Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Walking around“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Walking around“ aus dem Band Pablo Neruda: Aufenthalt auf Erden. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Walking around

Es kommt vor, dass ich müde bin, Mensch zu sein.
Es kommt vor, dass ich in die Schneiderstuben, in die Kinos gehe,
schlapp und undurchdringlich wie ein Schwan aus Filz,
der in einem Gewässer aus Ursprung und Asche schwimmt.

Der Geruch der Frisiersalons lässt mich laut aufweinen.
Ich begehre einzig eine Ruhe wie Stein oder Wolle,
ich mag keine Geschäfte mehr noch Gärten sehen,
keine Waren, weder Brillen noch Fahrstühle.

Es kommt vor, dass ich meiner Füße und Nägel überdrüssig bin
und meines Haares und meines Schattens.
Es kommt vor, dass ich müde bin, Mensch zu sein.

Und dennoch wäre es herrlich,
einen Notar mit einer ausgerauften Lilie zu erschrecken
oder eine Nonne mit einer Ohrfeige umzubringen.
Es wäre schön,
mit grünem Messer durch die Straßen zu laufen
und Schreie auszustoßen, bis man vor Kälte tot umfällt.

Ich mag nicht mehr Wurzel sein in der Finsternis,
schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schlaf,
abwärts immer ins nasse Eingeweid der Erde,
saugend und sinnend, essend Tag um Tag.

Ich mag so viel Unheil nicht für mich.
Ich mag nicht weiter Wurzel sein und Grab,
verlassener Schacht, Kellergewölbe voll von Toten,
kältestarr und vor Leid zugrunde gehend.

Darum flammt, so er mich kommen sieht
mit meinem Kerkergesicht, der Montag wie Erdöl auf,
und in seinem Ablauf heult er wie ein wundes Rad
und macht Schritte heißen Bluts der Nacht entgegen.

Und er treibt in manche Winkel mich, in manche feuchte Hausung,
in Spitäler, wo die Knochen aus den Fenstern herauskommen,
in manche Schusterstube, die nach Essig riecht,
in Straßen, schrecklich wie Schlünde der Erde.

Schwefelfarbene Vögel gibt es mit grässlichem Gedärm,
die an den Türen der Häuser hängen, die ich hasse,
Gebisse gibt es, die man in einer Kaffeekanne vergaß,
Spiegel, die hätten weinen sollen vor Scham und Entsetzen,
Schirme gibt es allerorts und Gifte und Nabel.

Und ich, ich schlendere gelassen umher, mit Augen, Schuhen,
Wut, Vergessen,
ich geh vorüber, durchschreite Amtsstuben und orthopädische Läden
und Höfe, wo an einem Draht Wäsche hängt:
Beinkleider, Handtücher und Hemden, die langsame
schmutzige Tränen weinen.

 

Dies ist der wundervolle Striptease

einer Seele in Bedrängnis, ein Juwel, das, treffsicher wie sonst nur Chaplins Moderne Zeiten, die Last des Daseins mit der giftigen Gesellschaftsdynamik von Routine und Verfall verbindet. Die Landschaft ist bar jeder Menschlichkeit, und nur spielerische Extravaganz vermag eine von Sinnlosigkeit zerfressene Existenz zu beleben. Der schöne Körper verrottet, und seine Teile bilden keine vitale Einheit mehr; der Mensch wird zu einem peinlichen Sammelsurium aus lächerlichen Prothesen und Unterwäsche.
Der Ton erinnert an The Waste Land von T.S. Eliot.
Es ist der heiße, verzweifelte Wunsch, dem Schatten zu entfliehen, der erst viel später in Nerudas Dichtung lauter werden wird. Noch ist alles von der Sehnsucht beherrscht, den Kreislauf aus Tod und düsteren Wurzeln zu durchbrechen, von denen sich die lichte Existenz bedrängt sieht.
Die Anzeichen für Unheil und Niedergang – „Gebisse, die man in einer Kaffeekanne vergaß“ – werden zornig aufgezählt, und das alltägliche Grauen schlägt sich auf drastische Weise in der angewiderten Aussage zu Beginn nieder: „Es kommt vor, dass ich müde bin, Mensch zu sein.“
Die pathetisch-konkreten Bilder, deren Beklommenheit ansteckend wirkt, machen aus „Walking around“ eine ruhmlose Hymne an den Menschen unserer Zeit.
Ein schönes, ungewöhnliches, tiefgründiges, originelles Gedicht, das kaum an Aktualität verlieren dürfte, solange unsere Welt immer komplizierter wird.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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