Claus-Ulrich Bielefeld: Zu Gottfried Benns Gedicht „Saal der kreißenden Frauen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Saal der kreißenden Frauen“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Morgue. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Saal der kreißenden Frauen

Die ärmsten Frauen von Berlin
− dreizehn Kinder in anderthalb Zimmern,
Huren, Gefangene, Ausgestoßene −
krümmen hier ihren Leib und wimmern.
Es wird nirgends so viel geschrien.
Es wird nirgends Schmerzen und Leid
so ganz und gar nicht wie hier beachtet,
weil hier eben immer was schreit.

„Pressen Sie, Frau! Verstehn Sie, ja?
Sie sind nicht zum Vergnügen da.
Ziehn Sie die Sache nicht in die Länge.
Kommt auch Kot bei dem Gedränge!
Sie sind nicht da, um auszuruhn.
Es kommt nicht selbst. Sie müssen was tun!“
Schließlich kommt es: bläulich und klein.
Urin und Stuhlgang salben es ein.

Aus elf Betten mit Tränen und Blut
grüßt es ein Wimmern als Salut.
Nur aus zwei Augen bricht ein Chor
von Jubilaten zum Himmel empor.

Durch dieses kleine fleischerne Stück
wird alles gehen: Jammer und Glück.
Und stirbt es dereinst in Röcheln und Qual,
liegen zwölf andere in diesem Saal.

 

Hinter einer Maske aus Kälte und Abwehr

Eine Ansicht des Schreckens: Hier wird geboren, als ginge es ans Sterben. Scharf ausgeleuchtet ist die Szenerie, wer einmal seinen Blick darauf gerichtet hat, kann nicht mehr wegschauen und wird in den Bann des Geschehens gezogen. Der Betrachter, der Autor, demonstriert zunächst kühl das Geschehen, will der Gewalt der Situation standhalten und sich nicht überwältigen lassen – und kann doch seine Gefühle des Mitleidens nur schwer bändigen. Aus diesem Zwiespalt von erzwungener Kälte des Blicks und mühsam unterdrückter menschlicher Wärme wächst die Kraft und düstere Schönheit dieses Gedichts – und der anderen acht Gedichte, die Gottfried Benn im März 1912 als lyrische Flugschrift unter dem Titel Morgue veröffentlicht hatte.
Diese Gedichte waren Donnerschläge, jedes für sich eine höhnische Provokation, wilde Gesänge auf die Kreatürlichkeit und Hinfälligkeit des Menschen, Illustrationen eines später von Benn geprägten Worts: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.“ Wer aber war der „Höllenbreughel“, wie ihn ein Zeitgenosse titulierte? Ein sechsundzwanzigjähriger Mediziner, der die „Pepiniere“, die Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Preußen, absolviert hatte und sich in Kleidung und Habitus als Bürger präsentierte. Spöttisch erinnerte er sich später, daß man ihm den Ruf eines „infernalischen Snobs“ anhängen wollte, „während ich auf den Kartoffeläckern der Uckermark die Regimentsübungen mitmarschierte“.
Zuvor hatte er im Moabiter Krankenhaus in Berlin einen Sektionskurs mitgemacht, und an diesem Ort müssen sich quälende Bilder gesammelt und schließlich zum Ausbruch gedrängt haben. Benn schilderte die Entstehung von sechs der neun Morgue-Gedichte als schöpferische Gnade und außerbewußten Akt. Um die gleiche Stunde hätten sich die Gedichte heraufgeworfen: „Als der Dämmerzustand endete, war ich leer, hungernd, taumelnd und stieg schwierig hervor aus dem großen Verfall.“

Der große Verfall, beschworen wird er in diesem Gedicht am Beginn der menschlichen Existenz, im „Saal der kreißenden Frauen“. Hoffnung gibt es an diesem Ort nicht, geboren wird unter dem Zeichen der Verdammnis zu Armut und Leid. Es ist fast ein biblischer Ton, den der Pfarrerssohn Benn hier anschlägt, doch leuchtet in diesem Gedicht keine Erlösung jenseits des irdischen Jammertals auf. Schroff ist der Gestus der ersten Strophe, hart wird die Unabänderlichkeit der Situation konstatiert, und es scheint nicht wenig verwunderlich, daß sich die Verse stockend und widerstrebend – zu Reimen fügen.
Gegen die unartikulierten Schreie und das Wimmern der Frauen werden in der zweiten Strophe die Worte eines Arztes gesetzt: Kurz angebunden ist er, gelangweilt, abgestoßen, kalt. Das alles hat er schon zu oft gesehen, den Gestank von Urin und Kot schon zu oft eingeatmet. In einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Zynismus erwartet er die Geburt. Er wird sich nicht bemühen, vielmehr: „Sie müssen was tun!“
Als könnte er diese Zustandsschilderung nicht ertragen, setzt Benn in den beiden folgenden, kürzeren Strophen Gegenbilder, in denen christliche Überlieferung aufgehoben ist: Selbst dieses armselige Erdenwurm, das gerade geboren worden ist, ist einzigartig und unvergleichlich. Wie ein Königskind, wie Christus wird es gesalbt, wenn auch nicht mit feinen Ölen. Auch für dieses „Stück“ Mensch erklingt ein „Chor von Jubilaten“. Und ist es Zufall, daß an diesem Ort zwölf Kinder geboren worden sind? Die Zwölf: eine magische Zahl, eine biblische Zahl. In der Mystik signalisiert die Zwölf Vollkommenheit und Gelingen, in der Bibel gibt es die zwölf Apostel. In diesem weiten Erinnerungs- und Assoziationsraum bewegt sich Benns Gedicht.
Und obwohl es vom Beginn des Lebens spricht, steht es in der großen abendländischen Tradition des „Memento mori“: Es kündet von Schmerz und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz. Benn scheut dabei vor Härte und Brutalität in der Darstellung nicht zurück – und zeigt zugleich eine Zartheit gegenüber dem Leben, die gerade deshalb ergreift, weil sie sich hinter einer Maske aus Kälte und Abwehr zu verbergen sucht.

Claus-Ulrich Bielefeld  aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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