Eintritt in die Literatur der DDR zu Beginn der sechziger Jahre in Ost und West als Exponent einer engagiert-sozialistischen Lyrik, die einen unverwechselbar eigenen Ton besitzt. Wenn auch die Eigenwilligkeit seines ,Sturm-und-Drang‘-Anfangs nicht bei allen professionellen Rezipienten auf Gegenliebe stieß (vgl. Hans Koch in der Ersten Lyrikdiskussion), so wurde Braun doch bald als lyrisches Talent anerkannt, – in der DDR, jedoch auch darüber hinaus.
Das III. Kapitel, das sich mit Texten dieses Lyrikers auseinandersetzt, basiert auf der These, daß die Berücksichtigung von Intertextualitätsmarkierungen in (lyrischen) Texten zu erweiterten Einsichten in die Textverhältnisse und damit zu vertieften interpretativen Aussagen führen kann. In seinen Band Training des aufrechten Gangs von 1979 hatte Braun den ersten Teil eines Zyklus mit dem Titel „Der Stoff zum Leben“ aufgenommen, dem bis 1990 zwei Fortsetzungen folgten, die dann zusammengefügt veröffentlicht wurden. Jedem Teil ist ein Motto vorangestellt. Das erste mit der Bezugnahme auf T.S. Eliots The Waste Land ließ bereits aufhorchen, wurde doch laut offizieller DDR-Auffassung in diesem Werk „der bürgerlichen Verzweiflung […] Ausdruck“ gegeben.210 Außerdem gehörte Eliot bis zu dem Zeitpunkt nicht zu den erkennbaren literarischen Bezugsfiguren Brauns. Die Forschung hat diese Traditionsverknüpfung jedoch bisher lediglich genutzt, um auf allgemeine Ähnlichkeiten in der Schreibart der beiden Autoren hinzuweisen, die mit Begriffen wie ,Stream of Consciousness‘ und ,Montage‘ abgedeckt schienen. Mit den beiden anderen Mottos greift Braun, so hat es den Anschein, eher eine akzeptierte Traditionslinie auf: Hölderlin und Walt Whitman. Doch überraschen hier die jeweils gewählten Zeilen durch Form bzw. Aussage bei genauerem Hinsehen ebenfalls.
Meine Untersuchung geht von der These aus, daß das Motto als Markierung einer weitergehenden Nähe zwischen dem älteren und dem neuentstandenen Text fungiert, deren Charakter es nachzugehen gilt. Untersucht werden soll, ob die Stellung des Mottos vor dem ganzen Zyklusteil eine Beziehung zwischen ihm und dem Prätext für alle oder nur einige Gedichte des betreffenden Abschnitts suggeriert. Ausgangspunkt dafür bietet das von Ulrich Broich und Manfred Pfister entwickelte theoretische Intertextualitätskonzept,211 dessen Tragfähigkeit auf diese Weise in praxi einer Prüfung unterzogen wird. Die bei Broich vorkommenden anderen Intertextualitätsmarkierungen als das Motto werden ebenfalls in die Untersuchung einbezogen, um so herauszuarbeiten, was die Prätexte in bedeutungskonstituierender Hinsicht auf unterschiedlichen Ebenen in Volker Brauns neuem Text leisten. Die Ergebnisse des ersten Zyklusteils dienen der weiteren Erforschung als hypothetische Grundlage, um so Erneuerungen innerhalb des ganzen Zyklus entdecken zu können.
Im zweiten Teil ist die Mottomarkierung insofern komplizierter als im ersten, weil sie auf einen Entwurf Hölderlins hinweist, dessen Titel ebenfalls als Überschrift einer Elegie fungiert, die ihrerseits, mit einer Markierung versehen, im letzten Gedicht des Abschnitts von Braun zitiert wird. Diese Verquickung und der Umstand, daß andere Literaturwissenschaftler eine Erneuerung der Braunschen lyrischen Konzeption in gerade diesem Gedicht, ,Das innerste Afrika‘, realisiert sehen, sind Motiv dafür, diesen Text zum Ansatz einer näheren Betrachtung des zweiten Zyklusteils zu machen. Aus ähnlicher Überlegung steht eine analysierende Interpretation des ersten Gedichts des dritten Zyklusteils dort am Anfang: Andere Whitman-Texte, die markiert sind, lassen eine weiterreichende Verbindung zwischen Motto und Gedichttext vermuten.
Die Untersuchung richtet sich auf die Art und Weise der Verarbeitung von Texten, zu denen sich in Zusammenhang mit dem Mottogebrauch intertextuelle Verbindungen nachweisen lassen, die strukturelle oder inhaltliche Auswirkungen auf Brauns Gedichte haben. Diachron betrachtet, kann damit innerhalb der Lyrik eines anerkannten Lyrikers aus der DDR (die Tabelle am Ende des Auswahl-Kapitels zeigt z.B. seine Präsenz in allen angeführten Anthologien) aufgezeigt werden, welche Ausprägungen bei ihm im Verlauf des letzten Jahrzehnts Veränderungen erhalten. Außerdem zeigt sich so – synchron –, daß eine ästhetische Erneuerung literarischer Dispositionen nicht lediglich von jungen Lyrikern getragen wird, wie es eine weitverbreitete Auffassung will.

