Dieter Borchmeyer: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Hiroshima“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Hiroshima“ aus Marie Luise Kaschnitz: Gedichte. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Hiroshima

Der den Tod auf Hiroshima warf
Ging ins Kloster, läutet dort die Glocken.
Der den Tod auf Hiroshima warf
Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich.
Der den Tod auf Hiroshima warf
Fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab
Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich
Auferstandene aus Staub für ihn.

Nichts von alledem ist wahr.
Erst vor kurzem sah ich ihn
Im Garten seines Hauses vor der Stadt.

Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich.
Das wächst nicht so schnell, daß sich einer verbergen könnte
Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war
Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau
Die neben ihm stand im Blumenkleid
Das kleine Mädchen an ihrer Hand
Der Knabe der auf seinem Rücken saß
Und über seinen Kopf die Peitsche schwang.
Sehr gut erkennbar war er selbst
Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht
Verzerrt von Lachen, weil der Photograph
Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt.

 

 

Verzerrtes Idyll

Als Marie Luise Kaschnitz dieses Gedicht 1951 in der Monatsschrift Die Gegenwart veröffentlichte, konnte sie kaum ahnen, daß der Höhepunkt der Legendenbildung um den Todespiloten von Hiroshima, die sie in der ersten Strophe resümiert, um sie in der zweiten zu demontieren, noch längst nicht erreicht war, ja daß eine Legende, die sich erst nach der Veröffentlichung des Gedichts ausbreitete, sogar zur Grundlage seiner Deutung wurde. Es ist die Legende von Claude Eatherly, dem Kommandanten nicht des Bombenflugzeugs „Enola Gay“, sondern der vorausgeschickten „Straight Flush“, welche die Aufgabe hatte, zu erkunden, ob die Wetter- und Sichtverhältnisse über Hiroshima den Bombenabwurf zuließen. Eatherly spielte sich in pathologischem Geltungsdrang später zum eigentlichen Todespiloten auf, stilisierte sein von Trunksucht, Selbstmordversuchen, Kleinkriminalität und Aufenthalten in einer Heilanstalt gezeichnetes Leben zur Geschichte einer verstörten Seele, welche sich von den Gespenstern der Hiroshima-Opfer bis an den Rand des Wahnsinns verfolgt fühlte. Es gelang ihm mit dieser Selbststilisierung zu einem von Schuldgefühlen zerfressenen Märtyrer der Gesellschaft die Atomwaffengegner in aller Welt zu beeindrucken, so auch Robert Jungk und Günther Anders. Dieser führte mit ihm einen Briefwechsel, welcher zehn Jahre nach dem Hiroshima-Gedicht der Kaschnitz unter dem Titel „Off limits für das Gewissen“ veröffentlicht wurde.
„Der den Tod auf Hiroshima warf“ nimmt die Blutschuld auf sich, obwohl er doch nur das zufällige letzte Glied in der Kette eines von ihm nicht verschuldeten Verhängnisses ist und wird deshalb von der Gesellschaft als wahnsinnig stigmatisiert, während die eigentlich Verantwortlichen ihre Schuld leugnen. So die Legende, welche sich seit 1957 um Eatherly herumrankte. Doch „nichts von alledem ist wahr“. Was Marie Luise Kaschnitz zu den ersten Fabeln um den Todespiloten konstatiert, es gilt nicht weniger für die spätere, bis heute nicht ausgestorbene Eatherly-Legende, die sie schon bis ins Detail (Selbstmordversuch, Wahnsinn, vermeintliche Verfolgung durch die Gespenster der Opfer) in der ersten Strophe ihres Gedichts vorzeichnet.
Der wirkliche Kommandant des Bombenflugzeugs war nicht Eatherly, sondern Paul Tibbets. Er und die anderen Besatzungsmitglieder der „Enola Gay“ wurden nach deren Rückkehr bei üppigen Banketten gefeiert und mit hohen Auszeichnungen bedacht. Der Copilot Robert A. Lewis legte sich nach vollbrachter Tat ins Bett und schlief ruhigsten Gewissens nach eigener Aussage zwanzig Stunden. Gleichwohl verbreitete bald die Presse über ihn das Gerücht, er sei in ein Trappistenkloster eingetreten und sühne als Mönch seine Mitschuld. In Wirklichkeit wurde er zum Direktor einer Bonbonfabrik ernannt und trug sich eine Zeitlang mit dem Gedanken, noch einmal über Hiroshima zu fliegen und Candies seiner Firma über der Stadt abzuwerfen.
Marie Luise Kaschnitz ist der Wirklichkeit genau auf der Spur, wenn sie sich den Todespiloten als einen ,sunny boy‘ vorstellt, dessen Leben nach der Katastrophe so verläuft, als wäre nichts gewesen: als eine Familienidylle so recht nach amerikanischem Herzen, deren fingierter Held mit seinem peitscheschwingenden Söhnchen auf der Schulter, „vierbeinig auf dem Grasplatz“, wie ein gedächtnisloses Tier dem Vergessen frönt. Der da im trauten Familienkreis im Garten seines Hauses steht, ist nicht nur der Todespilot, es ist der ganz normale Bürger, der symbolische Repräsentant der vergessensbereiten Gesellschaft, der unbekümmert um das apokalyptische Geschehen, nach dem die Welt eigentlich den Atem anhalten müßte, wohlgemut weiter Häuser baut und Familien gründet.
Und doch: der „Wald des Vergessens“ wächst nicht so schnell, daß die Vergangenheit sich verbergen, erfolgreich verdrängen ließe. Das Familienidyll der zweiten Strophe ist eine bloße Fiktion, ein Abbild der ihren optischen Illusionen ausgelieferten Gesellschaft. Nur dem „Auge der Welt“, das zur Linse der Kamera, zum alles sehenwollenden Auge der publizistischen Öffentlichkeit geworden ist, bietet sich der Anblick eines solchen Idylls. Für den Apparat des hinter der Hecke lauernden Photographen, der die indiskrete Allgegenwart der Medien repräsentiert, setzt man sich in Positur. Doch das aufgesetzte Lachen des im Bild Eingefangenen ist „verzerrt“, erzwungen vom Wissen, beobachtet zu sein. Walten nicht auch hinter seinem Rücken die Gespenster, die er vertreiben wollte? Mit der Scheinwelt der Publizität wird auch das aufgesetzte Idyll zerfallen:

Nichts von alledem ist wahr.

Dieter Borchmeyer, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Bd. 22, Insel Verlag, 1999

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