20. Mai

Seltsame Tage, eben gab’s wieder eine völlig unerwartete, völlig überflüssige, völlig folgenlose Krise, jetzt geht plötzlich der Regen ins Land, der Krampf löst sich innert Minuten, ein ambivalentes Wohlgefühl stellt sich – fast wie zum Hohn – ganz selbstverständlich ein. »Und so lebte er fort.« – Vom Finanzamt kommt die Aufforderung, meine räumliche Arbeitssituation »vollständig zu dokumentieren« – Mietvertrag, Wohnungsgrundriss, Fotos des Arbeitsplatzes, des Büromobiliars und -materials sowie sämtlicher Wände. Es geht offenbar darum, die »Abzugsfähigkeit« meiner Arbeitsräume gegenüber den Wohnräumen neu zu bestimmen. Ich muss wohl davon ausgehen, dass »man« (der Staat) meine bisherigen Abzüge reduzieren, mich also noch mehr zur Kasse bitten will. Seitdem ich als »freier Schriftsteller« gelte (selbstständig erwerbend), scheint der für mich zuständige Kommissar meine Steuererklärung besonders kritisch zu prüfen. Worin besteht denn eigentlich die »selbstständige Erwerbstätigkeit« eines freien Autors? Gehört dazu auch das Lesen? Das Exzerpieren? Das Recherchieren in Archiven, in Krisengebieten, im Internet? Die Querelen mit Redaktionen und Verlagen? Was noch? Das Schreiben! Und … aber wie viele Stunden am Tag? Nachtstunden? Überstunden? Das alles ist beim Finanzamt nicht festgeschrieben. Um es individuell festzulegen, braucht’s nun diesen zusätzlichen Arbeitsaufwand und das Hin und Her mit dem Steuerbeamten. – Schwer geschlafen, schwer geträumt, dennoch früh aufgewacht, gleich aufgestanden – im Fenster noch immer dieser unergiebige, unstete Mai, heute blaugrau aquarelliert und durchweht von einem raren Partikelgemisch: Blütenstaub und feinstgeflockter Schnee. Ich hole die Brötchen beim Bäcker, die Zeitungen auf der Post, drehe eine Runde ums Städtchen herum, bin um halb sieben zurück in meiner Küche. Frühstück. Lektüre. Muntere russische Musik auf Espace 2. Gegen acht Abfahrt nach Orbe und Yverdon (Frischmarkt) zum Einkauf – Krys hat sich kurzfristig angemeldet. – Ich geh mit dem schwarzen Mann (er trägt Soutane, ganz oben eine Halbglatze) am Kai entlang, beim Blick nach unten zwischen die schreitenden Füße fällt der scharf geschnittene Randstein auf, geschliffener Granit, daneben in der Tiefe klares stehendes Wasser mit grünlichem Grund. Der Mann neben mir, es ist Professor Bocheński, lässt sich plötzlich fallen und klatscht mit dem Gesicht voran ins Wasser, sinkt mit ausgebreiteten Armen langsam zum Grund, und aber schon steht der andere Schwarze schräg hinter mir. Wir (eine junge Frau und ich) fahren aufs Land, wir wollen Unseld in seiner Privatvilla besuchen oder wenigstens den Prunkbau von Frisch besichtigen. Vorm Dorfeingang gibt es neuerdings ein Rondell, danach eine Allee mit hingewürfelten Häuschen links und rechts, weit im Hintergrund befindet sich der Unseldbau, halb Bunker halb Luxushotel, mit unzähligen Balkonen, alles weiß getüncht. Ein dicker Jeep rollt rückwärts vom Garagenplatz den Hang herunter auf uns zu, überschlägt sich mehrfach, fliegt – nunmehr eine mattschwarze Drohne – über uns hinweg und bleibt am Fuß des Abhangs liegen. Ich ducke mich ins Unkraut, von oben kriecht züngelnd ein Riesenbiest heran … ein gigantisches Urtier, beinlose Kröte, aufgeblähter Molch, kriecht über mich hinweg, ich versuche mich zusammen mit meiner Begleiterin zu retten, wir winden uns unter dem schleimigen Rumpf, kriechen hangaufwärts, erreichen den felsigen Hügel, der als Kulisse hinter dem Gästehaus aufgestellt