Die Lyrik dieser ,jungen‘ Lyriker, von denen die meisten allerdings unterdessen bereits um die Vierzig sind, bildet den Gegenstand des IV. Kapitels dieses Buches. Wo die Rezeption des Braunschen Zyklus, eine wohltuende, zwar relative Tendenz zur Orientierung an der Literarizität der Gedichte wahrnehmen läßt, war die Aufnahme der Lyrik von nach ihm geborenen Autoren bereits vor der ,Wende‘ in starkem Maße von ideologischen Prämissen bestimmt. Diese Tendenz hat sich nach 1990, mit der bekanntgewordenen Stasi-Mitarbeiterschaft einiger ihrer Vertreter, nicht gerade verringert. Die politisierte Rezeption eines Teils der Lyrikproduktion dieser Generation geht darauf zurück, daß sie in einem sozialen Umfeld entstand, das den Anspruch erhob, eine Sprache abseits des staatlichen Diskurses zu sprechen. Das alte Arbeiterviertel ,Prenzlauer Berg‘, zu DDR-Zeiten schon immer Wohngegend vieler Künstler, war zum Symbol einer ,Lebenshaltung‘ geworden, und diese Haltung wurde aufgefaßt als ein ,Aussteigen‘ aus der DDR-Gesellschaft. Durch fehlende oder unzureichende Publikationsmöglichkeiten in offiziellen Literaturzeitschriften oder Verlagen kam es Ende der siebziger Jahre zu der Produktion von nicht-offiziellen Zeitschriften und Künstlerbüchern, fanden in privaten Wohnungen literarische Lesungen statt. Das wurde vor allem in der westlichen Presse aufgefaßt als das „konsequente Nein zu einer Welt, die nur die Wahl zwischen selbstzerstörerischer Auflehnung und erstickender Anpassung läßt“, wie Uwe Wittstock zu Sascha Anderson meinte.212
Meine Konzentration auf die Gedichte von drei Autoren, Bert Papenfuß-Gorek, Uwe Kolbe und Sascha Anderson, die in der Kritik traditionell zum ,Prenzlauer Berg‘ gerechnet werden, findet ihre Begründung in erster Linie in dem von der Rezeption inner- bzw. außerhalb der DDR gefällten positiven Werturteil, das auf behaupteten innovativen Eigenschaften der Lyrik dieser Autoren basiert. Andersons Texte wurden in der DDR, abgesehen von kleinen, von mir erwähnten Ausnahmen, nicht in offiziellen Medien rezipiert. Seine anerkannte Tätigkeit als ,Organisator‘ des Prenzlauer Berg und die Hochschätzung seiner Lyrik in der westlichen Rezeption vor der ,Wende‘ waren Anlaß dafür, auch seine Texte und ihre Rezeption in diesem Kapitel zu untersuchen.
In der Einführung wird nicht nur eine Art ,Genealogie‘ des Begriffs ,Prenzlauer Berg‘ für die Literaturwissenschaft gegeben, sie versucht außerdem, den mit ihm verbundenen Beurteilungskriterien, die, so meine ich, sozial-politische, moralische und literarische Hintergründe in sich vereinen, auf die Spur zu kommen und diese kritisch auszuwerten. Mit dieser Problematik ist ebenfalls die Rezeption der Zeit nach der ,Wende‘ verbunden, die sich zum Teil im Rahmen des sogenannten deutsch-deutschen ,Literaturstreits‘ um den Wert der deutschen Nachkriegsliteratur( en) abspielt.
In bezug auf die Lyrik von Papenfuß-Gorek und Uwe Kolbe ist die Darstellung in eine Auseinandersetzung mit der Rezeption in der DDR und eine mit der kombinierten westlichen und ,postwendischen‘ aufgeteilt. Diese Entscheidung wurde nicht nur aus Gründen einer besseren Übersichtlichkeit getroffen, sondern dient vor allem auch dem Sichtbarmachen der Beurteilungsmaßstäbe bei unterschiedlichen Beobachtern. Für Anderson erfolgte eine Aufteilung lediglich in bezug auf den Vorschlag, seine Texte anders zu lesen, nachdem seine Mitarbeit für den Geheimdienst der DDR bekannt geworden war. Was diese Problematik betrifft, beziehe ich mich vornehmlich auf einen Artikel von Christine Cosentino, weil sie sich als Literaturwissenschaftlerin, die sich über lange Jahre mit Andersons Lyrik beschäftigt hat, diesem Thema mit vielen Textbezügen und unter Berücksichtigung anderer Kritiker widmet.
Die Subkapitel zu den einzelnen Autoren sollen Einblick bieten in die Eigenart ihres lyrischen Schaffens und in das ,kommunikative Spannungsfeld‘, das vor allem hinsichtlich dieser Lyrik die Betonung auf ,Spannung‘ erhält und weniger auf ,kommunikativ‘. Was die Rezeption in der DDR betrifft, soll deutlich gemacht werden, inwieweit sich die Bewertungsmaßstäbe – allgemein, aber auch auf einzelne Kritiker bezogen – von ideologischen Präskriptionen entfernt haben. Eine politisierte Aufnahme dieser Lyrik im Westen, so die Vermutung, wird in der DDR entweder zu einer ebenso politisierten Reaktion, nur unter anderem Vorzeichen, oder im Gegenteil zur Anerkennung ihres literarischen Wertes führen, um so eine Eingliederung in die akzeptierte Literatur zu bewirken.

