edition bauwagen

Die lyrische Reihe edition bauwagen

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Delta der Lyrikverlage“

Im Delta der Lyrikverlage

„Und ein gutes Gedicht, was immer das sonst sei, es ist eine zuschnappende Wortfalle. Dem Leser bleibt dabei die dankbare Doppelrolle: als Beute und als Jäger.“ Soweit Peter von Becker in seinem Nachwort zu Wolfgang Bächlers Liebesgedichten Ich ging deiner Lichtspur nach (S. Fischer, Frankfurt am Main 1988). Als einer, der gerne gute Gedichte jagt und sich anschließend von ihnen umgarnen läßt, habe ich in Zusammenarbeit mit dem Itzehoer Künstler und Kleinverleger Karl-Friedrich Hacker 1999 die lyrische Reihe edition bauwagen ins Leben gerufen, in der neben lyrischen Einzeltiteln in erster Linie die handgeschriebenen Anthologien erscheinen. Seit Hacker mit Traktor und Bauwagen nach Spanien reiste, existiert die edition bauwagen, deren künstlerisches Grundkonzept immer stärker die Verbindung von Bild und Wort geworden ist.

1998 oder Wie es dazu kam
Karl-Friedrich Hacker und ich begegneten uns 1998 auf dem Wege des Mail-Art-Assemblings YE, das ich seit 1993 ungefähr einmal im Jahr herausgebe. Wenige Wochen später beteiligte ich mich an Hackers in dessen edition bauwagen erscheinender Künstlerzeitschrift el mail tao. Der Künstler ließ sich von den Gedichten des Lyrikers anziehen, der Lyriker von den Bildern des Künstlers. So entstand die Idee eines gemeinsamen Künstlerbuches mit Gedicht und Graphik – Momentmale −, das im März 1999 erschien und gleichsam programmatisch vorwegnahm, was wir seitdem regelmäßig in Bücher verwandelt haben: Gedichte gepaart mit Graphik. Ein weiterer Band wurde locker angedacht und mit Selvagismo realisiert. Erst mit dem Entschluß, einen handgeschriebenen Sammelband herauszugeben, entstand die eigentliche Reihe. Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Sechzehn Bände sind bis zum Sommer 2005 erschienen, jährlich ca. zwei bis drei, numeriert und signiert, mit Auflagen von 20 bis 49. Lyrische Einzeltitel und handgeschriebene Anthologien wechseln einander ab. Karl-Friedrich Hacker ist mittlerweile für die komplette (buch-)künstlerische Gestaltung zuständig: Bleisatz und Handdruck, originale Graphik im Innenteil, Buchdeckel mit Originaldruck, Bindung usw., während ich die jeweiligen Editionen als Herausgeber betreue. Ziel der handgeschriebenen Anthologien ist, im Laufe der Jahre ein möglichst umfassendes Kompendium poetischer Autographen zusammenzutragen. Die lyrische Reihe in Karl-Friedrich Hackers edition bauwagen leistet auf diese Weise ihren eigenwilligen Beitrag zur lebendigen Vielfalt der deutschsprachigen Lyriklandschaft nach 2000.

Theo Breuer, Momentmale (1999)
Achtzehn Gedichte, mehrfarbig mit Tintenstrahl auf ausgewählten Papieren gedruckt, neun originale Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker, 27 numerierte und signierte Exemplare, 30 unpaginierte Seiten.

SCHMÄRZEN

sehnen + dehnen
grauschwarzblauer himmelblick
verheißt nichts gutes

HUNDSTAG

totes gefieder
auf verwittertem grabstein
glänzt in der sonne

HALLOWEEN

Korvidenschwärme
hocken auf braunen feldern
picken wintersaat

VORHERSAGE

feiner flockenfall
ausgestopfter sänger hört
eisblumen klirren

Theo Breuer, Selvagismo (2000)
Fünf Langgedichte, darunter eine Positivübersetzungdes Negativgedichts „Ein Gedicht“ von Rolf Dieter Brinkmann, vielfarbig mit Tintenstrahl gedruckt auf verschiedensten Papieren, zehn Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker, 34 numerierte und signierte Exemplare, 41 unpaginierte Seiten.

(…) bezeichnenderweise
lernte ich dich
richtig am ton deiner stimme kennen
hilfesuchend am andern ende der leitung mitten in paris
eine halb & halb vergeßne
begegnung aus dem vorjahr
eine erscheinung – sexy jedoch nicht
an sprache + grammatik intressiert
auf einer party zurückgewiesen
1 überraschender kuß im herbst
schemen nebelfetzen heaps of broken images
die sich im klang
dieser stimme
verdichteten viel
viel später
sollte ich dich
lieben
(…)

Wörter sind Wind in Wolken (2000)
Erste handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Hans Bender, Theo Breuer, Bert Brune, Frieder Döring, Walter Helmut Fritz („VERMUTUNG // Wenn er unbeobachtet ist, / glaubt dieser Stein / (er wandert dann wahrscheinlich umher) / eine Schildkröte zu sein.“), Aldona Gustas, Joachim G. Hammer, Günter Kunert, Axel Kutsch, Siggi Liersch, Frank Milautzcki, Norbert Scheuer, Andreas Noga, Ursula Sachau, Heike Smets, Norbert Sternmut, Günter Vallaster, Guido Vermeulen, Peter Will, originale Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker und Bernd Reichert, bleigesetzte Textcollagen von Hendrik Liersch, Nachwort von Theo Breuer, 37 signierte und numerierte Exemplare, 64 unpaginierte Seiten.

HEIKE SMETS
LANDSCHAFT

Mal mit dem Fahrrad
die Mohnblüte rauf.
Oder lieber laufen.

