21. Mai

Ein Blick … ein Griff in die Wühlkiste vor einer Buchhandlung im Münchner Hauptbahnhof fördert ein Dreierpack zutage, Gesamtpreis sieben Euro fünfzig, enthaltend ›Eine Liebesgeschichte oder so was‹ von Raymond Federman, ›Was soll man da machen‹ von Marianne Fritz, ›Polonia‹ von Nicolò Ferjancic. Die Bände, zu dreien in Sichtfolie eingeschlagen, sehen aus »wie neu«, obwohl sie vor über dreißig Jahren erschienen sind. Damals hat man diese Texte als hochkarätige avancierte Literatur rubriziert, heute sind sie vergessen. Vermutlich handelt es sich bei dem Sonderangebot um Restexemplare oder Remittenten. Dreißig Jahre! Und wer sollte sich heute noch dafür interessieren, da Bücher in aller Regel als saisonale Produkte gehandelt werden und oft schon nach der zweiten Saison den Status von Makulatur erreichen? Aber ich habe eine mehrstündige Zugreise vor mir, außer ein paar Zeitungen und dem ›Großen Meaulnes‹ (wiedergelesen auf der Herfahrt) habe ich keine Lektüre dabei, also kommt mir das Sonderangebot gerade recht. Doch bei keinem der Bücher – unterschiedlicher könnten sie nach Machart und Inhalt nicht sein! – komme ich über das Anblättern hinaus. Das mag mit meiner Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag (mehrstündiges Seminar an der LMU mit Erika Greber über »Spielformen des europäischen Sonetts«) zu tun haben und … aber doch auch mit den Texten, die Einiges an Aufmerksamkeit erfordern; also bleibt’s beim Blättern … beim Aufschnappen und Notieren einzelner Sätze, unabhängig vom jeweiligen Textzusammenhang. Bei Ferjancic: »Mit kaum bewegten oder (?) sehr bewegten Lippen, wie auch immer, das Pfarrhaus erregte sich unisono: Ildefons zappelte gründlich (?) auf seinem Sitz, Mohammed stimmte eine Nänie auf die schrumpfende (?) Oase an, die im Herzen (?) des unfreiwilligen Emigranten blühte, und Baka erhob und (?) setzte sich in größter Erregung. Was geschah da mit ihm?« Was mit Mohammed und seiner Nänie geschah, ist jedoch nicht mehr mein Interesse, und so lese ich bei Marianne Fritz weiter … lese: »Und die Mutter des Landes nahm in ihre Hand eine rechte Hand. Zwei Plaudertaschen hatten zugemacht ihre Taschen (?); was sie alles plapperten, schwätzten und schnatterten; still (?) waren sie geworden: spüre es, sagte (?) die eine Hand zur Linken, merke es, sagte die andere Hand zur Rechten; sehr still. Den Druck verstanden sie: probierten das totstellen (?) und anhalten, den Atem. Worte: wäre ihnen eins noch passiert; waren ja (?) keine Strohköpfe!« Dann aber Federman: »Man muss nur (?) eine Krise konstruieren. Irgendeine. Ökonomisch, geistig, sozial, ethnisch, pathetisch, antiintellektuell. Und prompt (?) ist Amerika auf dem Weg der schnellen (?) Besserung.« Solche Sätze mögen zu denken geben, im Guten wie im Üblen, doch nachdenklich machen sie nicht. Denken kann ich selber, zur Nachdenklichkeit muss ich gebracht … muss ich angemacht werden, und eben dies erwarte ich – unter andern Impulsen – von ernst zu nehmender Literatur. Wo denn nun weiterlesen? Ich lehne mich zurück, schlafe ein … – Kompilationen, Kurzfassungen, Exzerpte, Abstracts und ähnliche sekundäre Textsorten sind beliebt und werden immer beliebter, da sie sich einerseits als zeitsparende Lektüre anbieten (»kurz das Wichtigste«) und da sie anderseits – bis hin zu Resümees der großen Romane der Weltliteratur – die Komplexität von Plot und Stil so weit reduzieren, dass der eilige Leser kaum noch durch »Schwierigkeiten« aufgehalten und damit von eigenem Nachdenken und Nachfragen dispensiert wird. Dass derartige Schwundstufen literarischer Werke – nicht anders als »originalgetreue« Repliken von Meisterwerken der Bildkunst – weithin gefragt sind, macht deutlich, wie sehr die Aura des Originals bereits verblasst ist, aber auch, wie groß inzwischen die Bereitschaft ist, der Kopie, dem Plagiat, der Fälschung den Status eines originalen oder wenigstens eines originellen Werks zuzubilligen. Billig genug! – Ende Mai – der Tag ist dabei, die Nacht zu überbieten, sie zu verkürzen, sie zu erhellen, zwischen fünf und sechs Uhr früh gibt die Dämmerung der Finsternis erste Konturen, die Gegenstandswelt beginnt sich herauszubilden und mit ihr der Raum, in dem die Gegenstände verortet sind. Ich mag diese Übergangs- … ich mag diese Auferstehungszeit, muss mich nun aber täglich etwas früher auf den Weg machen, um sie draußen in der Landschaft oder drüben im Wald zu erleben … zu erleben, wie mit dem Licht allmählich auch die Geräusche aufkommen, das Tschilpen und Trillern … wie das Knacken, das Knirschen im Gehölz lauter und häufiger wird, dazu die stapfenden, schleifenden, rutschenden Schritte, die unverkennbar meine Schritte sind. Denn zu dieser Tageszeit bin ich nie nicht allein unterwegs.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00