2. Zur Methode

Vorliegende Untersuchung zur Lyrik der DDR und ihrem kommunikativen Spannungsfeld ab Mitte der sechziger Jahre basiert für ihre Methodik auf dem von Gerd Labroisse konzipierten Verfahren literaturwissenschaftlicher Interpretation. Gemäß dem ihm inhärenten – und hier zu erläuternden – Prinzip, will ich zunächst seine Überlegungen und daraus hervorgehenden Strategien in argumentativer Auseinandersetzung mit erhobener Kritik summarisch darlegen, bevor ich meine Entscheidung für diese Arbeitsweise expliziere.
Mit der Vorstellung seines auf DDR-Literatur gerichteten Interpretationskonzepts wollte Labroisse 1978 einer gängigen Ideologisierung im ost- wie westdeutschen literaturwissenschaftlichen und -kritischen Umgang mit Literatur aus der DDR entgegenwirken. Er wollte „von der ,Aufnahme‘ eines Werkes in der DDR ausgeh[en], um durch direktes Konkurrieren mit der realisierten Aussage-Leistung über Falsifizierungsversuche zu gegebenenfalls leistungstärkeren Aussagen zu gelangen“.213 Durch diese Verfahrensweise schien es ihm möglich, „die Arbeitsweisen von Literaturkritik/wissenschaft in ihrer Faktizität“ zu erfassen.214 Die Konzentration auf „einzelne Werk-Behandlungen“ nahm er deswegen vor, weil er sie als „bestimmbare und somit überprüfbare Untersuchungsobjekte“ betrachtete.215 Ein zweites, jedoch von Anfang an gleichgewichtiges Motivationsmoment liegt in der Ausrichtung auf die Verwissenschaftlichung von literaturinterpretativen Aussagen, für die Karl Poppers Überlegungen namentlich aus Objective Knowledge216 zuerst die wissenschaftstheoretische Basis darstellten. Wichtige Aspekte, die Labroisse für seine Parallelisierung des Popperschen ,Theorie‘-Begriffs zu „Interpretation/Interpretationsgefügen“ von ihm übernommen hat, sind die Praxis der „Falsifizierung“, die in Form von „Überbietung“ stattzufinden habe, und die „Bewährung“, unter der ein „konzentrierte[r] Bericht verstanden [wird], der den Stand der kritischen Diskussion der Interpretations-Gefüge bewertet bezüglich der von ihnen gelieferten Problemlösungen, des Grades ihrer Prüfbarkeit, der Strenge der durchgeführten Prüfungen und der Art, wie sie bestanden wurden“.217 Im vom individuellen Forscher präsentierten „Interpretations-Gefüge“ soll „für die wissenschaftliche Diskussion alles Material vorgelegt [werden], um eine bevorzugende Entscheidung treffen zu können, und zwar derart, daß man durch Angabe zu wissen bekommt, woraufhin man sich entscheidet, also auch der Anteil von ,Ideologie‘ bzw. Vorentscheidungen erkennbar ist“.218
In den jüngsten Darlegungen von Labroisse zum Problem der literaturwissenschaftlichen Interpretation werden die Anforderungen, denen die Neu-Interpretation219 in der Darstellung genügen sollte, expliziert:220 Als besonders wichtiges Element wird jetzt die „kritisch-argumentative“ Ausformulierung desjenigen hervorgehoben, was als „leistungsstärker“; als „progressive Problemverschiebung“ zu betrachten ist. Hinsichtlich des Begriffs des falsifizierenden „Überbietens“ dient jetzt Imre Lakatos’ „Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes“221 als Grundlage. „Überbieten“ wird nun folgendermaßen umschrieben:

Das falsifizierende Sich-Abheben des neuen Entwurfs von der Reihe der bereits vorliegenden Interpretationen (ggf. Rezeptionsmaterialien) ist dann ein Überbieten, wenn es beispielsweise

– offene Fragen der vorhergegangenen Interpretationen mehr oder weniger vollständig einlöst;

– Erklärungsschwierigkeiten in bezug auf Text/Werk-Elemente resp. -Verhältnisse reduziert oder auflöst;

– Lücken und/oder Unzulänglichkeiten im Erklärungssystem beseitigt;

– realisierte Aussagen einschließlich der Frage- und Problemstellungen im einzelnen, in den Begründungszusammenhängen, den Stellenwerten verdeutlicht, erweitert, vertieft;

– komplizierte Behandlungsweisen und/oder zugrunde liegende Annahmen durch Reduktion, Zuordnung oder erhöhte Transparenz vereinfacht.222

Der britische Germanist D.E. Jenkinson hat, indem er sich auf frühere Fassungen dieses Interpretationskonzepts bezog, einige Jahre vor dieser Publikation an der Labroisseschen Vorgehensweise kritisiert, daß sie (zu) wenig Raum lasse für gänzlich neue Sichtweisen auf bestehende literarische Texte bzw. für Erstinterpretationen von Texten. Zum Beweis wurden dessen „Überlegungen zu Dieter Nolls Roman Kippenberg“ herangezogen,223 von denen Jenkinson bedauert, daß

the whole magisterial Popperian apparatus has to be mobilised against such Aunt Sallies, that such a massive theoretical underpinning is necessary to justify an unprejudiced look at GDR literature.224

Im Zusammenhang damit warf Jenkinson dieser Interpretation „onesidedness“ vor, weil „it neglects aspects of the novel which its initial reception did not bring into focus“.225 Diesem von Jenkinson hinsichtlich der vorgestellten Methode verallgemeinerten Mangel226 begegnet Labroisse 1987 wie folgt:

Das mit dem Reihen-Ansatz angelegte Weiterentwickeln von Fragen/Problemen schließt Innovatives, schließt z.B. völlig neue Fragestellungen keineswegs aus. Doch auch das steht unter der Bedingung, überbietend aufzeigen zu müssen, wodurch es einen Erkenntnis-Fortschritt darstellt. – Selbst für extrem anders entworfene Interpretationen kann angenommen werden, daß sie relationierbar sind, schon wegen ihrer Sprachlichkeit an sich, doch vor allem wegen des gleichen Forschungsobjekt-Bezugs. […] Für den Fall der Erstinterpretation gilt, daß sie so vorzulegen ist, als wenn eine Reihe zur Abhebung bestünde.227

Selbstkritisch hinsichtlich der Kippenberg-Interpretation stellt er fest, daß die Ausrichtung auf bestimmte Aspekte des Romans stärker hätte untermauert werden müssen, wichtiger aber sei noch, daß die Darstellung in der Auseinandersetzung mit vorliegendem Rezeptionsmaterial „zwar falsifizierend, kritisch-argumentativ […], doch häufig nicht als Überbietung“ vorgebracht wurde; eine für die Überbietung erforderliche „problematisierte […] Eigenposition“ sei nicht verwortet.228 Damit ist zwar dieses Kritikmoment als dem Ansatz nicht grundsätzlich innewohnend entkräftet, jedoch folgender Bemerkung Jenkinsons noch nicht begegnet:

There is something very pedantic and unadventurous about the notion of directing one’s energies to the refutation of mediocre book reviews, and it is a very one-sided reading of Popper that fails to see that for him bold speculation is the real motor of scientific advance.229

Diese kritische Bemerkung berührt nicht nur die konkreten Umsetzungen des Konzepts,230 sondern wird in Verbindung gesehen mit der von Labroisse angeblich unberücksichtigt gelassenen maßgeblichen Popperschen Unterscheidung von ,Theorie‘ und ,Logik‘:

For Popper the methods by which discoveries are made are many and various; they are a matter of psychology rather than logic, but discoveries depend on logic for their status as objective knowledge. […] Logically, a ,theory‘ or ,problem‘ is always involved when a particular ,fact‘ is perceived as significant […]. But methodologicaliy there need be no articulate theory or interpretation before significant empirical observation can be made […].231

Die berühmt-berüchtigte Aussage Paul Feyerabends, „Anything goes“, als einziger „dem Fortschritt der Erkenntnis“ nicht im Wege stehenden Grundsatz, ist als Radikalisierung dieser Popperschen Auffassung zu sehen.232 Entgegen der öfter begegnenden trivialen Zitierung der Formulierung stellt Feyerabend sie durchaus in den Kontext von Erkenntnisfortschritt, allerdings viel weiträumiger, als nur auf Wissenschaft bezogen: Sie gilt für „Denker oder Politiker oder Künstler“ in gleicher Weise. Gegen ,allgemeine Grundsätze‘ richtet sie sich aus dem Grund, weil „jeder allgemeine Grundsatz […] seine Grenzen [hat], in manchen Fällen ist seine Anwendung dem Fortschritt der Erkenntnis (der Gesellschaft, der Kunst usw.) hinderlich statt förderlich“.233 Sein Plädoyer für „den theoretische[n] [Hervorhebung A. V.]“ bzw. „methodologische[n] Anarchismus“ oder auch „Dadaismus“ schreibt Erkenntnisleistungen in unterschiedlichen Bereichen nicht nur den gleichen Rang zu – wogegen, in Anbetracht der Komplexität der Wirklichkeit, kaum etwas einzuwenden ist –,234 sondern verneint praktisch ebenfalls jede Unterscheidung formaler (man könnte auch sagen: diskurstheoretischer) Art zwischen ihnen. Nun erhebt meine Arbeit keineswegs den Anspruch, sich in dergleichen wissenschaftstheoretische Diskussion(en) zu mischen, geschweige denn, Antworten auf dort erhobene Fragen zu bieten. Dieser Teil will denn auch lediglich die angewandte Verfahrensweise erläutern. Jedoch muß in diesem Kontext gegen Feyerabend vorgebracht werden, daß seine Verwischung divergenter ,Erkenntnisdisziplinen‘ zwar eine grundsätzliche Offenheit postuliert,235 auf gegen Beliebigkeit gerichtete philosophische oder praktische Lösungen aber verzichtet.
Entgegen Jenkinson sehe ich im Labroisseschen Konzept keineswegs eine Tabuisierung, sonder eher die prinzipielle Möglichkeit eingeschrieben, ,Entdeckungen‘236 zuzulassen, die auf außerhalb seiner Verfahrensweise liegende Weise zustande gekommen sind. Nur, und das ist m.E. entscheidend, für die Präsentation als wissenschaftliche Erkenntnis unterliegen sie bestimmten logisch-methodologischen Regeln, die ihnen den Charakter einer ,Theorie‘ (bei Labroisse Interpretation[sreihe]) zuerkennen. Auch für ,Entdeckungen‘, die auf zufällige Weise gemacht werden, gilt logisch und darstellungstechnisch, daß sie in eine Relation zu vorhandenen Interpretationen gesetzt werden müssen, um somit ihren wissenschaftlichen Wert erkennbar zu machen.237 Die Entscheidung, ob eine Interpretation den Status ,bewährt‘238 oder ,falsifiziert‘ erhält, wird von anderen vorgenommen, ist aber in erheblichem Maße abhängig „von der Art und Weise, wie ein Überbietungs-Anspruch sich vollzieht/realisiert, wie er sich über die Abhebungen überhaupt und im einzelnen erkennbar und abschätzbar zu machen versteht“.239
Daß Labroisse nicht-wissenschaftliche Aussagen zu literarischen Texten von der argumentativen Auseinandersetzung keineswegs ausschließt – sie vielmehr anfangs sogar als für diese notwendig betrachtete –, heißt, daß er ihnen Erkenntniswert nicht abspricht und sie deswegen ernst nimmt. In bezug auf wissenschaftliche Interpretationen haben seine Überlegungen nicht zur Folge, daß er, wie Elrud Ibsch 1982 behauptet, „keine Interpretationstypen“ unterscheiden würde, demzufolge sie der Meinung ist, daß „die Konzeption seiner Geltungsbereiche den Eindruck erweckt, Allgemeingültigkeit zu beanspruchen“.240 Nur, und das macht die ,Strenge‘ seines Ansatzes aus, auch anders geartete Interpretationen stehen „unter der Bedingung, überbietend aufzeigen zu müssen, wodurch [sie] einen Erkenntnis-Fortschritt darstell[en]“.241 Das hat zur Folge, daß ,Entdeckungen‘, die innerhalb eines „naiven“ (Labroisse) oder ,assimilierenden‘ (Ibsch) Interpretationstypus gemacht sind, durchaus in ein (wissenschaftliches) „Interpretations-Gefüge“ aufgenommen werden können, doch müssen dazu ihre „Erkenntnis-Leistungen“ nach den bereits dargelegten Regeln in „ein methodisch vorgehendes, auf Überprüfbarkeit ausgerichtetes System von Erklärungen“242 einbezogen werden. Der Bezug auf Lakatos’ „raffinierte[n] Falsifikationismus“ statt auf den „naiven“ von Popper hat zur Folge, daß der grundsätzlich provisorische Charakter jeder Interpretation hervorgehoben wird, indem nämlich vorliegende und bereits falsifizierte/überbotene Aussagen zu jeder Zeit – durch Neu-Interpretationen – als „unterschiedlich einsetzbare Falsifikatoren“ gebraucht werden können.243
Daß Labroisse in seinen methodologischen Bestrebungen keineswegs eine isolierte Position einnimmt, zeigen die Überlegungen von Umberto Eco aus den letzten Jahren, die er in Aufsätzen zum Ausdruck gebracht und in seinem Buch Die Grenzen der Interpretation gesammelt hat.244 Der Unterschied zu Labroisse liegt vor allem darin, daß er zwar wiederholt betont, daß der Interpretation von – literarischen – Texten Grenzen gesetzt sind, jedoch kaum wie, geschweige denn, daß deutlich wird, was die Kritierien sind, die eine ,richtige‘ Interpretation ausmachen. Eco legt besonderen Nachdruck auf die „inientio operis“, auf deren Suche sich eine „kritische Interpretation“ machen müsse.245 Der Text erscheint bei ihm als „Parameter seiner Interpretationen“:246

