Eckart Kleßmann: Zu Ernst Meisters Gedicht „Der Grund kann nicht reden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Meisters Gedicht „Der Grund kann nicht reden“ aus Ernst Meister: Werkausgabe. Sämtliche Gedichte in 15 Bänden. Band 6: Die Formel und die Stätte. Gedichte. 

 

 

 

 

ERNST MEISTER

Der Grund kann nicht reden

Der schreibt kein Tagebuch,
Grund, der auf Totem und Toten steht,
der die Säulen aus Wasser trägt
und die immer
geschlagene Flotte der Worte…

Er, behäuft mit Verrott und Dunkel,
kehllos Ohnsilbiger unter
rudernden Flossen, fahrenden Kielen!

Stoß ich hinab?
Ich griffe im Finstern wohl
wie faulen Zunder
phönizischen Kindes Gewand,
gelöstes Lotblei,
irrendes Echo, das
Wrack einer Laute…

Tauche ich?
Ich suchte mit Lampen, ich fände
ein Logbuch, welches jedoch
von des Totseins Bewandtnis
nicht spricht, sondern allein
von des Unterganges Beginn:
WIR SINKEN WIR
WERDEN GRUND.

 

Aus einer Gegenwelt

Es gibt in der Musik die Formen von Chaconne und Passacaglia: Über einer sich konstant wiederholenden Baßfigur wird deren Thema in den Oberstimmen variiert. In der alten englischen Musik nannte man diese musikalische Gestalt ground: Grund.
Der Grund des Meeres, von dem dieses 1960 gedruckte Gedicht Ernst Meisters spricht, schichtet sich aus den Ablagerungen von Jahrmillionen; er ist, den musikalischen Formen vergleichbar, nur scheinbar unveränderlich, entwickelt und verändert sich aber unausgesetzt. In einem der Gesänge Ariels aus Shakespeares Sturm heißt es:

Nothing of him that doth fade
But doth suffer a sea-change
Into something rich and strange.

Das kostbare Wort sea-change umschreiben Schlegel-Tieck mit „das nicht wandelt Meereshut“ und vernachlässigen dabei das Verbum suffer, denn die Dinge des Grundes müssen es hinnehmen, erdulden, erleiden.
Alles Lebendige, alles, was ist, beginnt seinen Sterbeweg im Augenblick der Geburt, auch die „geschlagene Flotte der Worte“, die sich auflöst in einem sich ständig verändernden Wechsel von Verfall und Erneuerung. Wer hinabtaucht unter die „rudernden Flossen fahrenden Kielen“ findet eine abgestorbene, sich zersetzende Welt aus „Verrott und Dunkel“, Sie häuft die Kulturen zu übereinanderliegenden Schichten, des phönizischen Kindes Gewand“, das „Wrack einer Laute“. Jede menschliche Kultur erbaut sich auf Sedimenten vergangener Zeiten; kein Dichter, Maler Musiker arbeitet anders als auf und mit dem Grund der Jahrtausende und holt die Gegenwart aus Tiefen, in denen Kunst längst abgesunken ist ins Unbewußte. Unter der gleichmäßigen, undurchdringlichen Oberfläche des Meeres verbirgt sich das Abgründige, in jeder Bedeutung. Der Grund „schreibt kein Tagebuch“, das Logbuch, so es sich dennoch bergen ließe, kann nichts wissen vom Verfall, vom Tod.
Der Grund ist die Gegenwelt jeder Generation. Milliarden Existenzen haben an ihm mitgeschaffen, ohne es zu wissen; die tiefsten Tiefen der Meere entsprechen fast spiegelbildlich den höchsten Höhen der Erde. Wo immer wir sinken:

Wir werden Grund.

Jedes Leben in all seinen Emanationen wird Grund und zerlöst sich im Ablauf der Zeit. Die suchenden Taucher, die tastenden Lampen finden nur die Rudimente von Epochen, sie stoßen auf Wracks von Silberflotten, auf korallenüberzogene Anker.
Doch was uns die Fotos zeigen, ist nur der winzige Rest des noch Sichtbargebliebenen. Sie sind, wie das Logbuch, Zeichen „von des Unterganges Beginn“. Denn des „Totseins Bewandtnis“ ist im doppelten Sinn suffer a sea-change, ist Absinken zum Grund, auf dem ein neuer sich ablagern wird in ständiger Wiederkehr, so wie Themen und Variationen von Chaconne und Passacaglia. „Der Grund kann nicht reden“, aber er ist, und immer wieder gibt er uns Zeugnis von Verfall und Wiederkehr wie in einem ewigen Gedächtnis.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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