26. Februar

Das Gedicht erfordert nicht primär Nachdenken und Hinterfragen, sondern Hinhören … Hinsehen auf das, was Schwarz auf Weiß gegeben ist; und was gegeben ist … was das Gedicht als Gabe ist, erweist sich immer auch – und jedes Mal neu – als ein sanfter Imperativ: Fang etwas an damit! Mach das Gedicht zu deiner Angelegenheit! Lass dir etwas dazu einfallen! – Heute, bevor dann doch der Regen kam, war ich nochmals für eine gute Stunde draußen im Forêt Forel, fand mich plötzlich – und erstmals seit so vielen Jahren – in totaler Stille, ich meine … ich befinde mich in einer natürlichen, nicht von fernen oder nahen Arbeits- oder Verkehrsgeräuschen beeinträchtigten Stille. Ein einziger Vogel gibt ein paar in ihrer Kläglichkeit unerhörte Töne von sich, herrlich, groß, vieles, fast alles umfassend und … aber gleich kommt die Frage auf … das Bedauern des kulturell Belasteten und Geschädigten: »Wie schade, dass ich seinen Namen nicht weiß«. Ja, doch, der Vogel kommt problemlos ohne einen Namen aus, nicht aber ich ohne den seinen. Doch warum, wozu sollte ich ihn wissen müssen? Wenig später glaube ich ein unregelmäßig bellendes Glöckchen zu hören, denke mir ein Schaf dazu, doch schon prescht ein gewaltiger Hund aus dem Unterholz, läuft in die Lichtung, bemerkt mich, hält inne, wirft sich herum, schiesst auf mich zu, jagt bellend um mich herum. Ich merke gleich, dass er mich nicht für sein Beutetier … dass er mich eher für seinen Hirten hält. Der Hund trägt am Hals tatsächlich eine runde Schelle, dazu ein langes weißrotes Stoffband, das bei seinen wilden Sprüngen wie eine Überschrift über ihm flattert; und nun haut er plötzlich ab, ist ebenso rasch im Dickicht verschwunden, wie er daraus aufgetaucht war. Eine Episode ohne jede Bedeutung, gleichermaßen trivial und unverständlich, ein Spektakel, das mich ungewollt zum Zeugen und zum Mitspieler werden ließ. Zum Zeugen und Mitspieler macht mich auch das Gedicht; auch das Gedicht – begriffen als Klangereignis und Sinngabe – kann sich unversehens eröffnen und mich, allein dadurch, für sich engagieren. – Der Nebel sitzt tief, die Sichtweite reicht nicht weiter als bis zum Nachbarhaus oder hinauf zum Dachvorsprung. Das Feuer im Kamin flammt erst nach mehrfacher Umschichtung des Brennholzes auf und muss, um nicht gleich wieder in sich zusammenzubrechen, ständig unterhalten werden. – Große Gespräche – da und dort im Internet – von und mit Odo Marquard, Stéphane Hessel, Lord Weidenfeld. Im Durchschnittsalter von neunzig Jahren geben diese Ältesten ihre Erfahrungen, Einsichten, Irrtümer, Hoffnungen zu bedenken, und sie tun’s mit der Tiefenschärfe eines knappen Jahrhunderts, im Geist und Stil der klassischen Moderne, illusionslos und dennoch optimistisch, mit Skepsis und Neugier, insgesamt – hochgemut. Mit der medialen Revolution haben sie nichts zu schaffen, von heutiger Sprachverluderung und Gedankenblässe ist ihnen nichts anzumerken, sehr wohl aber von höchstem Problembewusstsein, Sorge um die bedrohte Vertikalität des Menschen, Luzidität bei der Benennung und Begründung von ethischen wie von ästhetischen Werten. Keine Rede aber von obsoletem Wertkonservatismus – die drei uralten Zeitgenossen finden ihre Anhänger vor allem in einem jugendlichen Publikum, was vermuten lässt, dass … ja? Was? Dass eine produktive Rückverbindung zum vorigen Jahrhundert womöglich mehr Fortschritt bringt als das progressive Radebrechen aktueller Meinungsmacher. – Ich habe den Roman unter dem neuen Titel ›Alias oder Das wahre Leben‹ nochmals durchgeschrieben, die Abfolge der Kapitel umgestellt, ein Album (mit quasidokumentarischen Bildern) angefügt und werde das Skript nun auch freigeben. Damit fällt der Text gewissermaßen von mir ab, wird sich als Buch verselbständigen und bloß noch dem Namen nach mit mir als Person verbunden bleiben: Was ich geschrieben habe, habe ich nicht. – Inzwischen bin ich mit einem neuen Projekt befasst, noch einmal Prosa … noch einmal ein Roman, zeitlich und räumlich ganz anders angelegt als ›Alias‹, ein stilisierter Bildungs-, Reise-, Entwicklungs- und Abenteuerroman, frei entwickelt am Leitfaden von Jan Graf Potockis Leben und Werk, das in fiktionaler Verfremdung noch einmal auf- und abgerollt wird. Geschrieben sind das erste und das letzte von insgesamt zwanzig Kapiteln. Private Einschüsse wird es hier (im Unterschied zu ›Alias‹) nicht geben, die in Episoden … in Stationen entfaltete Geschichte spielt in den beiden Jahrzehnten um 1800, wird aber enggeführt und zugleich erweitert mit der Parallelhandlung eines Computerspiels, das den Romanplot auf der Gegenwartsebene ablaufen und von einem neutralen Wir-Erzähler kommentieren lässt. Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel, das Denis Diderots clowneske Nummer als tanzender und malender Affe in der Petersburger Akademie zum Gegenstand haben wird. – Ja die Hermeneutik! Nein ich mag sie nicht. In einem Sammelwerk von Kathy Zarnegin zur Wissenschaft des Unbewussten finde ich Unterstützung bei Brigitte Boothe, die in ihrem bemerkenswerten, empirisch aufgezäumten Beitrag mit Bezug auf die Traumdeutung ihre Skepsis unterstreicht, »was den Deutungsbedarf und den psychologischen Sinn von Träumen angeht«. Eine Skepsis, die ich teile und die mir die Träume überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt. Denn Sinnfülle … Sinnbildung kann sich nur dort durchsetzen, wo Bedeutung ausgespart bleibt oder jedenfalls zurückgenommen wird. Gilt auch fürs Gedicht. Je weniger es zu bedeuten hat und zu verstehen ist, desto größer ist sein Sinnpotential. Übrigens arbeite ich zur Zeit in meinem jurassischen Gehäus an einer Strophenfolge, die ich unmittelbar aus meinen täglichen Waldgängen entwickle – aus dem Schreiten, dem Stolpern, dem Springen, dem Schrittwechsel: Was der Leib beim Treten der Erde in sich auf- und hochnimmt, versuche ich danach in die Schreibbewegung einzubringen.

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