Zwischen der geheimnisvollen Geschichte der Hervorbringung eines Textes und der unkontrollierbaren Abdrift seiner zukünftigen Interpretation ist der Text als Text eine beruhigende Gegenwart, ein Parameter, an den man sich halten kann.247

Das liest sich so, als vertrete Eco auf einmal die Ansicht, daß das literarische Kunstwerk nur eine, ihm eingeschriebene, Bedeutung, nur einen Sinn zulassen würde. Das wäre für den Autor des Offenen Kunstwerks ein erstaunlicher Schritt,248 der so denn auch nicht identifizierbar ist:

Ich verfechte den Standpunkt, daß es ein Verfahren gibt, einen künstlerischen Text mit ästhetischer Zielsetzung als (wenngleich konjekturalen und revidierbaren) Parameter seiner Interpretationen zu analysieren […].249

Ebenfalls unter Berufung auf Karl Popper meint Eco, „[…] eine Aussage wie Ich finde in diesem bestimmten Text diese bestimme Relevanz durch eine Untersuchung des Textes als verrückt beurteilt werden [kann]“.250 Bei dieser Beurteilung spielt, so Beo, der „Gegenstand in seiner asemiosischen Stofflichkeit“ eine ,kontrollierende‘ Rolle sowie auch das außertextuelle ,Wissen‘ um „die kulturellen Konventionen in deren Licht es den Gegenstand sprechen läßt“.251
Anders als Labroisse kommt Eco zu der Schlußfolgerung, daß es in den Humanwissenschaften, im Unterschied zu den Naturwissenschaften eine Falsifizierung nicht geben kann. Ihre Unmöglichkeit liege in dem „hermeneutische[n] Zirkel“ begründet, in dem Umstand,

daß einerseits die Idiolekt-Vermutung die Interpretationen kontrolliert und andrerseits die Interpretationen die Idiolekt-Vermutung kontrollieren, während bei der wissenschaftlichen Theorie die (hinsichtlich ihrer Autonomie übrigens sehr zweifelhaften) Protokollsätze eine Falsifizierung zu erlauben scheinen.252

