25. Mai

Mit Emil (»Mille«) Fellmanns Tod kommt meine längste noch aktive Freundschaft zum Ende, keine andere war lebhafter und beständiger. Fellmann, eminenter Mathematikhistoriker von fachübergreifender Gelehrsamkeit, schrieb seinen Vornamen gern in Ziffern aus (»1000«), war aber doch viel mehr als ein Mann des Kalküls. Nichts an der unbegrenzten Welt der Zahlen schien ihm fremd zu sein, nichts aus der Geschichte des mathematischen, physikalischen und astronomischen Denkens ist ihm entgangen, und alles, was mit diesem Denken in Berührung kam, war Teil seines wissenschaftlichen Interesses – Platon, Lukrez, Dante, Llull … Bach, Leibniz, Goethe, Philidor, die Kabbala … Kaum ein Gespräch, kaum ein Brief, in dem ich, der zahlenscheue Laie, nicht etwas für mich ganz Neues von Mille Fellmann erfuhr – über Wahrscheinlichkeitsrechnung, über Spiel- und Katastrophentheorie, über jüngste Erkenntnisse zur Theorie der Primzahlen, dazu auch immer wieder Anekdotisches aus dem Alltagsleben Leonhard Eulers, Blaise Pascals, Kurt Gödels und, nicht zuletzt, Detailberichte zum aktuellen Geschehen im Weltschach, das er auf höchstem Niveau unentwegt mitverfolgte und teilweise auch nachspielte. Fellmann war außerdem ein exzellenter Weinkenner, und er wusste über deutsche Barockmusik ebenso gut Bescheid wie über britische und italienische Sportwagen der 1950er/1960er Jahre. Jeder Kontakt mit diesem Freund – auch wenn es bloß ein kurzes Telefonat war – erbrachte für mich einen bleibenden Erkenntnisgewinn, sei’s in irgendeiner Detailfrage, sei’s irgendwo und irgendwie im »großen Ganzen«. Nur über das Leben, nur über uns selbst redeten wir nie. Keiner wusste vom andern irgendetwas Persönliches, nichts Peinliches, nichts Schmerzliches, nichts Hochfliegendes kam jemals zur Sprache zwischen uns. Dennoch gab es außer der intellektuellen Übereinstimmung auch eine tiefe Vertrautheit, völlig unsentimental, immer respektvoll, aber auch fordernd bis zur Erschöpfung. Vor ein paar Wochen hat Mille Fellmann seine editorische Arbeit an Eulers Korrespondenzen mit den Brüdern Bernoulli abgeschlossen, hat sein Haus verkauft, seinen Vorlass vergeben, freute sich auf ein Leben in kleineren Verhältnissen. Der Umzug war schon vorbereitet, die Lieblingsbücher waren in große Kartons verpackt, als ihn ein plötzliches Unwohlsein den Arzt aufsuchen ließ. Noch am selben Tag rief er mich aus der Klinik an, in die er zur »genaueren Untersuchung« sofort eingewiesen worden war. Bedenken äußerte er nicht, Klagen gab es keine, doch mir war klar, dass dies der Abschied sein würde. Drei Tage danach wurde er notfallmäßig operiert, kam dann aber nicht mehr voll zu Bewusstsein, er starb drei Tage danach. Es gab, seinem Wunsch entsprechend, keine Abdankung, keine Trauerfeier, kein Leichenmahl. Und es gibt auch kein Grab. Der Freund ist verweht. – Wer authentisch, dokumentarisch, aufrichtig, wahrhaftig schreiben wolle, meint Warlam Schalamow, müsse nicht nur auf literarische Rhetorik, sondern auf jegliche sprachliche Korrektheit verzichten. Authentisch (und damit glaubwürdig) könne nur sein, was spontan einfällt und unbegradigt festgehalten wird – mit Fehlern, Widersprüchen, Wiederholungen, abgebrochenen Gedanken, Erinnerungen und Aussagen. Von daher kann Schalamow die »künstlerische« Aufarbeitung der Gulagerfahrung durch Aleksandr Solshenizyn nicht authentisch, nicht wahrhaftig finden. Das heißt aber, umgekehrt, keineswegs, dass Literatur als Kunst unerheblich oder grundsätzlich unaufrichtig sei. Doch für Schalamow ist Kunst, ist Literatur nicht in erster Instanz mit der Repräsentation außerliterarischer Welten befasst, sondern mit dem Entwerfen möglicher Welten, die besser, schöner, harmonischer wären als die hiesige Wirklichkeit. Ich glaube hier – bei der Lektüre von Schalamows Essays und Briefen – ein positives prophetisches Engagement herauszuspüren, das sich dann aber letztlich doch wieder nur als eine schöngeistige Utopie erweist. Typisch russisch! Die unbedarfte Interjektion ist in diesem Fall wohl nicht ganz verfehlt. »Gegenstand der Poesie ist die moralische Vervollkommnung des Menschen«, schreibt Schalamow am 28. März 1953 an Boris Pasternak: »Das gleiche Anliegen findet man in den Programmen sämtlicher Soziallehren, und seit dunkelsten Zeiten ist es auch die Grundlage aller Wissenschaften und Religionen.