Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an das Meer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an das Meer“ aus dem Band Pablo Neruda: Elementare Oden. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Ode an das Meer

Hier auf der Insel
das Meer,
und wie viel Meer
bricht hervor jeden Augenblick
aus sich selber,
o ja, sagt es, o ja,
o nein, o nein, o nein,
o ja, sagt es, im Blauen,
im Schaum, im Wogenritt,
o nein, sagt es, o nein.
Kann nicht ruhig verharren,
Meer heiße ich, wiederholt es,
gegen einen Felsen schlagend,
ohne ihn überzeugen zu können,
dann
mit sieben grünen Zungen,
sieben grünen Haien,
sieben grünen Tigern,
sieben grünen Meeren
umwogt es ihn, küsst ihn,
benetzt ihn
und schlägt,
seinen Namen wiederholend,
sich an die Brust.
O Meer, so nennst du dich,
Gefährte Ozean,
vergeude nicht Wasser und Zeit,
schüttle nicht so viel von dir ab,
hilf uns,
wir sind die winzigen
Fischer,
die Menschen der Küste,
wir leiden Hunger und Kälte,
du bist unser Feind,
triff uns nicht so hart,
brülle nicht dergestalt,
tu auf deinen grünen Schrein
und lass in unser
aller Händen
deine silberne Gabe,
den täglichen Fisch.

In jeder Hütte hier
lieben wir ihn,
sei er von Silber auch,
Kristall oder Mond,
für die ärmlichen Küchen
der Erde ward er geboren.
Bewahre ihn,
Geiziger, nicht,
der, ein feuchter Blitz,
unter den Wogen
hinschießt.
Nun, schick dich drein,
tu dich auf
und lass ihn frei
in der Nähe unserer Hände,
hilf uns, Ozean,
grüner, abgrundtiefer Vater,
die Erdenarmut
eines Tages zu enden.
Lass uns
ernten die Pflanzung,
die unendliche, deiner Leben,
deiner Saaten und Trauben,
deiner Stiere, deiner Metalle,
den feuchten Glanz
und die versunkene Frucht.
Vater Ozean, wir wissen lange schon,
wie du heißt, alle
Möwen verbreiten
deinen Namen an den Gestaden:
Nun, betrage dich gut,
schüttle deine Mähne nicht,
bedrohe keinen Menschen,
zerschmettere am Himmel nicht
dein herrliches Gebiss,
höre auf mit den ruhmvollen Geschichten
für einen Augenblick,
gib jedem von uns Männern,
jedem
Weib und jedem Kind
einen großen oder kleinen Fisch
an jedem Tag.
Fisch auszuteilen,
geh hinaus auf alle Straßen
der Welt,
und dann
rufe laut,
rufe laut,
dass die Armen dich hören,
alle, die ihre Arbeit verrichten
und sagen,
den Kopf aus der Grube
streckend:
„Dort naht,
Fisch verteilend,
das uralte Meer.“
Und dann kehren sie nach unten zurück,
lächelnd in der Finsternis,
und in Straßen
und Wäldern
lächeln die Menschen
und die Erde
ein meerhaftes Lächeln.
Aber,
so du es nicht willst,
so du es nicht magst,
warte,
warte auf uns,
wir werden nachdenken,
vornehmlich aber wollen wir
die menschlichen Fragen
lösen,
die wichtigsten zuerst,
die übrigen später,
und dann
werden wir uns mit dir befassen,
werden die Wogen wir mähen,
mit Messern aus Feuer,
auf elektrischem Ross
werden wir die Schaumhürden nehmen,
singend,
bis wir den Grund deines Innern
berühren,
werden wir untertauchen,
atomares Garn
wird deine Hüfte umhüten,
in deinem abgründigen Garten
werden Gewächse
wir pflanzen
von Stahl und Zement,
werden wir
Hände und Füße dir binden,
auf deiner Haut werden die Menschen,
Blitze schleudernd, lustwandeln,
über deine Haut werden
spuckend die Menschen spazieren,
Traubengebilde ernten,
Fischereigeräte errichten,
dich zügeln und auf dir reiten,
deine Seele bezwingend.
Dieses aber wird geschehen, wenn
die Menschen
geregelt haben
unser Problem,
das große,
das große Problem.
Alles werden wir ordnen,
nach und nach:
Dich, Meer, werden verpflichten wir,
dich, Erde, werden verpflichten wir,
Wunder zu vollbringen,
denn in uns selber,
im Kampf
sind beschlossen Fisch und Brot,
ist das Wunder.

 

Auf den ersten Seiten dieses Buches,

wo ich mich mit dem Rhythmus und der Ironie von Mit brennender Geduld befasse, bin ich bereits ausführlich auf die Beziehung meiner Hauptfiguren zu diesem Gedicht eingegangen.
Hier geht es mir jetzt um einen anderen Aspekt. Über dem Schauspiel des mächtigen, epischen, turbulenten Meeres senkt der Dichter zunächst die Stimme zum Gebetston, um dem Ozean die Wünsche und Nöte der Fischer mitzuteilen.
Vom gewaltigen Rumoren des Meeres kommt er zum Fisch. Indem er auf den Fisch weist, zeigt er uns, wie der Ozean ist. Neruda ist so durchdrungen von seiner Trias Gesang/Natur/Volk, dass seine Poesie mit der Natur umgeht und verhandelt und wie im Vaterunser einen begünstigenden Einfluss auf den Ertrag nehmen will, um dem Hunger der Fischer abzuhelfen.
Noch überraschender aber ist die ausholende Gebärde, mit der er dem wilden Ungeheuer aus Wasser anschließend unverblümt die Ausbeutung seiner Schätze androht und sich dafür eines Vokabulars bedient, mit dem er sonst vorzugsweise die kommunistische Utopie feiert.
Der „tägliche Fisch“ erinnert an das altbekannte Gebet, doch hat die Drohung für den Fall, dass der Ozean die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllt, eine ganz andere Klangfarbe: Sie klingt rot.
Sobald das vorrangige Problem gelöst, die Arbeiterschaft geeint und an der Macht wäre, würde eine Lawine technischen Fortschritts ins Rollen gebracht, um die Natur zu rationalisieren und in den Dienst des Menschen zu stellen. Im Übrigen hat diese Konklusion im Stil eines sozialistischen Fünfjahresplans etwas Hochmütiges, und auch die Wortwahl ist stellenweise beunruhigend, wenn sie von der unerbittlichen Anmaßung eines Menschen kündet, der Herr über seine Utopien ist.
Trotz des offenkundig spielerischen Charakters kommt in diesem Gedicht die gesamte Batterie kommunistischer Zukunftsvisionen zum Einsatz, denn es spricht von der absoluten Macht des organisierten Volkes: Die Menschen werden auf die Haut des Meeres spucken, sie werden es reiten und zügeln, seine Seele bezwingen, ihm atomares Garn um die Hüfte winden.
In Unschuld und um der verspielten Assoziation der Bilder willen geschrieben, haben diese Verse ihren Charme.
Gelesen vor dem realen Hintergrund der Militäraktionen, der Messer aus Feuer, der elektrischen Rösser, des Stahls und Zements, des Fortschritts und der Unterdrückung, hat das Gedicht einen besorgniserregenden Unterton.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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