Hier macht sich bemerkbar, daß Eco sich, was den Begriff des Falsifizierens betrifft, lediglich auf Popper bezieht, bietet doch Lakatos’ im ,raffinierten Falsifizieren‘253 enthaltene Forderung, daß eine „wissenschaftliche Theorie [hier Interpretation, A. V.] […] zusammen mit ihren Vorgängern beurteilt werden muß, damit wir sehen, welche Art von Veränderung sie hervorgebracht hat“, eine Verlagerung der ‑ „Kontrolle“ (Beo) auf ,andere‘, spätere Instanzen.254 Insofern hat die Falsifikation „einen historischen Charakter“:255Es gibt keine Falsifikation vor dem Auftauchen einer besseren Theorie [Hervorhebungen im Original, A. V.]“.256 So bedeutet ,falsifizieren‘ bei Lakatos nicht ,eliminieren‘ in Popperschem Sinne. Und damit ist ein wichtiger Aspekt berührt, den Labroisse ebenfalls, wie bereits erwähnt, hervorhebt: Eine ,falsifizierte‘ Theorie kann, reformuliert, zu einer ,neuen‘ werden, die in die Theorie-Reihe aufgenommen werden kann und damit potentiell ,progressiv‘ ist. Warum legt Eco nur die Relation inientio operis – Interpretation (es sei zugegeben, eingebettet in verschiedene Kontexte)257 und macht nicht den letzten Schritt zur Verbindung unterschiedlicher Interpretationen?
Dafür scheint es zwei Gründe zu geben. Der erste wurde bereits angedeutet und liegt in einem von ihm behaupteten Mangel an Prüfungsmöglichkeiten. Dem wäre mit der Anwendung des Lakatos-Modells begegnet. Ein zweiter Grund liegt in dem Charakter des Kunstwerks selber, den er beibehalten möchte:

Ist die Divinia Commedia ein interessanter Gegenstand, so ist sie es ebendeshalb, weil sie ein Gegenstand ist, der zwei unterschiedliche Interpretationen hervorbringen kann.258

Eco unterstreicht den Wert der intentio operis als eine Instanz, die – selbstagierend? – mehrere ,richtige‘ Interpretationen zu stützen vermag und andererseits auch die ,falschen‘ zu entlarven imstande ist. Indes gerät eins bei ihm in Vergessenheit: die Unterscheidungen werden jeweils von Lesern/Interpreten gemacht und formuliert. Ihre Berufung auf die Beschaffenheit des „stofflichen Gegenstand[es]“,259 wird ebenfalls erst in der interpretativen Ausformulierung einsetzbar.
Labroisse macht keine Aussagen zum Kunstcharakter von Literatur. D.h. er spricht nicht aus, ob er meint, daß ein literarisches Werk mehrere ,richtige‘ Interpretationen zulassen könnte (und dann meine ich das nicht zeitweilig, bis eine Falsifikation durch eine dritte stattgefunden hat, sondern prinzipiell). Mir scheint der Fall nicht wesentlich problematisch: Ausgangspunkt ist, daß jede Interpretation irgendwann falsifiziert wird. Bis zu dem Zeitpunkt können verschiedene nebeneinander belassen werden. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß die Falsifikation auch wieder durch mehrere „Explikation[en] des Textverständnisses“,260 geschieht. Aber auch im Falle eines strukturell-semantisch mehrdeutigen Werkes bleibt die Forderung nach einer kritisch-argumentativ sich abhebenden Explikation dieser Polysemie uneingeschränkt erhalten. Ziel der interpretativen Bemühungen kann niemals die Wahrheit in abstrakt-philosophischem Sinne sein, sondern es geht um ein „kumulatives Wachstum“ von Erkenntnis.261 Davon auszugehen, daß die Divina Commedia, um bei Ecos Beispiel zu bleiben, mehrere ,richtige‘ Werkinterpretationen zulassen würde, ist allerdings unwahrscheinlich. Es wird sich vielmehr um Aspekte handeln, die verschieden zu deuten sind, während ihre ,Begleitkomponenten‘ derart grundverschiedene Erklärungen nicht ergeben. Mein Vorschlag, die Inkommensurabilität in den betreffenden Fällen freizulegen statt zu verdecken, ist in Übereinstimmung mit Wolfgang Welschs Auffassung vom Umgang mit diesem Problemkreis. Er besinnt sich auf den mathematischen Ursprung des Begriffs Inkommensurabilität, um so konkludieren zu können, daß die dort angedeutete „Verschiedenheit […] präzis darstellbar [ist]“. Verallgemeinernd auf andere Wissenschaftsbereiche übertragen, bedeutet das:

Die Inkommensurabilität betrifft immer nur ein bestimmtes Prinzip der jeweiligen Phänomengruppen – jenseits davon mögen sie etliches gemeinsam haben. Aber in diesem einen Punkt haben sie nichts gemeinsam, und dies zu verkennen ist geradeso falsch wie nur noch dies zu sehen und die sonstigen Übereinstimmungen zu ignorieren. Die Rede von Inkommensurabilität ist mit hochgradigen Spezifikationsauflagen zu versehen. Totalisierungen der Inkommensurabilitäts- oder Kommensurabilitäts-Gesichtspunkte sind hier das proton pseudos.262

