1. März

Die Migräne … der Kopfschmerz hat mich über Nacht fünf Stunden Lebenszeit gekostet; ich erlebe … ich ertrage die Attacken seit gut zehn Jahren; alle zwei, drei Tage muss ich mit einem Überfall rechnen – es gibt also eine gewisse Regelmäßigkeit, und doch ist das Geschehen völlig unberechenbar. Die Attacke kann jederzeit ohne Warnzeichen einsetzen und ist in keiner Weise zu kontrollieren, weder ihre Dauer noch ihre Intensität ist abzusehen, und ebenso plötzlich, wie sie einsetzt, verebbt sie. Mein Befinden danach ist meist besser als davor, der unsägliche Schmerz, die Erniedrigung, die Hilflosigkeit, die Verdumpfung und Verblödung – alles innerhalb Minuten vergessen, gefolgt von ungewöhnlicher geistiger Luzidität bei gleichzeitiger totaler Erschöpfung. Nach überstandenem Anfall fühle ich mich jeweils so, wie ich mich einst (in der Rekrutenschule) nach einem Hundertkilometermarsch mit Vollpackung gefühlt habe. Seit Jahren fällt mir auf, wie unterschiedlich der Schmerz sich manifestiert, wie beweglich sein Intensitätszentrum ist – Schläfen, Nacken, Scheitel, Stirn. Die Unsäglichkeit des Kopfwehs wird automatisch kompensiert dadurch, dass sich, an Stelle der Worte, Bilder, Vorstellungen aufdrängen, die mir den unfassbaren Schmerz irgendwie anschaulich machen. Bilder übrigens, denen nichts Horrendes anhaftet, die weder erschreckend noch abstoßend und oft ziemlich trivial sind. Wie heute zum Beispiel: Der Schmerzmeridian zwischen Nasenwurzel und Genick übersetzt sich in das Bild einer hochgekämmten und pomadisierten Tolle, ähnlich einer Irokesenfrisur, aber tiefschwarz gefärbt und hochragend wie ein breiter ausgefranster Pinsel. Mithin ein eher komisches Bild. – In den heutigen Mittagsnachrichten von Radio DRS wird der Tod des »Schweizer Philosophen Arnold Künzli« gemeldet; vergangene Woche noch hatte er mich, wie immer aufmerksam und akkurat, von Hand geschrieben, zu sich nach Bremgarten eingeladen. Vor einigen Monaten war er bei mir in Romainmôtier zu Besuch, kam mit dem Postbus angereist, ging mühsam am Stock, war hellwach, neugierig, kritisch, offen, ereiferte sich über eigene Fehler und Irrtümer (seine Frauenbeziehungen, seine kommunistischen Sympathien usf.) ebenso wie über die aktuelle Finanzkrise und das »turbokapitalistische Raubrittertum«. Bis zuletzt hat Künzli viel gelesen, viel geschrieben, manches bei der Presse angeboten, aber nichts mehr publizieren können: Man habe auf seine Einsendungen entweder gar nicht erst reagiert oder sie seien ihm, der einst zu den führenden Publizisten der deutschsprachigen Schweiz gehört hatte, wie einem Anfänger mit fahrigen redaktionellen Kommentaren retourniert worden. – Das ist ein Samstag wie jeder … ein TV-Samstag wie immer, wie heute – auf zweihundert Kanälen aus aller Welt kommt genau das, was das breiteste Publikum sehen will; und das breiteste Publikum – das sind, statistisch hochgerechnet, wir alle. Wir alle wollen und erwarten und konsumieren genau dies: üppige Familiensagas, schwachsinnige Kriminalfilme, die Abenteuer des Bergdoktors, das Gelaber der Wahrsagerinnen, den Tratsch von Glanz und Gloria, den Quatsch der Prominentenrunden, das Radebrechen der Quizkandidaten, den Krach in der Prominentenklinik und auf dem Kreuzfahrtschiff, den Tierfilm aus Grönland oder Borneo, die Liveübertragungen von Kickboxkämpfen und Schanzensprüngen, das Wohltätigkeitskonzert mit Anna Schrott und Erwin Netrebko, die späten Pornoangebote im Pay-TV und … und was noch? Das Beliebige ist das, was zählt, und ist auch das, was