Immer wieder begegne ich nun – nachdem ich vor einiger Zeit Wörter sind Wind in Wolken zu einem Vers gefügt habe – dem Wind, den Wolken, den Wörtern in den Gedichten, heute erst in Ernst Stadlers Gedicht „Worte“, das seinen Band Der Aufbruch einleitet, und ich bin ihnen ja, seit ich Gedichte lese, immer schon begegnet, denn schier allgegenwärtig sind diese mit dem sinnlichen bilabialen Reibelaut beginnenden Wörter in der Lyrik – zu allen Zeiten und an allen Orten: Wen wundert’s? Allerdings habe ich mir schon die Augen gerieben, als ich am 4. Mai 2000, einen Tag nachdem ich diesen ersten Abschnitt schrieb, Jürgen Beckers über 700 Seiten dicken Band Die Gedichte (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995) irgendwo in der Mitte aufschlage und die folgenden Verse lese:

Wohin mit den Wörtern
pausenlos das Gesprochene verschwindet in der Luft
der Wind nimmt Grammatik und Syntax auf
der Zug der Wolken verwischt
zwischen Westen und Osten den Satzbau
im Regen kommt wieder
zurück das Geräusch vieler Sprachen
der Hagel erinnert an die Rede im Zorn
weiterhin bleibt der Schnee was er ist
ein Bote aus den Gebirgen
wohin mit den Wörtern und wo
bleibt die Sammlung der Zeichen
zum Wiederfinden, Wiedererkennen der Sprache
zum Austausch der Sätze
Fische und Vögel
und alle Tiere fragen so nicht

Soviel abschließend zu der Frage, wer nun wohl zuerst da gewesen sei, Henne oder Ei. 19 Dichterinnen und Dichter sowie 3 Künstler sind dem Aufruf gefolgt, Blätter für Wörter sind Wind in Wolken einzureichen. Daß von 24 eingeladenen Lyrikern 19 bereit sein würden, die harte Arbeit des 37maligen Schreibens (und das auch noch mehrfach) auf sich zu nehmen, war nicht unbedingt zu erwarten, erfüllte den Herausgeber also mit ziemlicher Freude. Herausgekommen ist dabei eine vielsprachige Dichterversammlung, die sich aus allen möglichen Jahrgängen bzw. (Himmels-)Richtungen zusammensetzt, die ich Ihnen kurz vorstellen möchte:

Hans Bender (*1919, lebt in Köln) hat sich seit einigen Jahren den Vierzeilern verschrieben, von denen er uns hier vier zur Verfügung stellt. Während der Jahrzehnte seiner akzentesetzenden Herausgebertätigkeit (beinahe unüberschaubar ist die Menge der Publikationen von Anthologien, Reihen und Zeitschriften) hat Bender viele, viele lyrische Talente entdeckt und gefördert und dafür mehr und mehr auf die Niederschrift eigener Gedichte verzichtet. Allerdings sind, was mancher Leser möglicherweise nicht weiß, mehrere Gedichtbände seit 1951 erschienen.
Walter Helmut Fritz (*1929, lebt in Karlsruhe) verfügt über eine der feinsten Lyrikstimmen im deutschsprachigen Raum, deren Intensität und Präzision beim Lesen tiefe Spuren in den lyrischen Gängen meines Gehirns hinterläßt. Mit seinen zahlreichen Gedichtbänden (darunter zwei Bände Gesammelte Gedichte) ist er einer der wesentlichen Bausteine im Bauhaus der Poesie.
Günter Kunert (*1929, lebt in Kaisborstel) gehört seit seinem ersten Gedichtband von 1950 zu den unentwegten Lyrikern, die sich darum bemühen, dem alltäglichen (unerträglichen) Zeitungsbrei beständig neue und originelle (kristalline) Wortformen entgegenzusetzen, die mit dafür sorgen, daß Sprache vorläufig noch am Leben bleibt. Dabei gelingt es Kunert immer wieder, aus negativen Nachrichten Gedichte zu machen. Und ich behaupte einmal kühn: Wer Gedichte macht, ist, um mit Thomas Bernhard zu sprechen, „naturgemäß“ Optimist (weshalb schriebe er sonst?) und somit ein Mensch, der anderen Menschen Zuversicht vermitteln kann – auch bzw. gerade mit: Elegien.
Aldona Gustas (*1932, lebt in Berlin) hat über 20 Lyrikbände seit 1962 publiziert: Aus ihren zumeist sehr kurzen Gedichten, die immer wieder mit unverhofften Überraschungen aufwarten, strahlt eine herrliche Lebendigkeit, die mich begeistert, ja: begeistert, immer wieder: begeistert. Ich habe bislang über dieses Wort nie so bewußt nachgedacht wie jetzt: es hat urplötzlich einen eigentümlichen, einmaligen Klang und steht vor allen anderen Wörtern vor meinem geistigen Auge, das begeistert zuhört.
Ursula Sachau (1934-2000) ist in erster Linie durch historisch-biographische Romane bekannt geworden, hat daneben aber auch, natürlich, immer wieder Gedichte geschrieben. Welcher Schriftsteller wollte im innersten seiner schreibenden Seele nicht Lyriker sein (oder wie sehen Sie das, Herr Walser?). Ein solcher ist – durch und durch, bin ich geneigt zu sagen –
Peter Will (*1942, lebt in Berlin), der nach 1989 endlich zu (bislang drei) poetischen Publikationen kam, die ihm davor untersagt waren. Ruhig, aber unmißverständlich im Ton, geben mir Wills Gedichte in jedem Vers zu denken.
Bert Brune (*1943, lebt in Köln) ist für mich der Lyriker, der mir mit seinen Gedichten die Leichtigkeit des Seins vermitteln kann, die ich im Alltag allzuoft vermisse. Seine Gedichte verlegt er aus Freude am Büchermachen immer wieder selber. Darüber hinaus ist unbedingt zu erwähnen, daß er der Stadtwanderer unter den Dichtern ist, der – welch wunderbar anachronistisches Bild – seine Gedichte oft noch in Cafés schreibt. Hören wir hierzu Henry Miller: „Along the Champs-Elysées, ideas are pouring from me like sweat. I ought to be rich enough to have a secretary to whom I could dictate as I walk because my best thoughts always come when I am away from the machine.“ (The Tropic of Cancer).
Frieder Döring (*1942, lebt in Troisdorf) ist nicht nur Autor, sondern auch Verleger: In „seinem“ Wolkenstein Verlag erschien 1999 Ohne Punkt & Komma, in dem ich auch einen der vier Lyrikbände von Frieder Döring vorstelle: mit prallem Leben gefüllte Gedichte, die auch das Lied (Leid?) der Sehnsucht singen.
Axel Kutsch (*1945, lebt in Bergheim) gehört mit der Herausgabe von über 20 Sammelbänden zu den fleißigsten Lyrikanthologisten seit den 1980er Jahren, und ein Ende ist erfreulicherweise nicht abzusehen. Daß seine lyrische Produktion darunter offenbar nicht gelitten hat, beweisen die mittlerweile acht mit spitzer Feder verfaßten Gedichtbände, aus denen hier drei Kostproben zu lesen sind.
Joachim G. Hammer (*1950, lebt in Edelstauden) gehört mit elf publizierten Gedichtbänden ebenfalls zu den Lyrikern mit mehr als drei Lesern. Ob es noch 1000 „waschechte“ Lyrikleser gibt? Und ob diese den einen oder anderen Band des Österreichers Hammer kennen? Wenn nicht, sollten sie das vielleicht ändern und auf Gedichte treffen, die nachklingen.
Norbert Scheuer (*1951, lebt in Keldenich/Eifel) hat sich mit seinem bislang einzigen Gedichtband Ein Echo von allem (übrigens von Hans Bender herausgegeben!) in die Gemüter einiger der eben angesprochenen Lyrikleser geschrieben: Bitte lesen Sie in dem langen Essay in Ohne Punkt & Komma nach, was es zu Norbert Scheuers Gedichten sonst noch zu sagen gibt. Our special guest from abroad is
Guido Vermeulen (*1954, lives in B-Brussels) with whom I have been in artistic contact via the mail art network since 1993. Guido makes (visual) poetry in different languages (not in German!) and I am happy to present him here among the German writing poets. In 1996 he edited the lyrical anthology Signs & Stones in the Moonlight (in which I published an English poem) which he dedicated to Federico García Lorca. In the preface of that beautiful book Vermeulen writes: „Poets have become aliens.“ (And that’s that!).
Siggi Liersch (*1954, lebt in Walldorf) schreibt in seinem Begleitbrief zu den Gedichten: „Manchmal der Gedanke: jetzt nur nicht verschreiben! Ich begann, über die Zeilen hinwegzuträumen, aber dann merkte ich rasch, daß ich nicht mehr weiterschrieb. Da kommt kein Computer mit beim Handüberschreiben, beim Handweiterschreiben. Gedanken, die sich nicht beim platten Befehl Entfernen einstellen. Eine andere Automatisierung.“ Liersch kann zwar keinen lyrischen Einzeltitel vorweisen (1997 erschien ein Band mit Kurzprosa und Collagen), gehört aber seit Jahren zu den Bild und Wort collagierenden Beiträgern der Künstlerbücher und Zeitschriften, die sich in erster Linie der kosmographischen Poesie widmen. Daß diese auch eine meiner Leidenschaften ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Als 1956 geborener und in Sistig im Nationalpark Eifel lebender Theo Breuer schätze ich mich glücklich, seit Beginn der 90er Jahre inmitten dieses Netzwerks, aus dem ich mit diesem Buch ein paar Maschen vorstelle, mitzulesen und mitzuschreiben.
Norbert Sternmut (*1958, lebt in Asperg) hat in seinen bislang 9 zwischen 1984 und 1998 erschienenen Gedichtbänden immer wieder die sinnliche Kraft seiner Lyrik aufblitzen lassen. Er ist ein Dichter mit langem Atem, dessen Gedichte sich nicht selten über Seiten hinziehen.
Frank Milautzcki (*1961, lebt in Klingenberg) holte ich mit der Einladung zu diesem Buch aus einer längeren Versenkung. Er erstaunt immer wieder mit taufrischen Versen, von deren Zauberton ich mich gern verführen lasse. Er hat einmal Gedichte in Akzente veröffentlicht, aber der erste Gedichtband läßt auf sich warten: nicht mehr lange allerdings, denn in der edition bauwagen soll es 2001 soweit sein.
Heike Smets (*1967, lebt in Kreuzau) lernte ich zu Beginn des Jahres 2000 kennen, als sie mir unverlangt Gedichte zusandte – mit der Bitte um eventuelle Stellungnahme. Es war ihr erster Schritt in die „Öffentlichkeit“. Der anmutige Grundton der Gedichte von Heike Smets sprach mich unmittelbar an, und demnächst bringen wir ihren ersten Lyrikband in dieser Reihe.
Andreas Noga (*1968, lebt in Alsbach) hat sich der kurzen lyrischen Form verschrieben und zeigt in letzter Zeit auch die Tendenz zur kreativen Auseinandersetzung mit Vorbildern. Eins seiner hier auf handkoloriertem Papier geschriebenen Gedichte zeugt davon: „ottos mops“ gehört zu den unvergänglichen Gedichten Ernst Jandls, der uns in diesen Tagen in die ewigen lyrischen Jagdgründe vorausgegangen ist und als einer der großen Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Lyrikgeschichte eingeht.
Günter Vallaster (*1968, lebt in Innsbruck) schreibt in erster Linie „experimentelle“ Lyrik konkreter, visueller, kosmographischer Natur. Um seine Wort- bzw. Stabenspiele poetisch umzusetzen geht er jedes Risiko ein. Zu seinen Texten für dieses Buch schreibt er: „anbei 3 x 37 texte, in denen ich durch die weiße papierdecke (oder durch die weiße papiereierschale: eins(t), ein(st), ei(nst):) das blaue vom himmel zu kratzen versuchte…“ Engagiert bis in die Haarspitzen, ist er ein Autor, der konsequent seinen Weg geht und dabei auch sehr genau wahrnimmt, was um ihn herum geschieht: 2001 wird er mit dem Erscheinen seines ersten Gedichtbandes belohnt. Mittlerweile zeigt der Kalender bereits den 12. Juni 2000 an, und sämtliche Beiträge sind ins Haus geflattert. Vor ein paar Tagen entdeckte ich in Peter Webers Kölner Antiquariat das Buch Die Pflugspur (Hegner, Köln 1952) von Julius Overhoff, der mit den Versen aus dem Gedicht „Zwei bei der Lampe“ das letzte Wort in Wörter sind Wind in Wolken hat:

Einsilbig wurde der Wind
und läßt seine Wolken,
die tags gejagten,
stehen auf gilbenden Wiesen
des Himmels
am Tore der Nacht.

Andreas Noga, Hinter den Schläfen (2000)
Vierzig Gedichte, mehrfarbig mit Tintenstrahl gedruckt, ein handgeschriebenes Gedicht, zwei Fotografien von Andreas Noga, sieben originale Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker, Nachwort von Theo Breuer, 54 Seiten, 39 signierte und numerierte Exemplare.