« Da, meine ich, überschätzt und unterschätzt Schalamow die Poesie gleichermaßen. Auch durch die Poesie erwirkt das Kunstschöne kaum je die »Vervollkommnung des Menschen«, und höchst selten hat starke Dichtung das Gute zum Gegenstand oder propagiert es als anzustrebendes Ziel, auch nicht bei Schalamows Lieblingsautoren – Aleksandr Puschkins großer Versroman ›Jewgenij Onegin‹ wie auch Anna Achmatowas epochales ›Poem ohne Held‹, die Romane ›Tote Seelen‹ von Nikolaj Gogol oder Fjodor Dostojewskijs ›Brüder Karamasow‹ künden keineswegs von strahlendem Glück und lichter Zukunft, vielmehr handeln sie von Verlust, Verrat, Melancholie, Langeweile, Gewalt, Täuschung, Eifersucht, Habgier, Hass und Neid in einer Welt, in der gerade das Glück keine Zukunft mehr hat. – Heute früh bei der Hausärztin zum EKG und zu weiteren Untersuchungen vor der Operation in Bethanien; fühle mich gut vorbereitet, gut betreut. Es gibt Befragungen, man liest mir Reglemente vor, reicht mir Formulare zur Unterschrift, sediert mich mit Beruhigungsmitteln. Auf dem Korridor treffe ich meinen Zimmernachbarn – Banker, Anfang fünfzig, großgewachsen, braungebrannt, gut gelaunt –, der sich beim Segeln am Rücken verletzt hat und seither das linke Bein von der Leiste abwärts nicht mehr spürt und es kaum noch bewegen kann. Der Mann geht mühsam an Stöcken, er soll ebenfalls morgen operiert werden. Bei einem Prosecco in der Lounge berichtet er unbefangen von seinem Job bei einer angesehenen hiesigen Privatbank, der ihm monatlich »zwanzig- bis hunderttausend Euro« einbringe, den er aber (»man weiß heute nie«) bereits morgen verlieren könne. Doch der Mensch, fügt er hinzu, lebe bekanntlich nicht vom Brot allein. Er outet sich als ein hochgemuter Esoteriker, der mit Lena, Josef, Luzifer fast familiär vertraut ist, der den Nostradamus studiert und ihn als Prognostiker ernstnimmt; er vertritt die Sache der Palästinenser – wenn er von Israel redet, sagt er »der Jud« und meint damit offenkundig »Judas« und »die Juden« generell. Irgendwann haben wir zu viel geredet und zu viel getrunken, er bietet mir das Du an, »ich bin der Markus«, und fragt mich, ob ich mal zum Golfen oder Segeln oder zu einer Ausfahrt mit den Kollegen vom Oldtimerklub mitkommen würde usf. – Ich schlafe schlecht, wie immer, wenn ich früh aufstehen muss, dazu kommt der Nachtlärm von der Straße, Schmerzen habe ich nicht. Um halb sechs wird man mich zur Operation abholen. In einem hektischen Traum bekomme ich ein paar Episoden aus ›Alias oder Das wahre Leben‹ vorgeführt; Krys hat meinen Roman – ich entnehme es dem Abspann – in den Studios von Barandov nach ihrem eigenen Skript verfilmt. – So kühle Tage wie diesmal Ende Mai werden selten registriert. Es gehört offenbar zu den Besonderheiten der rasanten Erderwärmung, dass es punktuell immer wieder und an ständig wechselnden Orten zu abrupten Temperatureinbrüchen kommt, während gleichzeitig das Makroklima milder wird. Seit fast einer Woche fällt ohne größere Unterbrechung ein kläglicher Sprühregen, von dem man nicht weiß, woher er kommt … von dem man denken könnte, er werde im Fall aufgehalten und statt dessen seitwärts durch die Gegend getrieben. Die graue Szenerie hat etwas Künstliches, der Regen … die winzigen Regentropfen treffen wie trockener pulverisierter Nebel auf Gesicht und Hände, ohne zu schmelzen und zu zerrinnen. Auf der Zunge schmeckt der Niederschlag bald säuerlich, bald salzig. Die Vögel in den Bäumen und Hecken halten ihr Gefieder gesträubt und schütteln den feinkörnigen Regen in kurzen Abständen von sich ab. Bei gefühlten zehn bis zwölf Grad weht ein böiger Wind waagrecht durch die Gärten, Blüten und Knospen verlieren ihre Farbe, werden schlaff, beginnen zu faulen. Das Gefühl der Künstlichkeit … der Verfremdung der Natur durch unerklärliche Übergriffe von außen, von oben wird verstärkt durch die seit ein paar Wochen geltende »Sommerzeit«, zu der es in diesen Tagen keinerlei reale Entsprechung gibt und die morgens wie abends die Dämmerung – hin zur Helle, hin zum Dunkel – zeitlich auf ungute … auf trügerische Weise versetzt. Man könnte meinen … mir kommt es inzwischen vor, als wäre ich mitsamt meiner klösterlichen Umgebung aus der Zeit gefallen. Aus welcher Zeit? In welche Zeit? Die Zeit scheint ohne Fortschritt zu passieren, ich erlebe sie als Unzeit und meine damit ein Zeitgefühl, das Stillstand und Taumel zu einem kalten Orgasmus vereint. – Ich komme auf Robert Pinget (›L’inquisitoire‹), Michel Butor (›La modification‹), Nathalie Sarraute (›Vous les entendez?‹) zurück, einst meine Vorzugslektüren, jetzt nur noch, wenn überhaupt, von historischem Interesse; unergiebig, überflüssig, letztlich trivial – alles so flach, dass es für die Kritik, die Texthermeneutik der 1970er Jahre ein Leichtes war, diese ganze Produktion (nouveau roman) ins Theoretische zu überhöhen und sie auf diese Weise interessant zu machen – die damaligen Analysen sind besser … sind produktiver als das Analysierte. Ausnahmen aber (so weit ich’s mitgelesen habe): Robbe-Grillet, Claude Simon, allen voran Marguerite Duras. – Was hat der Künstler Diter Rot mit dem Philosophen Diderot zu schaffen? Der Gleichklang der Namen überspannt fast drei Jahrhunderte und scheint zumindest eine geistige Verwandtschaft zu beglaubigen. Ist aber – natürlich? – reiner Zufall.

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