immer kein Ende hat – so, wie das Publikum … so, wie wir alle ohne Zahl sind, stetig im Kommen und Gehen, jederzeit zu ersetzen, dabei in unabwendbarem Abstieg begriffen. Begriffen! Und ich soll einer aus dieser Unzahl sein? Der Statistik nach entkomme ich ihr nicht; ich gehöre zur Unzahl, weil ich dazugezählt werde … ich gehöre zur gegängelten, zu der für blöd gekauften und auch für blöd verkauften Mehrheit, die Publikum oder Kundschaft genannt wird, und von der ich mich auch dadurch nicht emanzipieren kann, dass ich am Samstagabend, statt zweihundert TV-Programme abzuzappen oder weitläufig im Internet zu nomadisieren, ein Buch aufschlage, um darin, mit dem Rücken zur Welt, zu verschwinden. – Ich schreibe … ich führe seit vielen Jahren regelmäßig Tagebuch, notiere mir Naheliegendes, Allgemeines, Intimes, Provokantes, Triviales, ohne mir dabei zu überlegen, wozu und für wen – wenn nicht für mich selbst – ich das tue. Tausende von A4-Seiten, verwahrt in Dutzenden von Archivschachteln, haben sich inzwischen angesammelt – kein einziges Mal habe ich bislang darauf zurückgegriffen. Was also soll’s? Ich denke, es geht hier gar nicht ums Geschriebene und dessen Brauchbarkeit, es geht bloß ums Schreiben … so wie ich täglich für eine Stunde zu Fuß unterwegs bin, ohne ein anderes Ziel anzustreben und zu erreichen als den Punkt, von dem ich ausgegangen bin – mein Haus, mein Büro, mein Hotel. Die Absurdität des Vorgangs wird mir vollends bewusst, wenn ich mir meinen Briefträger oder meine Friseuse, einen Taxifahrer, einen Bankberater, einen Bauarbeiter, eine Hausfrau vorstelle, die ein Gleiches täten … die regelmäßig nur einfach aufschrieben, was ihnen durch den Kopf geht, was sie beschäftigt, woran sie sich erinnern, worüber sie sich ärgern oder amüsieren … Nicht nur, dass sie alle es niemals tun werden – es kommt ihnen nicht einmal in den Sinn, es ist für sie jenseits des Denkbaren, Wünschbaren und … und jenseits des Machbaren ohnehin. Denn bei den meisten … bei so gut wie allen Menschen ist nicht nur das Bedürfnis (oder gar die Fähigkeit) zu schreiben verloren gegangen, sondern auch die Handschrift. Die Schreibbewegung ist überflüssig geworden, das Eintippen – Taste für Taste, Sensor für Sensor – genügt für den heutigen Gebrauch. – Ich seh das alles gleichzeitig aus der Vogel- und aus der Froschperspektive, sehe, dass mein ausgedehnter Weg in Form einer liegenden Acht in den Oberwald eingelassen ist – zwei Schlaufen, in Tränenform zugespitzt auf eine gemeinsame Mitte. Kein Aufbruch, keine Rundgang, ohne dass ich Diana und ihrem kläffenden Spitz begegnete. Wie jetzt wieder. Ich freue mich jedes Mal, wenn sie zwischen den Stämmen hervor auf den Weg tritt … mir in den Weg tritt, und jedes Mal ist es mir, wie jetzt wieder, ein wenig peinlich – auch diesmal ist sie perfekt geschminkt und gekleidet, ich selbst bin mit nacktem verschwitztem Oberkörper und einer zerschlissenen Jeans unterwegs. Kurz, wie üblich, grüßen wir einander, nein, ich füge diesmal halb belustigt, halb verzweifelt hinzu: Offenbar können wir einander nicht vermeiden! Und sie: Vielleicht sind wir füreinander bestimmt? Dabei lässt sie mit wegwerfender Geste ihre Kampfschildkröte von der Leine, die sich sofort wütend in meine Achillessehne verbeißt. Aber wie komme ich nun nach Haus? Das Tier hängt schwer an meinem rechten Fuß. Es gibt keine Flucht, schon gar keinen Flug! Hier … jetzt wache ich auf, es ist halb vier Uhr nachmittags. – Noch ein Beleg für die Normalität von Korruption und Hehlerei: In New York hat