GERECHTIGKEIT

Am Straßenrand
der überrollte Marder
zerbeißt keine
Kabel mehr

Am 28. Februar 2000 erhielt ich einen interessanten Brief von Andreas Noga, der mich dermaßen erfreute, daß ich ihn sogleich – telefonisch – beantwortete. Wir kamen schnell zur Sache und erörterten verschiedene Aspekte der Lyrik, beispielsweise, daß mittlerweile wohl alles schon einmal in der Lyrik (in den Künsten überhaupt) dagewesen sei und die Autoren mehr denn je die Verpflichtung hätten, sich mittels der Lektüre einen möglichst großen Durchblick zu verschaffen. Ansprechend fand ich auch das dem Brief beigelegte Gedicht, das Noga nach der Lektüre meines Langgedichts „on the brink of poetry“ verfaßt hatte, in dem er auf die ihn „elektrisierenden“ Verse „Zwischen den Zeilen / steht nichts geschrieben“ gestoßen war:

OBDUKTION

Suchen.
Sezieren.
Fahnden.

Gerne fänden wir
den Tumor
der den Schreiber
drückte.

Doch hinter den Schläfen
steht
nichts
geschrieben

und auch nicht
zwischen den Zeilen.

Es stellte sich heraus, daß Noga die Verse Rolf Dieter Brinkmanns, die ich vollständig in mein Poem montiert hatte, nicht als solche erkannt hatte, sondern glaubte, mich zu zitieren, was er subjektiv ja auch tat: So wurde „on the brink of poetry“ zum Medium zwischen Brinkmanns und Nogas Gedicht. Wesentlich dabei ist natürlich in erster Linie, daß Noga ein originelles Gedicht geglückt ist, interessant aber auch die Entstehungsgeschichte. Hier wird der lesende Lyriker belohnt für sein aufmerksames Lesen, das ein in ihm schlummerndes Gedicht möglich macht, das zusätzlich noch einem Dichter Ehre erweist, von dem Andreas Noga noch keine Gedichte gelesen hatte, es aber bald darauf tat und erkannte, was für außerordentliche Kräfte die Gedichte Brinkmanns ausstrahlen. Andreas Noga ist also zum einen ein lesender Lyriker, in erster Linie ist er jedoch ein lebender Lyriker, der den Dingen auf den Grund und mit weit geöffneten Augen durch die Gegend geht und die Wörter, die er niederschreibt, zunächst einmal sieht und erlebt. Dies zeigt insbesondere die Fotografie „Zuneigung“, die die Eigenart Nogaschen Schreibens naturgemäß besser kennzeichnet als jedes erläuternde Wort. „Ein Gedicht ist klein, es ist niemals eine Kleinigkeit“, behauptet Peter Hacks. In den präzise gefeilten Gedichten von Andreas Noga sind es gerade die kleinen Dinge – wie der sich neigende Pfahl −, die unseren Blick für Sinn und Wesentliches schärfen. In der Tat keine Kleinigkeiten. Es ist ein Beweis unserer rasch entdeckten gemeinschaftlichen kreativen Interessen, daß aus diesen ersten Kontakten gut neun Monate später dieses Buch entstanden ist. Es zeigt uns auch, daß hinter den Schläfen des Lyrikers ein Nichts geschrieben steht, das zu entziffern nun Aufgabe der Leser ist, die mit mancher überraschenden Pointe belohnt werden dürften.

Heike Smets, Farben (2001)
Zweihundert Kurzgedichte, kopiert und mit Tintenstrahl gedruckt, acht originale Linoldrucke von Karl-Friedrich Hacker, Nachwort von Theo Breuer, 55 unpaginierte Seiten, 35 signierte und numerierte Exemplare.

PFLAUMENFLAUM

Sonne
tropft milchig
durch halboffne Knospen.

„Gedichte sind klein, sie sind niemals eine Kleinigkeit“: Diesen Aphorismus von Peter Hacks zitierte ich bereits im Nachwort zu Andreas Nogas Gedichtband Hinter den Schläfen. Wurde der Gedanke den Gedichten von Noga bereits gerecht, so wirkt er im Kontext der Lyrik von Heike Smets wie eine tiefgreifende Erkenntnis, denn kleiner als die Gedichte von Heike Smets können Gedichte wohl kaum sein („Minimalgedichte“ nennt sie der bayerische Künstler und Dichter Thomas Glatz, der bekennender Heike-Smets-Fan ist) – und doch birgt so manches unter ihnen ein großes Bild und, ja, eine weise Erkenntnis. Als ich zu Heike Smets sagte, sie sei eine weise Dichterin, wies sie das Wort „weise“ zurück – verstand offenbar in dem Augenblick nicht, wie ich das Wort meinte. Wir beließen es dabei. An dieser Stelle möchte ich nun einen weiteren Aphorismus zitieren, den ich in William Shakespeares „Hamlet“ gefunden habe: „More matter, less art“. Beispielsweise so wollte ich das Wort „weise“ verstanden wissen. Im Anschluß an dieses Gespräch blätterten wir noch gemeinsam in skandinavischen Gedichtbänden und fanden bei Snorri Hjartarson, dem großen isländischen Lyriker, das Gedicht

