23. Februar

Für einen Wetterwandel gibt es nach so vielen stabilen Kältetagen noch keinerlei Anzeichen – außer der Hirn- und Darmmigräne, die sich seit heute Nachmittag zu regen beginnt, sich langsam aufbaut und vermutlich im Verlauf der Nacht voll zum Ausbruch kommt. Die Migräne hat mich diesbezüglich – anders als die professionellen Wetterfrösche und Wetterfeen – noch nie getäuscht. Mein atmosphärisches Sensorium kann es mit jedem Messgerät aufnehmen, nur meldet es die Ergebnisse nicht in Zahlenwerten, sondern in Nervenspannung und in Schmerzeinheiten. Diese bekomme ich, mit Bezug auf die Wetterlage, nie nicht zu früh zu spüren, und wie immer bin ich auch diesmal mit den Medikamenten zu spät. – Stärkste Lektüre in diesen Tagen: Paul Ludwig Landsberg, ›Die Erfahrung des Todes‹. Ich lese das kleine Buch nach langer Zeit zum zweiten Mal, bin beeindruckt von Landsbergs ebenso riskantem wie produktivem, phasenweise geradezu poetischem Denken, von seinem unaufwendig eleganten Stil, obwohl dann doch, zum Ende hin, Reflexion und Rhetorik merklich ausfransen und der ausgebreitete Stoff plötzlich stark gerafft und schließlich zugeschnitten wird auf die Apotheose der Heiligen Teresa von Avila. Trotz dieser Verzerrung ergibt sich für mich insgesamt eine ungewöhnlich erhellende Lektüre. Ein Meisterstück ist Landsbergs Exkurs über den spanischen Stierkampf als mythopoetische Modellierung des Menschenlebens: Nicht der Torero steht in diesem Modell für den Menschen, sondern der Stier, der zum hoffnungslos unterlegenen Partner und Gegner des Toreros wird. Dieser spielt mit ihm – gleichsam an Gottes Statt – Schicksal in einem Kampf, der nur mit dem Tod des Menschentiers enden kann, entgegen der üblichen Vorstellung, wonach der Mensch in der Person (oder der Rolle) des Toreros einen stets siegreichen Kampf mit dem Tier in sich selbst austrägt. Wäre von daher … wäre unter dieser umgekehrten Perspektive nicht auch der Mythos vom Minotauros neu zu lesen? – Die Kälte bleibt; die Sonne lehnt als rotgoldenes Strahlenbündel am Buckel des Üetlibergs und bildet damit einen auffallenden Kontrast zwischen warmer Farbe und eisiger Starre. Das Gezweig der Bäume und Sträucher, die Baukräne und Kirchturmhüte, die Autos und Sitzbänke – alles ist mit einer sehr feinen, halbwegs durchsichtigen Schicht gefrorenen Dunstes überzogen … wirkt wie verschleiert … sieht aus, als läge ein reißfester Atemhauch über allen Dingen. – Nicht der Blick ins Offene … nicht die Zukunftsperspektive regt zu produktivem Denken und Tun an, sondern die frontale Kurzsicht auf die schwarze Wand. Für Lew Schestow ist die unübersteigbare und undurchschaubare Wand – das Angesicht des Todes – die einzige wirklich effiziente Provokation, die den Menschen … die dich und mich zur siegreichen Kapitulation bewegen kann … die uns zu uns selbst und damit zur Endlichkeit, zur Unerheblichkeit befreit. Angesichts der schwarzen Wand erwachsen wir zum wahren Heroismus, zu einer Haltung, die nicht mehr vom Wollen geprägt ist, weder vom Wissenwollen, noch vom Habenwollen … die sich nur noch als Reaktion auslebt und im Reagieren auf das Unabänderliche und Unumgehbare im Rückschritt überhaupt erst beginnt. Anfang 1995 wurde die japanische Millionenstadt Kobe durch ein Erdbeben zu großen Teilen zerstört – im Verlauf von rund dreißig Sekunden verloren Tausende von Menschen das Leben und Hunderttausende ihren Wohnraum; die in Kobe angesiedelte, für die Stadt unentbehrliche Schwerindustrie war irreparabel angeschlagen. Unentbehrlich? Irreparabel? Heute, knapp zwanzig Jahre danach, hat Kobe seinen einstigen Status als Industriezentrum wiedergewonnen, dies aber nicht durch Wiederaufbau, sondern durch reaktive Umstellung von Schwerindustrie auf Computer-, Bio- und Informationstechnologie. In diesen Wirtschafts- und Wissenschaftsbereichen behauptet Kobe als Sitz des Riken Advanced Institute for Computational Science innerhalb Japans den Vorrang. Ohne das Erdbeben … ohne die schwarze Wand der unaufhebbaren Notwendigkeit wäre diese Erfolgsgeschichte ausgeblieben. Die Katastrophe hat die Stadt in eine unhaltbare Situation gezwungen, von der aus der umgekehrt perspektivierte Neuanfang überhaupt erst möglich wurde. Nach Lew Schestow gilt dies auch für den Einzelmenschen … für jeden einzelnen Menschen, der sich der schwarzen Wand gegenübersieht. Die »keineswegs neue Methode, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen«, heißt es in Schestows großem Essay über Anton Tschechow, »verspricht mehr als sämtliche Induktionen und Deduktionen (die im übrigen nicht durch die Wissenschaft erdacht wurden, sondern schon immer vorhanden waren); sie ist dem Menschen als geheimnisvoller Instinkt eingegeben und kommt immer dann, wenn sie gebraucht wird, zum Zug.« Das klingt beinahe tröstlich und ist doch nur von der bescheidenen Hoffnung diktiert, aus dem unausweichlichen Scheitern das Beste zu machen. Failing better! – Dieses Buch verdanke ich Adrien Pasquali! Er war’s, der mich auf die »Dekonstruktionen einer Autobiographie« von Aldo G. Gargani aufmerksam machte. Ich besorgte mir den schmalen Band, der unterm Titel ›Der Text der Zeit‹ grade eben bei der Edition Pandora erschienen war, ließ ihn zunächst aber ungelesen, bis ich mich nach dem Freitod des Freunds und Kollegen, einige Wochen später, wieder daran erinnerte, mir den Text vornahm und sofort erkannte, wie er – nun leider postum – zu lesen war: als Selbstbekenntnis, Vorankündigung und Kapitulation. »Wir wenden uns wieder uns zu«, sagt Pasquali mit Garganis Worten, »und wir erkennen unsre Realität wieder als das, was jenseits unsres Schweigens liegt. Wenn wir an diesem Punkt schreiben, schreiben wir über diese Trennung; wenn wir sprechen, sprechen wir über diese Abwesenheit. Wir erkennen uns dort wieder, wo wir nicht sind …« Und lapidar die Feststellung: »Nur mein Tod könnte das entscheidende Geschehnis für die Lösung aller Probleme sein …«; dies mit dem seltsamen Zusatz: »… aller Probleme, die mein Sohn nicht zum Ausdruck zu bringen vermag.« – Gelesenes zu vergessen, macht den Akt des Lesens wesentlich; denn Vergessenes ist nicht verloren – es ruht und wirkt anderswo. Bleibt noch immer die Frage nach dem Titel meines kommenden Buchs; ich schwanke weiterhin zwischen »Kehraus oder Das wahre Leben (Roman)«, »Roman (Ein Leben)«, »Leben und Werk (Roman)«.

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