Brigitte Kronauer: Zu Jesse Thoors Gedicht „In einem Haus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jesse Thoors Gedicht „In einem Haus“ aus Jesse Thoor: Das Werk. Sonette, Lieder, Erzählungen. –

 

 

 

 

JESSE THOOR

In einem Haus

In einem Haus, auf feinem Tannenreiser,
sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser.

Beide summen und lachen und trinken
und reden laut und leise und winken.

Ein volles Jahr rollt über das Dach.
Ein volles Jahr rollt über das Dach.

 

Wird man Christian Wagners Wochenkalender

nur mit einigem Zögern „Antiballade“ nennen, tut man es im Fall von Jesse Thoor, der manches mit Wagner gemeinsam hat und genau siebzig Jahre nach ihm geboren wurde, ohne Bedenken. Allerdings ist Thoors Gedicht in ganz anderem Sinn als jenes auf seinen Gegenpol, die Ballade, bezogen.
Kein rollender (ob ironisch oder ernst gemeint) aufstampfender Balladengang, versteht sich. Aber auch keine Kreisbewegung im Hamsterrad. Nichts rührt sich hier von der Stelle. Obschon durch die beiden so verschiedenen Protagonisten inhaltlich stark aufgeladen, bleibt alles ausdrücklich statisch. Das seltsame Schachfiguren-, mehr noch: Kinderliedpaar sitzt, halb wegen des Reims, halb um den Standesunterschied im Kontrast von Adjektiv und Objekt zu spiegeln, auf „feinem“ „Tannenreiser“, also offenbar auf dem Boden. Der Schriftsteller Michael Lentz sieht in seinem Vorwort zu Jesse Thoor. Das Werk (2013) eine Verbindung zu Silvester (dem Papst und Heiligen) und dem letzten Tag des Jahres: Silva (lat.: Wald).
Drei Paarreime, davon einer doppelt, schlicht wie die Bildunterschrift in einer Fibel, stemmen sich mit vereinten Kräften gegen das Sausen der Zeit, die in der Realität Kaiser wie Bettler gleichermaßen beherrscht. Insofern sitzen alle – Thoors Lebensthema – in Wahrheit im selben Boot, im selben Haus, ob sie wollen oder nicht. Man kann die Welt nur verstehen, wenn man sie mit Menschen und Dingen als ein Ganzes sieht, in dem alle Teile voneinander abhängig sind. „Denn wer ,ich‘ sagt, bestiehlt uns alle“, heißt es in Thoors Geschichte „Der Prophet“.
Kaiser und Bettler neutralisieren die Macht von Zeit und Rang durch Mißachtung, lassen sie hedonistisch oder verächtlich wie die drei Zigeuner Lenaus über sich wegrollen. Und doch lebt das Gedicht unbestreitbar von der geheimen Spannung, von der gesellschaftlich unterstellten Riesendifferenz zwischen Kaiser und Bettelmann, während die glücklichen Beiden selbst solche Bezeichnungen als Namen ihrer gleichwertigen Berufe zu begreifen scheinen. Alles Plunder: Stand, Besitz, Zeit und Raum.
Was sie reden, ist ohne Belang, entscheidend ist ihr einträchtiger, freiheitlicher Daseinsgenuß. Sie sind ungeschichtlich, unheroisch, ohne Relevanz und Lehre. Sind bloß eindrucksvoll anwesend, egal, ob man im ersten Zeilenpaar, die Gewichte leicht verändernd, „einem“ oder „Haus“ betont. Sie sind das Ergebnis eines vorangegangenen, eventuell stürmisch balladesken Vorgangs, von dem wir nur erfahren, daß er dieses utopische Finale hat. Für jeden der beiden steht am Schluß eine Wort um Wort identische Zeile zur Verfügung. Das ist kein Ornament. Bei Thoor, der sogar in seiner Prosa mit jedem Satz eine wesentliche Information bietet – die freilich auch in einem präzise plazierten „Ach nein“ bestehen kann –, zählt der Entschluß zu Wiederholungen doppelt: Was hier herrscht, ist totale Demokratie!
Er selbst war oft unterwegs, skeptisches KPD-Mitglied, floh 1933 vor den Nazis, landete über Umwege schließlich in England, konnte sich nirgendwo verwurzeln und starb (wie der ebenfalls bis ins Mark originelle, nicht unverwandte Robert Walser vier Jahre später bei einem Winterspaziergang) während einer Wanderung im Gebirge. Da war Peter Karl Höfler, der sich später Jesse Thoor nannte, siebenundvierzig Jahre alt.

Brigitte Kronauer, aus „Die Augen sanft und wilde“. Balladen, ausgewählt und kommentiert von Brigitte Kronauer, Philipp Reclam jun., 2014

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