Eberhard Haufe: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Mozart“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Mozart“. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Mozart

Am Schuh die Schnalle
ist lose, ein silberner Knopf
hat hier gesessen, mich schmerzt
der Hals, die Augen,
wenn ich sie schlösse –

Damals fiel mir auf
die neue Falte
in Colloredos Gesicht –
in Prag das Häuschen,
schwimmend über den Hang,
Gesträuch, eine weiße Woge,
vor sich her – als der endlose
Regen vorüber war, eines
Abends das Licht
auf dem Stainschen Clavier.

Es gab noch zu schreiben
eine Musik,
Holz, ein Dröhnen, irdisch,
unter den Füßen, im Haus
schlägt eine Tür, ich frag nicht,
ich hör sie allein,
ich hab es nicht gern, wenn Constanze
mit dem gläsernen Munde
lacht.

 

Augenblick der Selbstbesinnung

Von Kindheit an war die Musik für Johannes Bobrowski eine große und selbstverständliche Lebensmacht. Seine Liebe galt der Renaissance- und Barockmusik, danach beinahe nur noch Mozart. So sind drei der fünf Komponistengedichte unter den vierzig Porträtgedichten Bach, Buxtehude („Nänie“) und Mozart gewidmet. Das „Mozart“-Gedicht entstand am 9. Juli 1961 in Prerow, im Haus der Schriftstellerin Edith Klatt, deren Gast Bobrowski damals war. Was die Niederschrift auslöste, ist unbekannt; Mozartliteratur besaß Edith Klatt höchstwahrscheinlich nicht. Aber mit Mozarts Leben und Werk war Bobrowski von Jugend an vertraut.
Wie das Buxtehude- stellt sich auch das Mozart-Gedicht als innerer Monolog des Komponisten dar. Da ist keine Distanz zwischen dem Porträtierenden und dem Porträtierten, der Poet redet mit der inneren Stimme des Musikers oder – was ebenso gilt – der Musiker mit der Stimme des Poeten. Das weist auf des letzteren besondere Liebe, auf seine Fähigkeit zu momentaner Identifikation. Was die Verse aussprechen, ist ein Augenblick der Selbstbesinnung, vom Blick auf die eigene Gestalt sich rasch nach innen kehrend, das Heraufkommen weniger Erinnerungsbilder, dann unvermittelt wieder in die Gegenwart tretend, mit Worten des Unwillens gegen die nicht anwesende Gattin. Von der vielberufenen Heiterkeit Mozarts und seiner Musik ist keine Rede, dieser Mozart ist krank und einsam, will allein bleiben: Das Lachen Constanzes weist er von sich. Er ist melancholisch auf ganz unsentimentale, fast trockene Art. Das stellt das Gedicht in Mozarts letzte Lebensjahre, als seine Kränklichkeit zunahm, die Isolierung in Wien wuchs, die finanzielle Not ihn zu entwürdigenden Bettelbriefen zwang. Seinen Reichtum erschließt das eher karge und wie alle Porträtgedichte Bobrowskis zunächst hermetisch anmutende Gedicht erst bei genauerem Blick auf Mozarts Leben und Musik. Hier gilt, was dieser Poeta doctus im Juni 1958 zum Bach-Gedicht einem Freund schrieb:

Ich setze gewisse Kenntnisse biographischer Art oder zur Technik der Künste voraus. Wer große Namen ausspricht, muß auch Bescheid wissen.

