Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Die Einsame“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Die Einsame“. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Die Einsame

Der Hof einer Schule, ein Hof, sonnig und schlicht,
rundum Häuschen, die Mauern bedeckt von Moosen,
eine Pappel reckt ihre gelben Äste ins Licht,
ein endloser Flur und ein Strauch voll von Rosen.

Die Zeit, die launische Wandlerin, kleidet sacht
in fahles Tuch der Dinge Schweigsamkeit,
hat alles traurig, lehmfarben traurig gemacht,
doch ist es eine lässige, schöne Traurigkeit.

Die Pappel in stolzer Erhabenheit reckt sich
und wiegt ihre Krone, golden und mächtig,
hoch über der sanften Trauer in der Luft.

Die Pappel, die alles am Boden verschmäht,
verschmäht auch den Strauch, der sie versteht,
und seiner letzten Rosen geheiligten Duft.

 

In diesem vornerudianischen Text

des jugendlichen Pablo, der im Chemieunterricht Verse schrieb, offenbart sich mir ein tiefes Gefühl für die Existenz als solche und seine Berufung zum Dichter, ein Gefühl, dem Neruda in seinem späteren Werk durch ein reichhaltiges schöpferisches Arsenal Ausdruck verleihen wird. Das Kind verfasste seine Gedichte in dem Dorf Temuco, im nassen, schlammigen Süden, wo es „monatelang, jahrelang“ regnete.
Der Junge, der in der dürftigen Atmosphäre der ländlichen Oberschule aufwächst, beschwert sich in einem seiner Verse mit autoritärer Selbstgewissheit, man erkenne ihn dort nicht als Dichter an. Wie jeder sensible Jugendliche ringt der Heranwachsende um ein strategisches Gleichgewicht zwischen dem, wofür er gehalten wird, und dem, wonach er strebt.
Für mich liegt in dieser Ambivalenz ein kindlicher Widerspruch. Die Pappel verkörpert den Willen, aus dieser kleinen Welt auszubrechen, den Wunsch nach Größe und die Sehnsucht nach dem Licht, das sie wachsen lässt. Der Dichter in seinem ungestümen Hochmut ist darin mit ihr einig.
Doch gleichzeitig bringt der junge Schüler Mitgefühl für die Dinge auf, die sanftmütig am Boden verharren: Dieser Rosenstock mit dem geheiligten Duft seiner letzten Blüten ist das Antlitz des Dichters, im Einklang mit seiner bescheidenen Welt zur Erde gesenkt.
Wunderbar, großartig, dass der kindliche Autor die grausame Arbeit der Zeit bereits erkannt hat, das Dahingehen, das Vergänglichkeit und Furcht erzeugt und unter fahlem Schleier eine lässige und schöne Traurigkeit spüren lässt.
Sein frühreifes Wissen um die Wunde der Zeit erklärt die Schwermut der Cuadernos de Temuco, in denen sich der Dichter mit dem Nimbus des Unbehagens umgibt und sich der Rhetorik eines lebenserfahrenen Greises bedient, obwohl er kaum sechzehn Jahre alt ist. Abgesehen von einigen unglücklichen Versen in diesem Frühwerk („Bittere Einsamkeit“, „Schmerz, der wie dauerhaft klingt“), ist die Wahrnehmung der Vergänglichkeit überwältigend.
In einem Epigramm, das ich vor zehn Jahren in Florenz geschrieben habe, schließe ich mich diesem Gefühl an: „Das Geheimnis der Poesie besteht darin, sich nach dem zu sehnen, was man hat.“

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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