Meines Erachtens ist es problematisch und nicht konsequent, auf der einen Seite, wie es Eco macht, auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen ,richtigen‘ und ,falschen‘ Interpretationen zu bestehen und sich auf der anderen Seite nicht für eine Methode einzusetzen, die diese Entscheidung möglich, ja notwendig macht, bei gleichzeitiger Betonung ihrer Relativität (sichtbar in der inhärenten Vorläufigkeit und – auf anderer Ebene – in den artikulierten Geltungsansprüchen), wie es Labroisses Konzept macht.
Vergleichsweise von untergeordnetem Gewicht ist die Schwierigkeit, die nach meiner Meinung in dem von Letztgenanntem verwendeten Begriff ,Überbieten‘ liegt. Lakatos benutzt lediglich die Termini ,Falsifikation‘ und ,Bewährung‘; Entscheidungen über die mit ihnen verbundenen Konsequenzen (verwerfen oder annehmen einer Theorie) werden jeweils von anderen getroffen. Der Überbietungsbegriff weckt zumindest den Eindruck, sie vorzuverlegen auf den individuellen Interpreten. Daß dieser Schritt nicht beabsichtigt ist, macht zwar folgende Erklärung deutlich: „Bei diesem Verfahren werden die bisherigen Erkenntnisleistungen zwar mit der neuen Interpretation überboten (als Anspruch, gegebenenfalls durch Bewährung [Hervorhebung A. V.])“,263 doch ist dann unklar, warum der Überbietungsbegriff eingesetzt wird. Wenn mit ihm lediglich der erhobene Anspruch in der Ausformulierung des ,Mehrwerts‘ gemeint ist, bezieht er sich auf die Aspekte, die eine Interpretation als Falsifikation einer neuen erscheinen lassen.264 Einer davon ist die ,Bewährung‘, und so ist es nicht möglich, sie gleichwertig neben ,Anspruch‘ zu stellen, erfolgt sie doch auf einer anderen Ebene. Deswegen meine ich, daß es weniger mißverständlich wäre, in bezug auf die Formulierung behaupteter Erkenntnisleistung(en) einer Interpretation statt von Überbietungs-Anspruch von Falsifizierungs-Anspruch zu reden.

Bei allen Vorzügen, die ich sehe, möchte ich keineswegs behaupten, daß mit der Kombination Labroisse-Lakatos das Interpretationsparadies erreicht ist. Die wissenschaftliche literarische Interpretation besitzt weiterhin durchaus problematische Seiten, die vornehmlich aus dem sprachlichen Charakter ihres Objekts und dem Umstand, daß die Interpretationssprache sich von ihr nicht freimachen kann, hervorgehen. Im folgenden will ich kurz motivieren, warum das von Labroisse vorgeschlagene Konzept als Basis dient für die in diesem Buch vorgestellten Untersuchungen.
Die skizzierte prinzipielle Offenheit des Verfahrens bildete einen wichtigen Grund für die Entscheidung, es hier einzusetzen. Die explizit kritisch-argumentativ abhebende, mit Falsifizierungsanspruch vorgelegte Darstellung mag manchmal dazu führen, daß der Leser nicht immer sofort erkennt, daß die interpretativen Aussagen sich als vorläufige verstehen, von denen lediglich – ich würde jedoch behaupten, daß das vergleichsweise viel ist – angegeben wird, auf Grund von welchen Überlegungen und Argumenten gemeint ist, daß sie in Ausrichtung auf den Text leistungsstärker sind, d.h. zu „Erkenntnisfortschritt“265 führen. Die Offenheit des Ansatzes zeigt sich in zwei Richtungen: zum ersten in der Aufnahme auch „extrem anders entworfene[r] Interpretationen“ in die eigene Argumentierung, zum anderen in dem vorausgesetzten Verständnis der Eigeninterpretation als notwendig vorläufig. Je expliziter und deutlicher jedoch die Abhebung von anderen erfolgt, desto wahrscheinlicher ist es, daß der Falsifikationsanspruch sich tatsächlich realisiert – daß ein Teil des Interpretationgehalts bewährt wird – und nicht sofort selber wieder der Falsifikation anheimfällt.
Der ,historischen Determiniertheit‘ von „Sinn“ und seinem „unbegrenzte[n] Kontext“, die der von Derridas philosophischer dekonstruktivistischen Praxis „abgeleitet[en]“266 dekonstruktivistischen Literaturkritik Jonathan Cullers zugrunde liegt,267 wird der historische Charakter des vorgeschlagenen Ansatzes gerecht, der „Sinn“ eben auch nicht „eindeutig definieren möchte“,268 wohl aber möglichst deutlich. Das Verfahren stellt, wie die Dekonstruktion, eine „Lektüre [eines] Textes im Kontext seiner Interpretationen“ dar,269 nur unter unterschiedlichen Bedingungen. Auch Culler muß feststellen:

Die Lektüre, die beansprucht, eine frühere Interpretation zu korrigieren, ist auch nur eine Lektüre unter anderen. Aber manchmal möchten wir doch für eine bestimmte Lektüre einen privilegierten Status beanspruchen, der es ihr ermöglicht, den Erfolg oder Mißerfolg anderer Lektüren zu beurteilen.270

Möglich werde das dadurch, daß sie in einer „historischen Situation“ stattfindet, „die zum Teil durch frühere Lektüren konstituiert wird“:

und sie arbeitet durch Einrahmung oder Situierung dieser Lektüren, deren Blindheit oder Einsicht sie so vielleicht zu beurteilen in der Lage ist. Gelungene Lektüren sind oft in der Lage, mit Hilfe des Textes aufzuzeigen, wo frühere Lektüren fehlgingen, und Aussagen über ihre Begrenztheit oder über ihr Verhältnis zu Theorie und Praxis zu machen.271