Gleich das scheinbar eigenwillige Eingangsbild ist nicht bezugslos gesetzt. Friedrich Rochlitz hat überliefert, daß Mozart auf der Probe für sein Leipziger Konzert vom 12. Mai 1789 den ersten Satz einer eigenen Sinfonie im Hinblick auf die bejahrten Orchestermitglieder betont schnell dirigierte und den Takt dazu „so gewaltig“ stampfte, „daß ihm eine prächtig gearbeitete stählerne Schuhschnalle in Stücken zersprang“. Bobrowski greift diese Anekdote auf, sie zugleich alles Anekdotischen entkleidend. Die defekte Schuhschnalle, auf die der Blick fällt, wird zum ersten Signal eines weitergehenden sozialen und existentiellen Defekts, wenn man weiß, daß der körperlich eher unscheinbare Mozart allzeit größten Wert auf tadellose und elegante Kleidung legte (deshalb vielleicht der nun „silberne“ Schuhknopf). Der schmerzende Hals setzt die negative Signalsprache fort. Für die Augen fehlt die entsprechende Aussage; vielleicht, daß auf das konditionale „wenn ich sie schlösse“ der Sprechende selbst keine Antwort weiß, oder er mag, was er denkt, nicht artikulieren. Oder es ist die Macht der heraufdrängenden Erinnerungsbilder, die den Satz nicht vollenden läßt.
Das „Damals“, womit die Verse vom Präsens ins Imperfekt treten, läßt sich nur ungefähr fixieren. Colloredo – das ist der despotische Fürsterzbischof von Salzburg Hieronymus Graf Colloredo, in dessen entwürdigendem Dienst der junge Mozart als Konzertmeister über sieben Jahre lang stand. Denkt Bobrowski an jenen Maitag des Jahres 1781 in Wien, als es dort zum endgültigen Bruch zwischen Colloredo und dem rebellischen Mozart kam? Wenigstens ist von einer späteren Wiederbegegnung nichts überliefert. Wichtiger ist, was Mozarts inneres Auge sieht: „die neue Falte / in Colloredos Gesicht“ – ein Zeichen des Alterns also, vielleicht auch des Grams oder der zunehmenden Bosheit.
Schon aber drängt das nächste Erinnerungsbild heran: Prag, die Stadt, in der Mozart die größten musikalischen Triumphe erlebte, die treuesten Verehrer fand, als er im Januar/Februar 1787 auf Einladung Bondinis, der den Figaro mit großem Erfolg herausgebracht hatte, zuerst dort weilte. In der Stadt im Palais des Grafen Thun wohnend, war er häufig Gast des Klaviervirtuosen Franz Dušek und seiner Frau, der Sängerin Josepha Dušek, einer Gönnerin Mozarts. Seit drei Jahren wohnten sie in der Bertramka, dem Landhaus eines ehemaligen Weingutes in den Weinbergen von Smichov vor den Toren Prags. Dieses Haus (heute die Mozartgedenkstätte der Stadt), dessen Abbildung in keiner Mozartbiographie fehlt und das seine Hanglage mit Bäumen und Strauchwerk stets deutlich zu erkennen gibt, tritt als helles Glücksbild dem düsteren Erinnerungsbild Colloredos entgegen. Die Verkleinerungsform „Häuschen“ mag sich aus dem Vergleich mit dem Thunschen Palais oder aus Bobrowskis ungenauer Bilderinnerung erklären. „Schwimmend über den Hang“, vor sich her „Gesträuch, eine weiße Woge“: beides gibt dem kleinen Haus eine visionäre Lebendigkeit, deren Bildsprache von fern daran erinnert, daß das Gedicht in Prerow und also am Meer entstand. In vielen Versen Bobrowskis ist Weiß die Farbe der Vision. Hier redet Mozart am stärksten mit der Stimme des Dichters; von Landschaft und Wetter steht in Mozarts Briefen kaum ein Wort. Mitten im Vers setzt das dritte Erinnerungsbild ein, metrischer Hinweis darauf, wie eng es mit dem vorausgehenden zusammengehört. Das „Stainsche Clavier“ – eines der damals modernen Pianofortes des Augsburger Orgel- und Klavierbauers Johann Andreas Stein, die Mozart 1777 bei ihm kennengelernt und seitdem bevorzugt hatte – mag dasjenige sein, das in einem der beiden Mozartzimmer der Bertramka für den Wiener Freund bereitstand. Eines Abends, „als der endlose / Regen vorüber war“, auf ihm „das Licht“. Der bestimmte Artikel assoziiert zweierlei: Es ist von keinem beliebigen Abend die Rede, und: „Regen“ und „Licht“ gehören zu jenen Naturzeichen, die Bobrowski, als er die mehr idyllisch-archaische Sicht der sarmatischen Welt überwunden hatte, sehr bewußt zur geheimnishaft-emblematischen Kennzeichnung letztlich historischer Sachverhalte einsetzte. Da wird der Regen vielfach zum Zeichen des Vergessens, der Vergänglichkeit, auch der Bedrohung, geht dem Schnee voraus, der dasselbe nur noch entschiedener meint. (Vgl. etwa „Ja, ich sprech in den Wind“, „Gedenkblatt“, „Hamann“ von 1960.) Das „Licht“ ist in Bobrowskis gesamter Dichtung das Naturzeichen mit der größten, einer oftmals numinosen Lebendigkeit und Sinnfülle. An diesem Abend in Prag geht es verheißungsvoll dem großen schöpferischen Augenblick voraus.
Eine neue Strophe folgt, aber im Imperfekt fortfahrend, mit der „Musik“ unmittelbar an das „Clavier“ anknüpfend. Damit gehört auch ihr Anfang eindeutig ins längst Vergangene, als Höhepunkt aber, auf den die Erinnerungsbilder zulaufen, von diesen energisch abgesetzt. Während des zweiten Aufenthalts in Prag im Oktober/November 1787, als Mozart die im Auftrag Bondinis nach dem Textbuch da Pontes geschriebene Oper Don Giovanni dort selbst einzustudieren hatte, schob er, wie so oft, die Niederschrift der Ouvertüre, die im Kopf vermutlich längst fertig war, immer wieder hinaus. Erst in der Nacht vom 27. zum 28. Oktober, zwei Tage vor der Uraufführung; kam sie endlich zu Papier. Daraus wurde später eine der strapaziertesten Mozartanekdoten. Das ist die Musik, die es in Prag „noch zu schreiben“ gab.
Was folgt, charakterisiert mit knappesten Worten den machtvoll düsteren Beginn der Ouvertüre. „Musik, / Holz, ein Dröhnen, irdisch“ – das sind die ersten Takte, mit denen die Holzbläser – Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott – das d-moll-Andante geisterhaft einleiten. Sie greifen das Motiv auf, mit dem am Ende der Oper auf Don Giovannis großem Gelage der Steinerne Gast sein Kommen ankündigt. Wo fast alle früheren Interpreten einschließlich Hermann Hesse im Steppenwolf Begriffe wie „überirdisch“, „jenseits“ und ähnliche bemühten, da nennt Bobrowski in entschiedener Gegenwendung diese Musik „irdisch“. Freilich:

irdisch,
unter den Füßen

Das ist die Auflösung und geniale Neufassung der verschlissenen Vokabel „unterirdisch“. Zwei Monate früher sprach das Gedicht „Auf einen Brunnen“ ähnlich von der „Stimme / unter dem Sand“. Einer nur hatte die Vokabel bisher zur Kennzeichnung des Andante der Ouvertüre gebraucht, E.T.A. Hoffmann am Anfang seiner Erzählung Don Juan: „In dem Andante ergriffen mich die Schauer des furchtbaren, unterirdischen regno all’pianto“, das heißt des Tränenreiches, was freilich an Dantes Hölle erinnern sollte. Da Hoffmanns Erzählung innerhalb eines alten Inselbändchens nachweisbar in Edith Klatts Besitz war, legt sich die Annahme verführerisch nahe, Bobrowski sei von ihr zu der produktiven Auflösung des Begriffs angeregt worden. Dann ist auch das „Dröhnen“ dieser Musik vielleicht ein Nachhall aus Mörikes Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“, in der auf dem Höhepunkt das verwandte d-moll-Adagio aus der Friedhofsszene der Oper „die dröhnenden Klänge“ heißt. Indem der Steinerne Gast, aus dessen musikalischer Sprache der Ouvertürenbeginn lebt, der von Giovanni ermordete Komtur ist und diesem zuletzt den Tod bringt, meinen diese ersten Takte selber den Tod – im bewußt radikalen Gegensatz zum anschließenden stürmischen Allegro, in dem die ganze „sinnliche Genialität“ (Kierkegaard) Don Giovannis präludierend schon da ist. Aber Mozart denkt nur an die Eingangstakte vom Tod. Das läßt die Vermutung kaum mehr unterdrücken, daß die Wendung von den „Augen, / wenn ich sie schlösse“ eigentlich die alte euphemistische Rede vom Sterben meinte und daß deshalb der Satz unvollendet blieb. Mit dem Todesgedanken war Mozart seit langem vertraut; der vielzitierte letzte Brief an den Vater beweist es.
Mitten in diese erinnerte Musik vom Tod, nur flüchtig durch ein Komma getrennt, tritt beinahe banal jählings wieder die Gegenwart: Eine Tür schlägt im Haus – man müßte rufen und fragen. Aber lieber will Mozart ihr vieldeutiges Schlagen allein hören und ertragen als dann das Lachen Constanzes (das dreifach wiederholte „ich“ gibt diesen Willen rhetorisch dringlich zu erkennen); denn ihr Mund ist „gläsern“. Das ist eine alte Metapher nicht nur für Glanz, Helle und Durchsichtigkeit, sondern ebenso für Starre und Kälte, Leere und Sprödigkeit, vor allem des Wassers und Eises, dann des Blickes und der Stimme. Das Grimmsche Wörterbuch zitiert Storm:

(Sie) lachte gläsern mit ihrer zerbrochenen Sopranstimme, was mir damals höchst abscheulich klang („Ein stiller Musikant“).

Indem Bobrowski das also nicht ungebräuchliche Adverb zum Attribut des Mundes selbst, nicht nur der Stimme, erhob, intensivierte er dessen metaphorische Bedeutung bis zur Befremdlichkeit, fast gespenstischer Hinweis auf Constanzes in Mozarts letzten Lebensjahren offenbar erkaltete Liebe. Mehr als ein freundliches Erotikon war sie ihm nie. Seine in Leid und Produktivität zuletzt gleich große Isolierung brach sie nirgendwo auf.
Das alles steht eher zwischen als in den Worten des Gedichts und macht doch seinen Gehalt erst aus. Noch seine karge Sprache scheint Ausdruck der sozialen und existentiellen Situation des ganz nach innen Sprechenden zu sein. Ähnlich unsentimental und karg redet zwei Jahre später Bobrowskis „Barlach in Güstrow“, auch er einsam, isoliert, dem Ende entgegensehend. Aber das „Mozart“-Gedicht hält in aller melancholischen Kargheit auch einen großen Augenblick deutscher Musikgeschichte fest – mit einer Vokabel, die ähnlich gewichtig nur zwei Jahre später Wolfgang Hildesheimer in seinen ersten „Betrachtungen über Mozart“ gebrauchte:

In Wirklichkeit ist nichts in der Kunst so irdisch, so menschlich, so sehr von dieser Welt wie Mozarts Musik: sie ist der tiefste und sublime Ausdruck des Menschlichen, des Irdischen, der ganzen Welt…

Eberhard Haufe, neue deutsche literatur, Heft 2, Februar 1981

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