BILD

Rot
in der ausgestreckten Hand
des Berges

die Morgensonne

Ich äußerte den spontanen Gedanken, das Gedicht könnte auch von ihr sein. Heike Smets lächelte bloß versonnen vor sich hin: Sie ist nicht so vermessen, ein derartiges Kompliment offensiv aufzunehmen. Die kleinen Gedichte folgen einander in gleichsam rasender Geschwindigkeit – kurvige Berg- und Talfahrten nachempfindend bzw. vor Augen führend. Ich hatte bei den ersten Überlegungen zunächst an ein Buch mit einem kleinen Gedicht pro Seite gedacht und war natürlich um so überraschter, als Heike Smets mich mit ihrem Manuskript konfrontierte. Ich reagierte zunächst ablehnend, entdeckte aber zunehmend die Weisheit ihrer Entscheidung, viele Gedichte auf eine Seite zu bringen. Für mich spiegelt die Anordnung der Gedichte die Paradoxie, daß wir immer wieder Bildern begegnen, die es eigentlich wert sind, zur Kenntnis genommen und verinnerlicht zu werden, aber schon rasen wir weiter (oder vielleicht besser: werden wir weitergezogen?) auf das nächste Bild zu. Hier im Buch haben wir natürlich die Gelegenheit, immer wieder zu bestimmten Versen und Bildern zurückzukehren, aber während einer Fahrt mit dem Auto durch die Eifel (oder anderswo) tun die meisten das nie und auch ich eher selten. Günter Grass betonte bereits in den 1950er Jahren: „Jedes gute Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; jedes schlechte Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; nur den sogenannten Laborgedichten ist die gesunde Mittellage vorbehalten: nie sind sie ganz gut, nie ganz und gar schlecht, aber immer begabt und interessant.“ Heike Smets’ Gedichte kennen keine Mittellage, und sie entstehen nie als „tour de force“. Offenbar verpaßt sie keine Gelegenheit, die sich reihenweise bietenden Gelegenheiten beim lyrischen Schopf zu packen, um in einem ihrer kleinen Gebilde ihre einmalige Sicht der Dinge zu entwerfen. Beim Lesen schmunzle ich und schüttle den Kopf, rümpfe die Nase und nicke und lasse mich in den zentrifugalen Sog dieses eigenwillig gestalteten Lyrikbuches hineinziehen, in dem ich der – auch immer wieder nüchtern und bestandaufnehmend wirkenden – natürlichen Stimme eines Menschen lausche, dem Lyrik nicht zweite, sondern erste Natur zu sein scheint.

Theo Breuer (Hg.), VorBild (2001)
JÜRGEN VÖLKERT-MARTEN
HOMMAGE FÜR VLADIMIR NABOKOV

Eine Schramme am Knie
eines langen dünnen Beines
Ein Schmetterling
blaßblauweiß
heilt Wunden
Für immer an unsichtbarer
Leine

Zweite handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Elisabeth Alexander, Karlheinz Barwasser, Ewa Boura, Theo Breuer, Joseph Buhl, Manfred Enzensperger, Thomas Glatz, Harald Gröhler, Anna Gudera, Karin Kinast, Matthias Kehle, Alma Larsen, Jan Röhnert, Walle Sayer, Jörg Seifert, Raphael Urweider, Jürgen Völkert-Marten, Jan Wagner und David Stone sowie originalen Graphiken von Karl-Friedrich Hacker, Bernd Reichert und Jörg Seifert, Vorwort von Theo Breuer, lyrischer Essay von Joseph Buhl, 75 Blätter.

Die uns
vorleben wollen

wie leicht
das Sterben ist

Wenn sie uns
vorsterben wollten

wie leicht
wäre das Leben

ERICH FRIED (1921-1988)

Dichtung werde von allen gemacht, betonte Lautréamont. Es gibt wenige Thesen über Lyrik, die ich im Verlauf der Beschäftigung mit Gedichten höher einzustufen gelernt habe als diese. Wir schreiben gemeinsam an dem einen Gedicht, das sich aus den vielen Versen zusammenfügt, die die Dichter freigelassen haben, damit sie sich im Leser vollenden (wobei sich die Namen der ursprünglichen Verfasser bei mir beispielsweise mehr und mehr verflüchtigen: Auf das Gedicht kommt es an). In diesem Künstlerbuch schreiben nun zum zweitenmal 19 Dichterinnen und Dichter mit der Hand an dem einen Gedicht, das diesmal den Obertitel VorBild trägt. Die wenigsten werden, wie Elisabeth Alexander, eigens ein neues Gedicht für diese Sammlung verfaßt haben, und doch – wenn wir ein wenig mit dem Wort Vorbild zu spielen beginnen (wie Karl-Friedrich Hacker in seinem Linoldruck „Vorm Bild“), stellen wir schnell fest, daß sich alle hier versammelten Texte und Bilder mühelos mit diesem Wort assoziieren lassen – ob mehr als Urbild, Spiegelbild, Bild oder Vorbild sei dahingestellt. Einer, den ich gern zum Mitschreiben eingeladen hätte, ist der früh verstorbene Christoph Derschau (1938-1995), der uns beispielsweise die folgenden Verse hinterlassen hat, die so wunderbar in Wörter sind Wind in Wolken, die erste handgeschriebene Anthologie unserer lyrischen Reihe, gepaßt hätten:

Ich schreib es auf das
Gedicht vom Wind und
aaaaaaaaaaaaaaaaader Wind
bläst es mir davon…

Und wäre er diesmal dabei gewesen, hätte er sich an Jan Röhnerts Gedicht „Die Sonnenblume“ besonders erfreuen können, denn Derschau klagt in „Saarbrücken – Stuttgart am 29.8.1975“ (im posthum neu aufgelegten Sammelband So hin und wieder die eigene Haut ritzen, Maro 1999):

Sonnenblumen.
Warum besingen wir so selten
die Sonnenblumen?

Mit den handgeschriebenen Gedichten erhielten wir eine Reihe interessanter Begleittexte; Thomas Glatz schreibt:

Meine Gedichte entstehen aus dem unmittelbaren Wahrnehmen sowie Dingen und Worten, die ich im Kopf mit mir herumschleppe. Also nicht unmittelbar Lyrik als Vorbild wie bei Dir. Wenn ich Gedichte schreibe oder zeichne, dann häufig beidhändig. Diese Arbeitsmethode habe ich mal aus Jux in einem Zeichenkurs bei Sascha Kolenc ausprobiert. Ich habe angefangen, alles synchron mit einem Stift in der linken und einem in der rechten Hand zu zeichnen. Später habe ich auch Worte und Textfragmente in die Zeichnungen geschrieben und kam so zum beidhändigen Schreiben. Die Rechte schreibt deutlich, die Linke krakelt synchron mit. Die Überwachungsinstanz „Schere im Kopf“ wird überlistet, die Assoziationen werden freier. Später las ich in E. Gillens Katalog Deutschlandbilder, daß auch Carlfriedrich Claus, der großartige ostdeutsche Grafiker, beidhändig schrieb und Textgrafiken, visuelle Poesie, Textbilder anfertigte. Auch Paul Klee scheint beidhändig gezeichnet zu haben. Nach dem beidhändigen Schreibprozeß erfolgt bei mir ein zweiter Schritt: Textarchäologie. Ich schreibe das beidhändige Gekrakel ins reine. Auch dies ein poetischer Akt. Ich hatte mir schon überlegt, Euch beidhändig Geschriebenes für die Anthologie zu schicken, aber wie gesagt: Gekrakel! Leider werden es keine schönen Textgrafiken wie bei Claus. Manchmal kann ich ein Wort nicht lesen, und ein anderes rückt an dessen Stelle. Der Text wird dadurch eigenartiger, manchmal surrealer, glücklichenfalls poetischer. Als Vorbild für meine, zunächst beidhändig verfaßten und dann mit der Rechten ins reine geschriebenen Texte habe ich die literarische Figur der Auguste Bolte von Kurt Schwitters auserkoren. Auguste Bolte wird von einer Diebesgruppe die Handtasche gestohlen. Sie muß sich entscheiden, ob sie den nach links oder den nach rechts türmenden Teil der Gruppe verfolgt. Wenn ich beidhändig schreibe oder zeichne, komme ich mir auch oft ein wenig wie die hin- und hergerissene Auguste Bolte vor.

