29. Mai

Heute erreicht mich, nach gut dreißig Jahren des Schweigens, ein Anruf von Nicolas Bokov aus Paris, es wird daraus ein kurzes Gespräch über fast nichts, und gleich darauf trifft hier ein Mail von Ilya Kutik aus Evanston ein, der mir einen Blog von Nicolas Bokov übermittelt, in dem dieser seine, Kutiks, Übersetzung meines Poems ›Ausgesungen‹ kommentiert – alle drei sind wir also, getrennt durch viele Lebensjahre und durch Kontinente, unversehens innerhalb von ein paar Minuten wieder vernetzt. Ein kaum vorstellbarer Zufall! Eine schlichte, statistisch bedingte Notwendigkeit? – Alle wollen sie länger leben, am liebsten ewig – um sich gegenseitig zu überleben. – Der seit einhundertfünfzig Jahren wärmste und an Regen ärmste Frühling – schön wäre, im Gegenzug, ein verschneiter Sommer. – Ich lese noch einmal Milan Kunderas Roman ›Das Leben ist anderswo‹, diesmal in der französischen Fassung – eine konventionell, aber gekonnt dahererzählte Geschichte, stilsicher zwischen Sachlichkeit und Ironie ausformuliert von einem allwissenden Erzähler, dramaturgisch ingeniös komponiert, mit interessanten motivischen Versatzstücken (Surrealismus), zumeist stereotypen Frauenfiguren und auch sonst weitgehender Typisierung der Protagonisten (»Maler«, »Mutter«, »Dichter«, »Sohn«, »der Vierzigjährige«, »der Hausmeisterssohn« – Eigennamen spielen so gut wie keine Rolle). Unter politischem Gesichtspunkt ist der Roman, den man neuerdings auf Dünndruckpapier und in Leder gebunden als Klassiker der Pléiade lesen kann, ebenso korrekt wie irrelevant; erotisch bleibt er beschränkt auf »miteinander schlafen«. Durchweg bemerkenswert ist die handwerkliche Qualität des Texts, der aber insgesamt – wenn auch auf hohem Niveau – allzu sehr zur Gefälligkeit tendiert. Mag sein, dass Kundera den Unterhaltungsfaktor des Romans besonders herausarbeitet, um vom autobiografischen Subtext abzulenken. Die Denunziationsgeschichten wie auch deren Begründung und Erklärung dürften mit seiner Vergangenheit als aktiver Sympathisant des tschechoslowakischen Stalinismus zu tun haben – hätte er sie im Stil »ernster« Literatur abgefasst, wären sie stärker in den Vordergrund getreten und hätten zu offensichtlich Bekenntnischarakter angenommen. – Beim Spazieren war ich heute mal wieder umjubelt von Singvögeln, von geigenden Zikaden, noch immer entsetzt von den Kriegs- und Katastrophenbildern im Internet, umspielt von sanftem Licht, erbost über den manipulativen Wahlkampf der SVP, erfreut über die jüngst vereinbarten Verlagsprojekte, stabilisiert vom innern Gleichgewicht, zerknirscht über das Zerwürfnis mit Krys. – Die Szenenfolge ›Das Werk Im Bus Der Sturz‹ von Elfriede Jelinek, aufwendig und effektvoll fürs Fernsehen inszeniert von Karin Baier, erweist sich rasch als ein Thesenstück, das endlos und vorhersehbar Tirade an Tirade reiht, alles ist ideologisch perspektiviert, man hat immer schon verstanden, was man zu hören und zu sehen bekommt, mit allem kann man einverstanden sein, kann es witzig, aber auch betrüblich finden. Die Deklamationen ließen sich durchaus, als karnevaleske Schnitzelbänke, ohne Kulissen und Kostüme vortragen, denn theatralische Substanz bieten sie ebenso wenig wie visuelle Erhellung. Also schalte ich hinüber zu einem Krimi, der einen Doppelmord mit einer in fortgeschrittener Krise stagnierenden Ehestory verknüpft – eine fahrige Inszenierung, der nur eines gelingt, die Geheimhaltung des Täters bis zuletzt, derweil die Auflösung selbst unglaubwürdig bleibt. Wenn ein solcher TV-Schmarren gleichwohl interessanter ist als eine Jelinek, dann deshalb, weil man ja weiß, dass hier jeder Handlungsschritt, jedes Requisit, jede Replik etwas »bedeuten« kann, was zur Lösung des Falls führt; dadurch wird zumindest eine schwebende Aufmerksamkeit wachgehalten. Bei Elfriede Jelinek dagegen weiß man von Beginn an, worauf sie hinauswill, und man kann nur noch zusehen, wie sie – ohne Alternativen zuzulassen – ihre Geschichte von Kalauer zu Kalauer abwickelt und schließlich pointenlos ausfransen lässt. – Ich soll in der Stiftskirche ein großes Orgelwerk vortragen, studiere die kargen, offenbar lückenhaften Noten, verbringe viel Zeit mit Üben, und ein Gleiches tut meine Mitbewerberin, eine jugendliche, dickliche, höchst ambitionierte Dreißigerin, die tief über ihre Manuale gebeugt vor mir sitzt und mit den kleinen weißen Fäusten auf die Tasten einschlägt – ihren Namen (Berger? Brenner? Belgier?) trägt sie wie ein Modelabel im Nacken an ihrem T-Shirt, ihrer jäh eingeblendeten Emailadresse entnehme ich, dass sie Gräfin ist (Comtesse). Das Konzert rückt heran, nein, steht unmittelbar bevor, der Weg zur Kirche ist weit und führt durch viele Korridore und Kreuzgänge und über Feldwege bis zum Fuß der Ostfassade. Viele Leute sind schon eingetroffen, haben sich locker im Kirchenschiff verteilt. Ich betrete den Raum von einer Apsis her, steige auf die Empore, wo es in der Reihe der Sitzplätze einen Stuhl gibt, der mit einem Manual und einem Notenständer zusammengebaut ist. Schräg vor mir sitzt die Belgierin, zeigt mir den Rücken. Das Konzert beginnt, man hört nur Räusperlaute aus dem Publikum, manchmal eine Straßenbahn draußen. Ich staune auf mein Notenblatt, auf das Manual, habe keine Ahnung, wie die Melodie zu spielen ist. Das Publikum wartet, wird nervöser, man tuschelt schon, so vergeht eine halbe Stunde, bis ich endlich in die Tasten greife und ein paar Töne, schrill und falsch, anschlage. Wieder fallen mir die vielen großen Löcher in der Notenschrift auf, ich weiß nicht, wie dieses Nichts zu spielen ist, ob ich improvisieren oder bloß einen lang anhaltenden Ton mit dem Pedal setzen sollte. Das Konzert ist plötzlich aus, die Leute verlaufen sich, murmeln einander Unverständliches zu. Eine attraktive Frau mit auffallend großen und strahlenden Augen kommt auf die Empore, um mir zu sagen: »Der lange Anfang vor dem ersten Ton war doch sicher sehr schwer?«

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