9. Dezember

Um sechs Uhr wach; draußen wird mit kleinen Bulldozern der Neuschnee weggeräumt – Lärm, Gestank, dann laute Flüche, als der Fahrer mit seiner breiten gezähnten Schaufel die unterste Stufe meiner Haustreppe rammt und plötzlich die Hebevorrichtung klemmt; der Arm mit der Schaufel hebt sich auch jetzt nicht, da der Fahrer Vollgas gibt, weiterflucht, vergeblich den Rückwärtsgang einzulegen versucht. In der Gasse schwebt unterm Laternenlicht eine dicke Abgaswolke, sie steigt in unregelmäßigen Stößen ins Dunkel, während gleichzeitig der Schnee in feinsten dichten Flocken niederkommt. – Die Nacht war schwierig, der Schlaf kurz, der Traum harmlos. Immer wieder bin ich aufgewacht; habe mir Walter Zimmermanns neue CD angehört, in der Volksweisen mit Kinder- oder Kunststimmen ingeniös zusammengeführt werden, getragen von minimalen und doch in starken Spannungsbögen sich auslebenden Klangereignissen (Violine solo; Streichquartett); dann erneut auf Manlio Sgalambro (›Tod der Sonne‹) zurückgegriffen, viel zu müde, um die widerständige Prosa und den eigensinnigen Denkstil dieses enormen Autors aufnehmen zu können – statt Zusammenhängen bleiben nur einzelne Sätze: »Nichts ist vor dem Denken sicher.« – »In Wirklichkeit ist die Philosophie für die Schwachen gemacht.« – »Ist einmal die Wahrheit gefunden, muss man sie sich vom Leib halten.« – »Die Werte werden verwirklicht, wie sie es verdienen.« – »Die Zukunft muss geheim bleiben.« Usf. Dann aber direkt zu mir gesprochen und von mir nun hier notiert: »Der Schlaf hat zu Recht keinen Wert. Auch wenn für den Schlaflosen die erfüllte Hoffnung aus einem Versprechen entstehen würde, das man so formulieren könnte: Eines Tags werden wir schlafen …« Uns ausschlafen? Entschlafen! »Daher ist es nicht widersprüchlich zu behaupten«, behauptet Sgalambro, »dass es der Mühe wert war, dieses Ganze der Kultur zusammenzutragen, um zum Schluss zu kommen, dass es der Mühe nicht wert war.« – Ich finde mich auf einer Party in mir unbekannten Räumen. Die Berenike mit den grauen Augen, dem rötlichen Haar soll mit Strauß verheiratet sein. Man berät in ruhigem Smalltalk über eine nicht näher bestimmte Katastrophensituation, und ich bereite nun meine Flucht per Fahrrad über die Alpen vor. Bin noch immer festlich gekleidet (gestärkter Kragen, Schlips, Manschettenknöpfe usf.), doch zum Umziehen bleibt keine Zeit. Ich packe meine Sachen aufs Fahrrad, wissend, welche Anstrengung mich erwartet, hoffend, dass ich nichts vergessen habe. Die andern … alle andern scheinen nicht an Flucht und Rettung zu denken, sie ziehn zur nächsten Party weiter. Die Schöne will mich vom Fahren abhalten, sie hält mich am rechten Fußknöchel fest, als ich das Bein, auf dem linken Pedal stehend, über den Sattel schwinge. Ich bestehe darauf, wegzufahren, kenne die Route von früheren Fluchtversuchen. Diesmal werde ich in der Herberge am Fuß des Mont Ventoux absteigen und im Massenlager übernachten, überlege auch schon, wie ich den Kanton Aargau in Richtung Basel durchquere, sehe vor mir staubige Wanderwege und betonierte Autopisten, die in weit ausholenden, in den Kurven sehr steilen Serpentinen zum Gipfel führen, und gleich überkommen mich ärgerliche Zweifel, die mich zögern lassen. Ich zweifle plötzlich daran, diesen Anstieg schon einmal bis zur Passhöhe geschafft zu haben, und fürchte, es könnte ebenso gut ein Traum gewesen sein, ein Traum wie dieser. – Wieder die Migräne: Schön ist die Angst fast eine Insel (Gerinnsel?). Auf der Stirnseite (Sturmseite?) des Schmerzes weiter nichts (nachts?).

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