ein Bettler nach Feierabend in seinem Hut nebst ein paar Münzen einen wertvollen Diamantring vorgefunden. Statt ihn zu verkaufen oder einzutauschen, hat er ihn in der Hosentasche aufbewahrt, in der Hoffnung, dass der rechtmäßige Besitzer nach ihm suchen würde. So geschah’s – eine Dame sprach bei ihm vor, erklärte ihm das Missgeschick (der zu weite Ring sei ihr zusammen mit dem Kleingeld von der Hand gerutscht) und erhielt das Schmuckstück anstandslos zurück. In der Folge rief sie via Internet zu einer Sammelaktion für den ehrlichen Finder auf, brachte innerhalb kurzer Zeit mehr als 100 000 Dollar zusammen und informierte ihn darüber. Der weise Zeitgenosse, ein Schwarzer, meinte dazu, er verstehe nicht so recht, weshalb man ihn belohnen wolle, da er doch bloß etwas zurückgegeben habe, was ihm ohnehin nicht gehörte. Der alte Stadtstreicher und Straßenbettler ist für viele zum Helden geworden, weil er freiwillig tat, was zu tun eigentlich selbstverständlich war, normalerweise aber nicht getan worden wäre. Mithin also eine Heldentat, die nichts als recht ist und dennoch als sensationelle Ausnahmeleistung zu gelten hat. Ein Trost in diesen raffgierigen Zeiten? Eine Schande wohl eher, dass man eine so bedingungslose, schlicht menschliche Geste als Trost empfinden muss. – Schwacher Schlaf zur Zeit trotz Müdigkeit; bin heute Nacht ein dutzendmal aufgestanden, ums Haus, ums Dorf gegangen – über mir, ganz nah, der Himmel in strahlendem Schwarz. Die Vollzähligkeit der Sterne erschöpft sich … beweist sich in ihrer Unzähligkeit. – Dem Geist, der stets das Gute will und stets das Üble schafft, steht der Geist, der stets das Üble will und doch das Gute schafft, entgegen; oder steht der eine dem andern nur einfach gegenüber – als dessen austauschbarer Widerpart? – Im russischen »Lesesaal« (Internet) sind neuerdings Tagebücher von Igor Cholin zu lesen. Cholin hatte ich zwei-, dreimal in Ljanosowo besucht, als ich 1965/1966 in Moskau lebte. In Erinnerung bleibt mir ein groß gewachsener, leicht vornüber gebeugter Mensch mit grauer Stoppelfrisur, eingefallenen Wangen, lückenhaften gelben Zähnen; er sah in meiner damaligen Optik so aus, als wäre er am Vortag aus dem Gulag entlassen worden. Außer ein paar Kinderversen hatte er damals noch nichts veröffentlicht. Bei einem der Treffen waren die Dichter Sapgir und Limonow (oder Monastyrskij?) mit von der Partie. Inzwischen – seit der Wende – sind sie alle zu »Klassikern« der späten Sowjetzeit avanciert. In Cholins wortkargen Tagebuchnotaten ist nichts zu finden, was über den damaligen Haushalt hinaus von Interesse wäre. Weder Politisches noch Literarisches, kein Wetter, nichts Emotionales (außer, immer wieder, Langeweile), kein einziger Gedanke; lauter Tratsch – wer bei wem wann und wo sich getroffen hat, Anruf von NN, Anruf an NN, wieder alle Nachbarn furchtbar besoffen, weitergelesen in Dostojewskijs ›Dämonen‹ usf. Wie kommt’s, dass ein Dichter, gerade in dürftigster Zeit, so wenig zu sagen hat? Und dass sich das Wenige, das er schriftlich festhält, auf alltägliche Banalitäten beschränkt? Für mich das einzige Fundstück: Cholin zitiert zwei Verse des »Sentimentalisten« Nikolaj Karamsin – Was ist unser Leben? Ein Roman. Sein Autor? Anonym. Wir lesen ihn, wir lachen, weinen, schlafen ein. Witzig und gekonnt aufgesetzt. Vielsagende Lakonie. – Ich erinnere mich an ein TV-Interview der BB C mit dem sichtlich gealterten und tief resignierten Sozialphilosophen Richard Sennett und an dessen damals formulierte These, dass der allgemeine Qualitätsverlust (wie auch der Verlust der Qualitätserkennungskompetenz) auf das Verschwinden des Handwerks zurückzuführen sei. Die automatisierte, elektronisch gesteuerte Herstellung so gut wie sämtlicher Produkte – vom Haarkamm bis zum Smartphone und zur Waschmaschine – lasse das Bewusstsein für und das Bedürfnis nach Qualität mehr und mehr schwinden. Herstellungsfehler und Pannen werden als selbstverständlich hingenommen, selbstverständlich auch, dass defekte Geräte nicht mehr repariert, sondern gleich entsorgt werden. Für mich bleibt das Handwerk schon deshalb ein Faszinosum, weil handwerkliches Können, handwerkliche Präzision und auch (gibt’s das denn überhaupt noch?) handwerkliche Ethik längst zur Ausnahme geworden sind – nicht nur in Werkstätten und Ateliers. Auch im Wissenschafts- und Literaturbetrieb sind »handwerkliche« – hier also formale – Qualitäten kaum noch gefragt. Kopieren geht über Komponieren. Neue Verfahren wie Nachschreiben, Umschreiben, Überschreiben (oft auch bloßes Unterschreiben) ersetzen die handwerklich strenge und konsequente Arbeit am Text. Literarische »Handwerker« vom Rang eines Italo Calvino, eines Danilo Kiš oder auch eines Oskar Pastior lassen sich kaum noch ausmachen. Umso mehr weiß ich die paar letzten handwerklichen Könner aus meiner engsten Umgebung zu schätzen – »meinen« spanischen Schuhmacher, »meinen« langjährigen Zahnarzt, »meine« kurz vor der Pensionierung stehende Coiffeuse, »meine« Posthalterin in der jurassischen Provinz, »meinen« hauptberuflich als Schriftsetzer tätigen Gärtner, der mir regelmäßig beim Einpflanzen, beim Bäumeschneiden, beim vorwinterlichen Abräumen hilft. Damit hat es sich denn auch. – Zum dritten Mal nun ›Der Fall‹ von Albert Camus – ich besitze, benutze die broschierte Originalausgabe von 1958. Die »Geschichte« des Falls hat sich mir noch immer nicht fest eingeprägt, aber bei jedem Durchgang prägen sich gewisse Formulierungen ein, wie Merk- oder Leitsätze, und jedes Mal sind’s andere. Bei der ersten Lektüre, früh in meiner Studienzeit, hatte ich mit Bleistift in den Text geschrieben, hatte unterstrichen und annotiert, beim zweiten Mal, vor ein paar Jahren, verwendete ich einen Rotstift, diesmal ist es ein dicker Buntstift, bei dem die Farben Rot, Blau, Grün, Gelb in einer und derselben Mine ineinander verdreht sind. Sieht und liest und begreift man die Sätze kontextfrei, hört man Camus in die Gegenwart sprechen, und hin und wieder kommt’s mir vor, als spreche er mich persönlich an, bestätigend, ermunternd, skeptisch, kritisch, manchmal auch eher beiläufig, doch umso privater. Ich unterstreiche (und übersetze hier) Aussagen wie diese: »Wir haben den Dialog durch Kommunikation ersetzt.« – »Mir ist klar, dass man nie darauf verzichten wird, Überlegenheit zu zeigen und sich zudienen zu lassen.« – »Wem wollte man in dieser Welt antworten, wenn nicht dem, was man liebt.« (Also wer oder was?) – »Kein Verstandenwerden, nie.« – »Es ist allzu wahr, dass wir nur selten denen vertrauen, die besser sind als wir.« – »In der Einsamkeit, was wollen Sie, hält man sich, unterstützt von Müdigkeit, ganz gern für einen Propheten. Allem Anschein nach bin ich nun hier, zurückgezogen in einer Steinwüste, umgeben von Nebelschwaden und rottenden Gewässern – ein leerer Prophet für mediokre Zeiten.« – »Natürlich bin ich wie die andern, wir sitzen in derselben Brühe. Immerhin habe ich jenen etwas voraus, nämlich mir dessen bewusst zu sein, und das gibt mir das Recht zum Reden.« Usf.

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