Eckart Kleßmann: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Winter, gemalt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Winter, gemalt“ aus Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Winter, gemalt

Und in den weißen Röcken
im Schnee die Österreicher.
Laß uns aufschauen
und ihre Spuren
im Finkenschlag finden,
in den Gebirgsspitzen.
Grün dämmert schon
die Ölbergfarbe
von den Wänden,
die wispernden Scheunendächer.
So leicht wie heute
wechseln die Schatten nie mehr.

 

Innere Spiegelung

Der Sinn – wenn das Gedicht überhaupt einen hat – wird durch eine innere Spiegelung der Worte selber heraufbeschworen.

Man wird guttun, sich dieses Satzes von Stéphane Mallarmé zu erinnern, wenn man sich einem Gedicht wie diesem nähert, das auf den ersten Blick dunkel verrätselt zu sein scheint.
Das beginnt mit dem Titel. Meint er eine gemalte Winterlandschaft? Wohl nicht; „wispern“ und „wechseln“ lösen die Statik auf. Also kein fertiges Gemälde, das als Winterbild an der Wand hängt. Zu denken ist an einen Blick aus einem Fenster, dessen Rahmen die geschaute Landschaft wie ein Gemälde umschließt.
Bewegung kommt in die Landschaft durch die österreichischen Soldaten in der traditionell weißen Uniformfarbe der alten k.u.k. Armee. Ihr wanderndes Weiß bewegt sich hinauf (die Vokale steigern das zum sechsfachen i-Laut in zwei Versen) zu Bildern der Höhe: „Finkenschlag“ und „Gebirgsspitzen“. Die Sonnenreflexe im Gipfelschnee werden hörbar variiert im hellen metallischen Schlag des Finkenrufs, einem Frühlingssymbol.
Die zweite Hälfte des Gedichts (dem Oben wie dem Unten gelten jeweils sechs Verse) malt das Tal, das im Schatten liegt, wenn auch die Gipfel im Licht glänzen. Grün ist die Kontrastfarbe zu Weiß (verschneit und unverschneit); Grün wird hier „Ölbergfarbe“ genannt. Das weckt Assoziationen: Von der Ölfarbe eines grünen Ölsockelanstrichs zur Ölfarbe eines Gemäldes, vom Ölberg (der Garten Gethsemane) zur Passionsgeschichte des Gründonnerstags; und die Passion fällt in den Frühling, in die Zeit aufbrechenden Grüns und schwindenden Schnees.
Geistlich ausgedeutet ließe sich auch denken: Im Winter (Schnee, Weiß) findet die Christgeburt statt, und sie weist schon auf das Passionsgeschehen hin; solche Symbolik kennen wir vom Isenheimer Altar bis zum Gedicht Mörikes („Auf ein altes Bild“).
Den Klang aus der Höhe (Finkenschlag) nehmen die wispernden Scheunendächer im Tal auf, das Wispern des Winds in den Schindeln; ein Laut, der an dieser Stelle dem Gedicht eine Bewegung gibt, deren Akustik von den „wechselnden“ Schatten ihrerseits kontrapunktisch aufgenommen und verwandelt wird in Optik.
Wann ist dieses „heute“? Gewiß nicht fixiert im Kalender. Es ist das Glück eines einmaligen Augenblicks, empfunden als unwiederholbar, aber dauerhaft geworden durch das Gedicht und die Musikalität seiner Rhythmik. Sie erschließt sich leichter, wenn man sich dieses Gedicht laut vorspricht; die beiden letzten Verse zeichnen noch einmal die Auf- und Abwärtsbewegung des Ganzen nach und verharren dennoch in schwebender Bewegung.
„Ein Gedicht“, um noch einmal Mallarmé zu zitieren, „ist ein Geheimnis, dessen Schlüssel der Leser suchen muß.“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den richtigen Schlüssel gefunden habe. Aber es gehört auch zum vollkommenen Gedicht, daß ein Rest von Geheimnis unentschlüsselbar bleibt und ihm wohl auch bleiben muß.

Eckhart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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