29. Februar

Helligkeit, Wärme nehmen auch dort überhand, wo noch alle Pfade eingeschneit, ihre Ränder und Wagenspuren vereist sind. Kein Windchen regt sich, man könnte meinen, die Luft sei abgezogen und habe nichts als Leere zurückgelassen – die reine Möglichkeit; einen solchen Moment vollkommener ungetrübter Virtualität muss Stendhal im Sinn oder in Erinnerung gehabt haben, als er seinen Brulard über Aufstieg und Niedergang räsonieren ließ: »J’étais à la montée de la vie, et avec quelle imagination de feu ne me figurais-je pas les plaisirs à venir? … Je suis à la descente …« Eine Art Hochzeit also, die ihn nach oben trägt und damit auf den Abschwung vorbereitet. – Auch schwer verständliche … auch unverständliche Texte lassen sich durchaus mit verständlichem Wortmaterial herstellen – es braucht dafür keine eigens elaborierten Wortschöpfungen, wie man sie aus der Nonsenspoesie kennt. Bei lyrischer wie bei diskursiver Rede kommt es darauf an, die Bedeutungsdichte auf der Skala zwischen »unverständlich« und »eindeutig« vorab festzulegen – der Grad der Verständlichkeit beziehungsweise des Verstehens ist bei jeder Textsorte eigens zu bemessen, wird aber, solang die natürliche Sprache im Spiel ist, nie bei Null liegen können. Die Kunst poetischen und vollends hermetischen Sprechens besteht darin, die konventionelle, von den verwendeten Wörtern mitgetragene Bedeutung zu relativieren, zu verfremden, zu erweitern und damit von Eindeutigkeit möglichst abzuheben. Bemerkenswerte Beispiele dafür bieten außer der mystischen und formalistischen Dichtung auch die Texte geisteskranker Autoren – Scardanelli, Brisson, Wölfli, Wolfson. Die einen wie die andern darf man sprachverrückt nennen. Die höchste Mitte zwischen beiden hält der russische Wortkünstler Welimir Chlebnikow, dessen »verrücktes« Russisch man auch deutsch (oder in einer andern »Fremdsprache«) lesen kann: Morok. Jarokij. Tjmytsch oblatschitsch
aaaaaNebitsch swjesditsch jasnitsch oblatschnij
aaaaaSkastschik. Skasitsch. Syn skasi
aaaaaI tumannaja Skas naroda
aaaaaWosstawala sa dychanijami utra
aaaaaNebitsch ismjesez sybkij
aaaaaJa semlin no nebitsch swiristel golosok ja dennitsch no nostschitsch wedjmin
aaaaaSyn gresitsch junyj gresitel
aaaaaSyn pesni bylinitsch grjosen.
aaaaaBuditsch – syn budi. Greschenije grjosjba.
– Das war in der Zeit zwischen 1906 und 1908, könnte aber zu jeder Zeit gewesen sein und wird so ähnlich wiederkehren – irgendwann … irgendwo auf dem weiten Kontinent der Dichtersprache. – Herr Wagner war mein erster Französischlehrer – während vier Jahren saß ich bei ihm in der Klasse, mit der ich die Grundstufe des Basler Realgymnasiums absolvierte. Gregor Wagner – er stand damals kurz vor der Pensionierung – nannte sich Jérôme Wagnère, war ein stilbewusster Dandy, bewegte sich mit tänzerischem Schritt, trug einen schneeweißen Schaufelbart, stets ein gestärktes weißes Hemd mit Kartonkragen, dazu breite Hosenträger mit seinen eingestickten Initialen und bequeme, etwas zu weite und etwas zu lange Hosen, schwarz, mit Streifen. Ich mochte ihn, wir respektierten ihn, hin und wieder, wenn ich ihm außerhalb des Unterrichts begegnete und ihn grüßte, gab er den Gruß wortlos zurück, indem er mich mit seiner kleinen blassen Faust leicht in den Bauch boxte. Wagner unterrichtete meist im Stehen oder, noch lieber, im Gehen, dabei schrieb er mit großen Gesten die Wandtafel voll, die dann eher wie ein Gemälde aussah – ein Gewirr von verschiedenfarbigen Linien, die kaum noch als Schrift zu lesen waren. An einen Moment aus jenen Jahren erinnere ich mich noch heute. Wagner, wie immer adrett gekleidet, steht mit offenem Hosenschlitz vor der Klasse, in der sich sofort ein unterdrücktes Kichern breit macht, freilich nicht lange, denn der Kleinste von uns, Rudi M., hebt die Hand und sagt ganz einfach und ganz deutlich: »Es gehören drei Knöpfe zu!