Lassen Sie sich auch hin- und herreißen zwischen den rechts- und linkshändig verfertigten Gedichten und Bildern, die uns dieses Künstlerbuch vorstellt. Hans Bender schrieb nach Erhalt von Wörter sind Wind in Wolken, daß er das Buch immer wieder in die Hand nehme, und zwar beim wiederholten Male weniger, um die Gedichte zu lesen, sondern die einzelnen – naturgemäß sehr verschiedenen – Autographen auf sich wirken zu lassen.

Jan Röhnert, Fragment zum französischen Süden 1 & 2 (2001)
Langgedicht mit Fotomontagen, Laserdruck und Bleisatz kombiniert, fünf Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker, 68 unpaginierte Seiten, 37 signierte und numerierte Exemplare.

(…)

Lautlos vergeht die Spinne an der Wand.
Ein herab gleitender Schatten,
von der Schaufel eingekehrt.
Jetzt ist es Morgen.

(…)

Theo Breuer (Hg.), Wortrakete. Visuelle Poesie (2002)
Internationale Anthologie mit visueller, konkreter, experimenteller Poesie von Francisco Aliseda, Martin Amstutz, Theo Breuer, Manfred Enzensperger, Karl-Friedrich Hacker, Klaus Hansen, Dirk Hülstrunk, Axel Kutsch, Siggi Liersch, Henning Mittendorf, Andreas Noga, Antje Paehler und Jörg Seifert, verschiedene Drucktechniken: Laser, Tintenstrahl, Bleisatz, Abwalzung, Stempel, Xeroskopie, 58 unpaginierte Seiten, 48 signierte und numerierte Exemplare.

Schauen wir mit Antje Paehler in die Zukunft:

Eines Tages
drehte ich mich um und lief
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanur
aaaaaaaaaaaaaaaaaaanoch
aaaaaaaaaaaaaaaarück
aaaaaaaaaaawärts.
aaaaaaaZukunft liegt jetzt hinter mir.

Frank Milautzki, Silberfische (2002)
Fünfzig tintenstrahlgedruckte Gedichte, zwei handgeschriebene Gedichte, fünf Linolschnitte, mehrere von Karl-Friedrich Hacker in Blei gesetzte Texte: Titellinolschnitt von Karl-Friedrich Hacker, 60 unpaginierte Seiten, 37 signierte und numerierte Exemplare.

Rückzug. Ausbruch. Rückzug.
Füllfederhalter, Buntstifte, Schreibmaschinen,
die wieder nicht funktionieren.
Sie ekeln sich vor der Wahrheit.
Sie fürchten sich zu weinen.
Sie trinken, Kaffee, Kaffee, Kaffee, rauchen
starke Zigaretten, stoppelbärtig
aaaaaaaaeiner kalten Hoffnung zu
und barfuß über kaltes Steinzeug
und kalt über die letzte Nacht, ja,
kalt über die letzte Nacht.

„Welcher Verleger möchte das Manuskript Silberfische lesen?“, fragte ich vor einigen Jahren in einem Aufsatz über zeitgenössische Lyrik. Die Frage blieb unbeantwortet – nicht zuletzt auch wegen der Eigenart Milautzckis, nicht mit seinen Manuskripten hausieren zu gehen und sich immer wieder für längere Zeit in seinem lyrischen Schneckenhaus zu verkriechen. So erscheint Silberfische – noch einmal gut überarbeitet: Einzelne Verse sind verdichteter, schwächere Texte aussortiert, neue Gedichte eingefügt – nun konsequenterweise in der edition bauwagen: Denn an meiner Einschätzung der Lyrikkraft und Sprachmagie Frank Milautzckis, aus dessen Gedichten ich den gewinnbringenden Einfluß Christoph Meckelscher Lyrik herauslese (O-Ton Milautzcki: „Meckel ist die Zündkerze in meinem Lyrikmotor“), hat sich nichts geändert. Seine Gedichte wirken auf mich wie kleine Luftfahrzeuge, die durch meine geistige Welt schwirren und dort für Furore sorgen. Ich lese in diesen Versen die besondere lyrische, im Prinzip unbeschreibliche Sprache der Gedichte, die vielen nur so genannten „Gedichten“ (die in Wahrheit nichts als in Zeilen gebrochene Prosatexte sind) seit Jahrzehnten abgeht. Das kommt bei Milautzcki so leicht und unscheinbar daher, birgt jedoch Schwingungen verschiedenster Art, aus denen sich jeweils kleine neue (oft zauberhafte) Welten bzw. Weltsichten ergeben. Verdiente Breitenwirkung können wir Frank Milautzcki mit diesen in kleinster Auflage erscheinenden Künstlerbüchern nicht ermöglichen. Deshalb kann auch dieser erste Einzeltitel (wie bei Andreas Noga, Heike Smets und Jan Röhnert) nur der erste Schritt zu einer Kenntnisnahme und Anerkennung bei möglichst vielen Leserinnen und Lesern sein, die auf der Suche sind nach schöner Lyrik, die attraktiv, bildstark, charismatisch, dicht, einfallsreich und filigran ist.

Theo Breuer,  2 0 0 2  (2002)
Dritte handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Holger Benkel, Theo  Breuer, Hansjürgen Bulkowski, Hugo Dittberner, Marjana Gaponenko, Jesse Glass, Marianne Glaßer, Stefan Heuer, Franz Hodjak, Antje Paehler, Olaf Velte, Fritz Werf, Heinz Stein, Christoph Leisten, Anton G. Leitner, Arne Rautenberg, Ludwig Steinherr, Johann P. Tammen, Maximilian Zander sowie Graphiken von Karl-Friedrich Hacker, Heinz Stein und Jean Delvaux, 65 Blätter.