ist. Die Frau – diese Frau hier – ist mir immer um ein paar Schritte voraus, manchmal dreht sie sich nach mir um, reicht mir die Hand, doch immer nur zum Abstieg. – Zwei Tage in Lübeck zur Lesung im Grasshaus anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung über Gottfried Keller als Maler. Gottfried Keller! Kann mich weder als Literat noch als Maler interessieren – ich werde also kein Begleit-, sondern ein Kontrastprogramm bieten. Reise bei feuchter Hitze und immer am Rand eines gewaltigen Gewitters, das dann doch nicht ausbricht; es bleibt ungemein schwül, unangenehm bis zum Schwindel. Dennoch finden sich ungefähr zwei Dutzend Unentwegte im Publikum, Günter Grass – krank im Spital – lässt sich entschuldigen und schickt mir Grüße. Vor mir liest der Berner Stadtpoet Rafik Urweider, der beim Vortrag – Gedichte zu Reiseerfahrungen und Frauenträumen – mit der Rechten in seinen Papieren wühlt und linkshändig auf einem Keyboard herumklimpert. Ich selbst trage im zweiten Teil aus ›Steinlese‹ vor, projiziere dazu die Schrifttafeln von Theo Leuthold. Kundige Hörer, sympathische Aufmerksamkeit. Danach ausgedehnter Umtrunk, gute Gespräche. Heute nun, erneut bei drückender Hitze, mit Connie Müller und Heinz Goedecke eine Autofahrt über Land, alles wirkt hier, entgegen meiner Erwartung, kleinräumig und äußerst provinziell, von der gar nicht so fernen See ist nichts wahrzunehmen – kein Wind, kein Licht, kein Geruch. Die kurvenreichen Landstraßen sind von chinesischen, japanischen, burmesischen Imbissbuden gesäumt, wir finden kein einziges einheimisches Wirtshaus, kehren schließlich am frühen Nachmittag am Stadtrand von Hamburg in einem Hotelrestaurant ein, ziemlich hungrig, ziemlich erschöpft. Gegen Abend Rückflug nach Zürich. – Der immerwährende, für jedermann geltende, von jedermann erfüllbare Imperativ des Thomas a Kempis: »O Freund! Jetzt, jetzt lege die Hand ans Werk und tu, was du tun kannst.« Mehr braucht’s nicht, und mehr geht auch gar nicht. – Ich bin in der Nacht zu Fuß vom Bahnhof in Croy nach Romainmôtier unterwegs, gehe auf der linken Straßenseite, bis rechts ohne irgendeinen Wink meinerseits ein PKW anhält und eine hohe männliche Stimme Hallo zu mir herüber ruft, mich zum Mitfahren einlädt. Ich wäre ganz gern zu Fuß weitergegangen, aber gut – ja, Dank. Ich steige ein, das kleine Auto ist eng wie eine Mülltonne und überfüllt von Krempel aller Art. Da liegen und rutschen am Boden, in den Ablagen, unter dem Frontfenster elektronische Geräte, Sonnenbrillen, Bonbonschachteln, Zeitungen, Straßenkarten, Pflanzenkisten, Blumentöpfe, Bücher, es stinkt, es zieht, es ruckelt – der Fahrer ist ein freundlicher Mann, freier Philosoph, wie sich herausstellt, höchst belesen, clever, mit endlos vielen Ideen, die er in Frageform aufwirft, immer davon ausgehend, dass ich ihm folge und mich dafür interessiere. Pyrrhonisches Denken! Putin auf Bärenjagd! Die Menschmaschine von La Mettrie! Die Querelen in der syrischen Oppositionsbewegung! Lenin als Prophet. Der großartige Landschaftsmaler Menn! Das jüngste Buch von Jullien! Die zickige Geliebte von Hollande! Und übrigens – »Sie wissen doch?« – eine Uraufführung von Ernest Bloch in Genf! Doch wir sind bereits in Romainmôtier, ich muss raus, der freundliche Fahrer lässt den Wagen ausrollen, hält an, redet unbekümmert weiter … redet auch dann noch weiter, als ich die Autotür bereits zugeschlagen habe und der Wagen wieder Fahrt aufnimmt.

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