« Wagner begreift sofort, kehrt sich auf dem Absatz um und schließt, mit dem Rücken zur Klasse, bedächtig seinen Hosenladen. Danach bedankt er sich für den Hinweis und setzt den Unterricht fort, als wäre nichts gewesen. Eine unerhebliche Episode. Ich habe sie mit einer gewissen Wehmut in Erinnerung behalten, weil mir der kleine Rudi damals bewusst gemacht hat, was Geistesgegenwart ist, was das richtige Wort im richtigen Moment bewirken, überbrücken, retten kann, bewusst aber auch, dass mir eben dies – Geistesgegenwart – völlig abgeht und immer fehlen wird. So auch an diesem 29. Februar. – Müder Mittwoch bei ständigem Wechsel zwischen kalter Lichtfülle und betongrauem Nebel; muss mich immer wieder hinlegen, als hätte ich in einer Stunde die gesamte Lebens- und Arbeitsenergie des Tags verbraucht – kaum liege ich, schlafe ich ein, sehe jedes Mal den gleichen Traum: In der Mitte des Bilds ein riesiges Aug mit leicht verwischter blauer Pupille, drum herum, wie hingestrichen mit sandiger Farbe, ein Adlerkopf, den nun ein Kalbskopf überblendet, den nun ein Hundekopf überblendet, den nun ein Schlangenkopf überblendet, den nun ein Mädchenkopf im Dreiviertelprofil überblendet, den nun … und so fort, eins überm andern, eins das andere verdrängend, Dutzende von Malen, bis ich wieder aufwache, voller Ideen und Erinnerungen, die ich sofort aufschreiben muss, es ist immer zu viel von allem, nie gelingt es, auf dem Papier alles zusammenzuführen, alles mit allem sinnvoll zu verbinden; und bald ist die Müdigkeit wieder stärker als jedes Interesse. Usf. – Bin noch in Gedanken versunken, als ich vom Waldweg nach Bretonnières ins Freie komme und plötzlich das vertraute Profil des Mont d’Or in stark verfremdeter Ansicht vor mir habe. Anstelle der sanften Kuppe erkenne ich eine tiefe, wie von einem Riesendaumen eingedrückte Delle, die dem Berg das Aussehn eines Vulkans gibt. Erst auf den zweiten Blick realisiere ich, dass sich an diesem grauen Morgen eine konturlose Wattewolke – oder eine wolkige Nebelschwade – herabgesenkt hat, die nun, dicht geballt und doch fast unsichtbar, auf der Anhöhe festsitzt. Der erste, offenkundig falsche Augenschein ist aber … war aber nicht weniger wahr als dessen Aufklärung nach kurzem Augenreiben. – Der Dichter Joseph Brodsky hat die Zensur einst als Muse gefeiert … hat die Zensur unterlaufen, indem er sie sich zunutze machte. Ich stimme ihm dabei nicht nur zu, ich tue es ihm gleich … ich tat es ihm gleich, noch bevor er öffentlich von seiner äsopischen Schreibarbeit berichtete. Ich selbst kenne außer der Repression starker Literatur durch wirtschaftliche Zwänge und einen dürftigen Publikumsgeschmack keinerlei Einschränkungen, die mich beim Schreiben behindern … die mich am Schreiben hindern könnten. Hindern? Ich fühle mich durch äußere Zwänge eher gefördert und angeregt als eingeschränkt, und umgekehrt empfinde ich die weitgehende Beliebigkeit heutiger Literaturproduktion, die Lyrik inbegriffen, als lähmend. Statt dem alltagssprachlichen Parlando oder formalistischen Basteleien nachzugeben, halte ich mich lieber an die disziplinierenden Leitfäden der Sprache und verzichte gerne auf die Privilegien freier Meinungsäußerung. Meinungen? Erinnerungen? Erfahrungen? Kann jeder haben! Dafür braucht es keine Poesie. Dass und wie sich starke Poesie gegen Zensur und Diktatur behaupten kann, ist durch die Sowjetliteratur unabweisbar belegt. Jahrzehnte der Repression haben millionenfach Staats- und Parteilyrik entstehen lassen, die heute keinerlei Relevanz mehr beanspruchen kann, während einstmals unterdrückte Autoren und Texte – von Mandelstam bis Schalamow – die russische literarische Kultur auf höchstem Niveau gehalten haben. Ich will damit bloß verdeutlichen, dass sich das formal starke Gedicht selbst unter ungünstigsten Bedingungen und oft erst postum gegen politische, ideologische, thematische Vorgaben oder Einschränkungen durchsetzen kann. Wird es sich aber auf Dauer ebenso gegen die Repression durch Marktzwänge, Modetrends, Desinteresse, inkompetente Kritik und schlechten Geschmack halten können? – Ist dies Lachen eine Bratsche oder eher ein Fagott?
aaaaaDie Umarmung eher Kairos oder Untersuchungshaft?
aaaaaDer Abschied bloß so etwas wie ein … ein Probetod?
aaaaaKein Nachruf der im Vornherein die Klarheit schafft!