JESSE GLASS
MY SYMPHONY

Everything
You hear
While reading this.

Lyrik findet in den Nischen statt. Lyrik ist nicht wichtig, aber wesentlich. Lyrik ist Sache der „happy few“. Diese wenigen allerdings würden krank ohne die Gedichte. Indem wir die Handschriften der Dichterinnen und Dichter (zusätzlich bereichert durch die originalen Graphiken der Künstler) in den jeweils 37 Künstlerbuch-Exemplaren sammeln, gehen wir auf mindestens doppelte Spurensuche: Denn jedes Gedicht – so es denn Gedicht sein will −, ob Druck oder Autograph, verrät die Handschrift seines Autors und bringt uns Leser in seine Nähe: Das handgeschriebene Gedicht tut es zweifach. Nicht selten äußern die Teilnehmer bei der Einladung Bedenken, ob ihre „schlechte“ Schrift wohl geeignet sei, in einem derartigen Sammelband „verewigt“ zu werden. Welche Lehrer mögen diese Dichter gehabt haben? Schlechte Schrift? So etwas kenne ich nicht. Ich bin bei 2002, nach Wörter sind Wind in Wolken und VorBild dritter Band der handgeschriebenen Anthologien in der edition bauwagen, erneut begeistert von der Vielfalt der Handschriften, die auch dieses Buch wieder zu einer graphisch-visuellen Leseabenteuerreise machen, bei der allerdings auch manche autographische Klippe zu meistern ist. „Immer wieder“, so schrieb mir Hans Bender, Teilnehmer des ersten Bandes, „nehme ich WÖRTER SIND WIND IN WOLKEN zur Hand, blättere darin und schaue mir die Handschriften an.“ Wer würde das tun ohne die Gewißheit, jedesmal eine weitere faszinierende Entdeckung zu machen? Karl-Friedrich Hacker und mir ist die Lust an autographischen Entdeckungen auch nach diesem dritten Band, mit dem nun Handschriften von fast 60 Dichterinnen und Dichtern vorliegen, nicht ausgegangen. Das vierte Autographenbuch, das im Sommer 2003 erscheinen soll, ist schon in Vorbereitung. Die Politiker machen weiter, die Verkäufer machen weiter, die Beamten machen weiter, die Rentner machen weiter, die Kinder machen weiter, die Lyriker schreiben weiter, und die Anthologisten edieren weiter.

Maximilian Zander, Ende der Saison (2003)
Vierzig Gedichte (darunter ein handgeschriebenes), sechs Fotografien von Ulrich Gröning, Titelblatt von Karl-Friedrich Hacker, 50 unpaginierte Seiten, 49 signierte und numerierte Exemplare.

BERICHT ZUR LAGE

Heute mal nicht.
Heute ist wirklich der Tag,
an dem nur die Bäume wachsen,
das Gras grün ist und
die Vögelein singen.

Theo Breuer (Hg.), Ein Dach aus Laub (2003)
Vierte handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Peter S. Altmann, Theo Breuer, Richard Burns, Werner Bucher, Peter Ettl, Wolfgang Fienhold, Michael Hamburger, Hadayatullah Hübsch, Hugo Ernst Käufer, Saza Schröder, Helmut Schmelmer, Regine Mönkemeier, Peter Salomon, Kerstin R. Schlageter, Kajo Scholz, Landfried Schröpfer, Rüdiger Stüwe, Rainer Wedler und Christa Wißkirchen, originale Graphik von Karl-Friedrich Hacker und H. D. Gölzenleuchter, 70 Blätter.

In ihrem Essay „Handschrift“ betont Else Lasker-Schüler, die für ihr faszinierendes lyrisches Künstlerbuch Theben zehn Gedichte mit der Hand geschrieben sowie zehn Lithographien geschaffen hatte, die sie für 50 Vorzugsausgaben der auf 250 Exemplare beschränkten Originalausgabe zusätzlich mit der Hand kolorierte: „Ich habe dasselbe fesselnde Gefühl beim Ansehn einer interessanten Handschrift wie bei einer guten Federzeichnung oder einem Gemälde“ und: „Die Schrift ist ein Bild für sich.“ Wie das so ist, wenn einmal ein Wort (ein Begriff, ein Titel) im Raum steht – wie in diesem Fall Ein Dach aus Laub −, so begegnen wir fortan immer wieder Stellen in Büchern, die darauf verweisen. Bei Walter Helmut Fritz etwa – der mit einem feinen Vierzeiler im ersten handgeschriebenen Band Wörter sind Wind in Wolken vertreten ist – lese ich diese wunderbaren Worte: „Im Gedicht finde ich eine Möglichkeit zu atmen; wach zu bleiben; ein Dach über den Kopf zu bekommen; […] in Augenblicken der Mutlosigkeit nicht zu vergessen, daß etwas vor einem liegt, daß etwas offenbleibt.“ So heiße ich alle Lyrikerinnen, Lyriker und Künstler in dieser vierten Ausgabe der handgeschriebenen lyrischen Sammelbände in der edition bauwagen willkommen. Besonders begrüßen möchte ich als special guests in Ein Dach aus Laub die beiden englischen Dichter Richard Burns (von dem ich die Gedichtbände Black Light und Tree ins Deutsche übertragen habe) und Michael Hamburger (von dem Sie signierte, aus dem Langgedicht „Late“ ausgewählte und von Karl-Friedrich Hacker in Blei gesetzte Passagen vorfinden). Beide, Hamburger und Burns, sind dem von mir so geschätzten Rolf Dieter Brinkmann in den Tagen vor dessen fatalem Unfall in London am 23. April 1975 begegnet und haben mir den Dichter Brinkmann näher gebracht: Richard Burns ist Begründer des International Cambridge Poetry Festival, Michael Hamburger gehörte wie Rolf Dieter Brinkmann (John Ashbery, Erich Fried, Ted Hughes, Jürgen Theobaldy) zu den eingeladenen Dichtern. Mit Hölderlin sind die Dichter stets „unterwegs ins Offene“. Gut, wenn sie gelegentlich „ein Dach aus Laub“ über dem Kopfe haben.

