19. April

Verheerendes Osterwetter, Sturm und Elend, andauernde Golgathastimmung und … aber im Kontrast dazu mein seit Tagen ungetrübtes Wohlbefinden, guter Schlaf, starke Träume, starke Lektüren. Zum Schönsten, was man heute noch in der Hand halten kann, gehören die kleinformatigen Lederbände der Bibliothèque de la Pléiade von Gallimard (in der nun auch Julien Gracq und Claude Simon zu lesen sind). Ich nehme zur Zeit die Novellen und kleinen Romane von Stendhal durch, habe gerade ›Mina de Vanghel‹ vor Augen, Roman eines amour fou, sehr trocken erzählt, additiv aufgereihte Szenen und Dialoge, alles fokussiert auf die zunächst ausbleibende, dann plötzlich sich einstellende, gesellschaftlich unmögliche Liebe einer jungen, schönen, reichen Frau, die alles tut, auch das Dreiste, Stillose, Amoralische, um den verheirateten Mann zu gewinnen – bis hin zur Verkleidung und Selbstverhässlichung (s’enlaidir) als Dienstfrau im Haus des Geliebten, dem sie nah sein, dessen Stimme sie hören will. Die Geschichte vollzieht sich unausweichlich auf der Linie des Scheiterns und Sterbens – als der Mann, der die Liebe nun erwidert, von den Machenschaften Anikas alias Minas erfährt, gibt er sie sofort auf, und sie, unheilbar liebeskrank, geht kurzerhand hin und erschießt sich. Alles an diesem kleinen Roman ist von kurzer Hand, hat etwas Hektisches, verweilt an keiner Stelle bei der Außenwelt der Helden; es gibt weder Landschaften noch Interieurs, keine Requisiten, nur diese Helden im gesellschaftlichen, hochgradig kodifizierten Raum, Helden, die auch selbst kein Äußeres zu haben scheinen, die einfach schön, tapfer, reich genannt werden. Sehr klischeehaft zieht die von Beginn an absehbare Story vorbei, dennoch liest sie sich mit Interesse, sogar mit Spannung. Stendhal setzt alle Mittel der Trivialbelletristik ein, bleibt stilistisch unter seinen Möglichkeiten, liefert aber eine Psychostudie von modellhafter Luzidität, die bei aller Unterkühlung (oder wegen des stets kühlen Außenseiterblicks) die monströse Leidenschaftlichkeit der Protagonistin fühlbar macht. – Von sich selbst als Autor schreibt Stendhal, er verfertige keine Konzepte, habe ein schlechtes Gedächtnis und eine umso stärkere Einbildungskraft, jede geschriebene Seite gebe … ergebe die nächste, dabei greife er »au hasard« Themen, Motive, Fakten aus seiner laufenden Lektüre auf und »leihe« (emprunter) sie sich für den eigenen Text aus, egal ob es sich bei der Quelle um die Tageszeitung, einen Gerichtsbericht, eine Glosse, eine Erzählung handle. – Menschenrechte, Gleichberechtigung, Gleichstellung und überhaupt – Gerechtigkeit! Da sind Gleichschaltung und Gleichmacherei nicht weit. Doch kaum jemand fragt sich … kaum jemand achtet darauf, inwieweit Menschenrechte oder Gleichstellungspostulate Ungerechtigkeit generieren. Wird nicht vielleicht in der Gerechtigkeitsdebatte und generell im politisch korrekten Diskurs »der Mensch« weit überschätzt? Überschätzt zu Ungunsten des Wolfs, der Fliege, des Apfelbaums, des Kieselsteins, aber auch zu Ungunsten von hergestellten Objekten – einer Seife, einer Pfanne, eines Panzerwagens, einer Pinzette, eines Baseballschlägers, einer Glühbirne? Kann, darf Gerechtigkeit eine rein menschliche … eine ausschließlich menschliche Angelegenheit sein? Ist Gerechtigkeit nicht auch vom Tier, vom unbelebten Ding, vom handwerklichen oder industriellen Produkt her zu denken? Sollte man nicht der schlichten Tatsache gerecht zu werden versuchen, dass Sachen kein Organ für den Schrei haben? Nicht für den Schmerzensschrei, nicht für den Freudenschrei! Man braucht nicht gleich an Krieg zu denken, aber … aber wenn ich mir bloß vorzustellen versuche, wie viele Tiere und Gegenstände allein von der Filmindustrie – als Requisiten – tatsächlich vernichtet werden, derweil das Sterben des Menschen, mit eingeschlossen der gewaltsame Tod, in jedem Fall fingiert wird! Solang der Mensch fraglos in der Mitte und zuoberst in der Werteskala positioniert ist, dürfen Wälder abgeholzt, Böden ausgepowert, Steinbrüche abgebaut, Tiere abgeschlachtet, Kulturgüter zerbombt werden, ohne dass irgendeine noch so konzentrierte Macht dem zerstörerischen Tun Einhalt gebieten könnte und … oder Einhalt gebieten wollte. Das tut allenfalls – freilich immer nur reaktiv – die Natur: durch Bergstürze, Orkane, Überschwemmungen, ausgelöst durch menschlichen Raubbau. Anderseits wäre der Anspruch »des Menschen«, für die sogenannte unbeseelte Welt zu sprechen und gleichsam aus den Tieren und Dingen heraus deren Anrechte zu bedenken und zu dekretieren, eine Anmaßung – falls man sich »den Menschen« wieder einmal genauer ansehen mag. – Ich habe unlängst – in zwei schönen Neuausgaben – den ›Cruchard‹ von Gustave Flaubert und die Zürauer Aphorismen von Franz Kafka auf den Tisch bekommen, beides exzellent ediert und klug kommentiert, beides aber auch maßlos überschätzt aus dem einzigen Grund, dass Kafka wie Flaubert ein für allemal als Klassiker sakralisiert sind, was auch ihren trivialsten Auslassungen eine unzerstörbare Weihe gibt. Lew Tolstojs lächerliche Alterswut auf alles, was in Kunst und Literatur seit Shakespeare Rang und Namen hat, ist zumindest darin berechtigt, dass sie sich vor allem an festgeschriebenen Ratings abarbeitet, die jede kritische Differenzierung illusorisch machen. Tolstoj ist mit seiner antikanonischen Polemik allein geblieben, keiner der von ihm des Schwachsinns oder der Dekadenz bezichtigen Künstler ist seinetwegen aus dem Kanon gefallen, und keinen – auch nicht seine Lieblingsautoren Emil Ludwig oder Berthold Auerbach – vermochte er im literarischen Olymp zu etablieren.

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