Wie bei Eco fragt sich auch hier, warum daraus nicht die Konsequenz gezogen wird mit der Einforderung einer kontrollierbaren Darstellung der Interpretationsleistung. Es ist dieser Verzicht, der der literaturkritischen Dekonstruktion den Vorwurf, sie mache den Text „zum bloßen Stimulus für die Willkür der Interpretationen“,272 einhandelt.273 Mehr noch als Feststellungen wie die, daß „die ernsthafte Sprache ein Sonderfall der nicht-ernsthaften ist, […] Wahrheiten Fiktionen sind, deren Fiktionalität in Vergessenheit geriet“, und folglich „die Literatur keine abweichende, parasitäre Form der Sprache“ sei.274
Neben der Offenheit und noch abgesehen von der bewiesenen Leistungsfähigkeit des Falsifizierungsverfahrens ist es eben die von ihm gebotene Kontrollierbarkeit der (Leistung der) Aussagen, die seine Attraktivität bestimmt und es positiv von anderen Methoden/Arbeitsweisen unterscheidet.
Letztes Argument, aber keineswegs das unwichtigste, ist die Textorientierung unter Berücksichtigung der rezeptionellen Situation(en) des von Labroisse konzipierten Ansatzes. In vorliegendem Falle bedeutet das die Einbeziehung der DDR- sowie der westlichen (zumeist bundesdeutschen) Rezeptionssituationen. Dieser Punkt läßt sich von dem der Überprüfbarkeit eigentlich gar nicht trennen, ist diese doch u.a. durch die Kontextualierung bedingt.
In den Kapiteln I–IV sollen die hier vorgeführten methodischen Überlegungen zum Ausgangspunkt für zu leistende Aussagen in bezug auf das Forschungsthema „Innovationen in Lyrik und Literaturkritik der DDR“ gemacht werden. Der Begriff „kommunikative[s] Spannungsfeld“ bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Lyrik und Literaturkritik in der DDR sowie auf die Übereinstimmungen und Differenzen, die sich aus der Gegenüberstellung der öst- und westlichen Beobachtungen ergeben. In diesem interpretativen ,Spiegelsaal‘
275 werden Einschätzungsmechanismen vorgeführt, analysiert und an Texten geprüft, um daraufhin Eigeninterpretationen darbieten zu können, die somit, in eine ,Reihe‘ gestellt, abschätzbar werden.276

 

Inhalt

– Vorwort

Einleitung

1. Zum Thema
2. Zur Methode

 

I. Kapitel. Die Lyrikdiskussionen der Jahre 1966 und 1971/1972 in ihren literarisch-kommunikativen Zusammenhängen

1. Einleitung

2. Die Erste Diskussion und ihre vorbereitende Wirkung für die Zweite
2.1. Die Extreme: Elke Erb und Hans Koch
2.2. Die Mittelpositionen: Dieter Schlenstedt und Dieter Schiller
2.3. Im Zentrum: Weltanschauung gegen Kunstanschauung

3. Die Zweite Lyrikdiskussion: Adolf Endler und ,gewisse‘ Germanisten
3.1. Der Auftakt
3.2. Endlers Vor-Würfe
3.3. Gegen-Reden, Mit-Reden und Weiter-Reden

4. Resümee

 

II. Kapitel. Die Lyrikreihe Auswahl – ein Sprungbrett für junge Talente in der DDR?

1. Einleitung

2. Die Ansprüche

3. Die Rezeption

4. Repräsentativität?
4.1. In bezug auf eine ,allgemeine‘ Lyrikentwicklung
4.2. Statistisch – im Vergleich
4.3. In bezug auf die Textauswahl einzelner Autoren

5. Fazit
Anhang

 

III. Kapitel. Das Ordnen des ,innersten Landes‘. Motto-Bezüge in Volker Brauns Zyklus Der Stoff zum Leben als eine Spezialform von Intertextualität

1. „Der Stoff zum Leben I“
1.1. Einleitung
1.2. Zum Intertextualitätsbegriff
1.3. Text und Prätext
1.4. Das Motto und die anderen Prätexte in SI

2. „Der Stoff zum Leben II“
2.2. Das Hölderlin-Motto
2.3. ,Das innerste Afrika‘
2.4. Die anderen Texte in SII im Bezug zum Motto

3. „Der Stoff zum Leben III“
3.1. Das Whitman-Motto in Verbindung zu SIII und dem Titel des Zyklus
3.2. Identifikation und – zersplitterte – Identität
3.3. Das Motto als Gegenstück

4. Konklusion

 

IV. Kapitel. Der Prenzlauer Berg als literarisches Sammelbecken oder Wie neu war die Lyrik der ,Jungen‘?

1. Einleitung

2. Exponenten der Lyrik vom Prenzlauer Berg: Bert Papenfuß-Gorek, Uwe Kolbe und Sascha Anderson – Gemeinsamkeiten und Kontraste
2.1. Bert Papenfuß-Gorek
2.1.1. Die Rezeption in der DDR
2.1.2. Die westliche und ,ost-post-wendische‘ Rezeption
2.2. Uwe Kolbe
2.2.1. Die Rezeption in der DDR
2.2.2. Die westliche Rezeption
2.3. Sascha Anderson
2.3.1. Einleitung
2.3.2. Die Rezeption vor der ,Wende‘
2.3.3. Eine Neu-Rezeption nach der ,Wende‘?

3. Fazit

4. Umsicht

– Epilog

– Bibliographie

– Namenregister

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00