– Auch dies ein Tag wie jeder. Wie üblich hole ich um halb sieben die Zeitungen aus dem Kasten, stelle nebenbei fest, dass die meisten Nachbarn ihren Kartonmüll, vorschriftsgemäß zu Packen zusammengeschnürt, am Straßenrand deponiert haben. Also hol ich, um den Abfuhrtermin nicht zu verpassen, die beiden Tragtüten mit den leeren flachgedrückten Verpackungskartons gleich aus dem Keller, stelle sie vor die Haustür. Im Unterschied zu Glas oder Blech ist Karton für mich nicht nur einfach Abfallware, Karton ist schönes, gut sich anfühlendes Material, oft ingeniös geschnitten und zu erstaunlichen … zu praxistauglichen dreidimensionalen Gebilden aufgefaltet, ein besonders sympathischer Stoff der Alltagswelt, sympathisch anzufassen, mit sympathischem Geruch. Karton hat (vielleicht durch seine farbliche und haptische Ähnlichkeit mit Filz) eine durchaus altmodische Aura, wird sicherlich in absehbarer Zeit den nachrückenden Plastikstoffen weichen, die so schön hässlich und antiseptisch sind, so feuer- und fäulnisresistent, dass sie die natürliche Umwelt auf lange Zeit belasten. – Beim Zeitungslesen höre ich die Frühnachrichten auf ORF 1, schalte während einer Korruptionsreportage aus Kärnten auf Espace 2 um, wo Christian Bobin – es ist inzwischen sechs Uhr vierzig – sein Wort zum Tag spricht. Der heutige Schalttag bleibt unerwähnt, der obligate Engel, der ihm wöchentlich zwei-, dreimal in wechselnder Gestalt begegnet, tritt diesmal unter dem Namen Lydie Dattas in Person einer alternden Zirkusartistin auf: »Sie knistert in funkelnden Strähnen durch den halbblinden Spiegel zuhinterst im Flur, ihre bläuliche Mähne lässt die fahrig geweißelte Maske noch fahler erscheinen, und nun – da! – hebt sie ab in das Heiligenleben, das Jean Genet für sie an die dreckweiße Wand gestrichelt hat.« Auch eine Art von Erbaulichkeit! – Das Gedicht braucht’s, um die Sprache gegenüber dem Gesprochenen als geschriebene stark zu machen, eine alte Forderung (ist mir klar); aber dichterische Rede muss als ein anderes Reden legitimiert sein … muss endlich wieder als Gegenrede Geltung gewinnen. Jedes Gedicht ist eine Gegengabe, zu der es keine Gabe gibt … Gegengift! – Weiter nun mit Potocki; manches bildet sich, formal wie thematisch, erst beim Schreiben heraus, bringt mich dann aber oft vom Gesamtkonzept ab, lässt mich vom Hundertsten ins Tausendste driften. Ich werde sehr vieles abbauen und verwerfen müssen, um die überbordenden Stoffmassen wieder unter Kontrolle zu bringen und die Geschichte – Leben und Werk – des Grafen zumindest in ihren Grundzügen präsent zu halten. Doch hier (diesseits des Romans) gestatte ich mir hin und wieder einen kleinen poetischen Exkurs wie diesen: Alles Tort dort wo’s denkt. Wo selbst
aaaaadas Brot im Verdacht ist. Das Spiel
aaaaain Verruf und. Aber keiner gibt der Frage
aaaaa– sich zu stellen! – Zeit. Statt dessen
aaaaagleich mehrere Leben in die zappelnde
aaaaaKatze gepackt. Barbie und Matrjoschka
aaaaain einer Person und. Schon steht bevor
aaaaawas nie nicht kommt. Vorm Klick
aaaaader Schuss. Vorm Zufall der Wurf. So
aaaaageht dem Begehren das Be-Beliebige
aaaaavoran. Doch erst dort wo ich nicht mehr
aaaaageblendet bin von meinen Augen
aaaaa(sagst du) scheint die Nacht und macht
aaaaamir den Sonntag. So gut wie nein.

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