Jürgen-Völkert Marten, So liegen So lieben (2003)
So liegen So lieben sind neununddreißig Gedichte im Bleisatz bzw. zwei von Hand geschriebene Gedichte, Titelblatt und sechs Graphiken von Karl-Friedrich Hacker, 45 unpaginierte Seiten, 40 signierte und numerierte Exemplare.

Dieses Künstlerbuch ist das erste, in dem die Gedichte – bis auf die zwei handgeschriebenen – vollständig in Blei gesetzt wurden. So liegen So lieben ist ein bildschönes, von einem leisen erotischen Hauch umgebenes Buch, in dem Gedicht und Grafik einander liebkosen. Trotzdem geht es permanent zur Sache:

NICHTS RICHTIG

Ich gehe durch dich
und werde zum Zwerg
der Rasierklingen frißt
Nun monierst du
meine gespaltene Zunge
und die blutvollen Reden

Theo Breuer (Hg.), Gegen die Schwerkraft der Sinne (2004)
spinnen vollständig
vernetzt laden sich jetzt
fliegen herunter
LARS-ARVID BRISCHKE

Fünfte handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Michael Arenz, Margot Beierwaltes, John M. Bennett, Beat Brechbühl, Theo Breuer, Lars-Arvid Brischke, Peter Engel, Evert Everts, Adrian Kasnitz, Alexander Maria Kiefer, Jürgen Kross, Hartwig Mauritz, Dieter P. Meier-Lenz, Jürgen Nendza, Peter Riley, Helmut Schmale, Gerd Sonntag, Rainer Stolz und Ron Winkler, originale Graphiken von Karl-Friedrich Hacker und Karin Klemm, 70 Blätter.

Während allzu viele verantwortliche Leute in der westlichen Hemisphäre in erster Linie immer noch höher und noch weiter hinauswollen (wohin nur wollen sie?) und weit mehr Unruhe stiften als sonst etwas, sitzen Jahr für Jahr die Dichter da, um mit der Hand ihre Gedichte für die edition bauwagen zu schreiben. Sie halten inne im Wettlauf des Daseins und erleben – Mal um Mal abschreibend – ihre Verse – intensiver denn je? Genau 100 Menschen haben sich seit 2000 an diesem mittelalterlich anmutenden Unterfangen beteiligt, und es liegen nunmehr fünf Bände vor. Als ich Hans Bender, dem ich Gegen die Schwerkraft der Sinne widmen möchte, am 1. Juli 2004 telefonisch zum 85. Geburtstag gratulierte, meinte er abschließend: „Ich habe übrigens zwei Griechen zu Gast, und gleich sehen wir uns das Spiel der griechischen Mannschaft im Fernsehen an.“ Wie dieses und das nächste Spiel ausgegangen sind, wissen wir ja alle und lassen die portugiesischen Wochen hinter uns mit der Erkenntnis, daß die Griechen offenbar nicht nur die Lyrik erfunden haben.

Axel Kutsch, Fegefeuer, Flamme sieben (2005)
Sechzig Gedichte, fünf originale Graphiken von Karl-Friedrich Hacker, ein handgeschriebenes Gedicht, neunundfünfzig Gedichte sowie Nachwort und Impressum in Blei gesetzt, 65 unpaginierte Seiten, 20 signierte und numerierte Exemplare.

SECHS VERSE SUCHEN EINEN AUTOR

Das Dichten fällt mir diesmal schwer.
Drum muß ein andrer Dichter her.
Sechs Verse sollen es nur sein.
Mir fallen leider keine ein.
So suchen sie, damit was bleibt,
den Autor, der sie niederschreibt.

Axel Kutsch und mich verbindet seit Jahren nicht nur die Leidenschaft für Lyrik. Wir sind darüber hinaus im Laufe der Zeit Freunde geworden, die sich in regelmäßigen Abständen hier im 525 Meter hoch gelegenen Sistig in der Eifel treffen, um (über abenteuerlich Alltägliches, Bewunderns- bzw. Bedauernswertes, Charakteristisches oder Charismatisches) miteinander zu sprechen. Der Gang über die Hügel, durch den Wald, in die Winkel des Dorfes oder auf den Friedhof sind dabei genauso liebgewordene Eigenarten geworden wie das Revue-passieren-Lassen neuer Bücher oder in letzter Zeit entdeckter Autoren. Werfen wir einen kurzen Blick auf das Leben von Axel Kutsch, der am 16. Mai 2005 das 60. Lebensjahr vollendet hat:

Axel Kutsch, geboren 1945 in Bad Salzungen/Thüringen, war von 1969 bis 1999 bei mehreren Tageszeitungen als Redakteur tätig. Er lebt heute als freier Schriftsteller und Herausgeber in Bergheim an der Erft. Kutsch veröffentlichte bislang acht Gedichtbände und edierte zahlreiche Lyrikanthologien. Außerdem sind viele seiner Gedichte in Zeitschriften, Schulbüchern und Anthologien erschienen: bei Artemis & Winkler, dtv/Reihe Hanser, Luchterhand, Reclam, Schöningh und S. Fischer u.a. Nach seiner frühen zeit- und gesellschaftskritischen Lyrik wurden seine Texte in den 90er Jahren zunehmend spielerischer und ironischer. So schrieb die Rostocker Ostsee-Zeitung über seinen 1999 erschienenen Band Wortbruch: „Das allzu Problembeladene ist ebenso wenig die Sache von Kutsch wie eine Überbetonung des Formalen. Er setzt auf jenen heiteren, aber darum nicht weniger tiefen Unernst, den erlauchte Vorgänger wie Morgenstern oder Ringelnatz gepflegt haben.“ Und der Kritiker des Kölner Stadt-Anzeiger meinte: „Hat man sich anderwärts satt gelesen, weckt Kutsch wieder Hunger.“

Mit Fegefeuer, Flamme sieben (Ausgewählte Gedichte der Jahre 1985-2005), dem mittlerweile 15. Künstlerbuch der Reihe möchte die edition bauwagen (in deren handgeschriebenem Buch Wörter sind Wind in Wolken und visuellpoetischem Band Wortrakete er vertreten ist) Axel Kutsch zum runden Geburtstag gratulieren. Meine Wertschätzung Axel Kutschs ist bekannt, ich habe darüber immer wieder geschrieben (u.a. ausführlich in Ohne Punkt & Komma), und die erste Anthologie in der Edition YE NordWestSüdOst ist bewußt Axel Kutsch gewidmet, der für mich (neben Hans Bender) zum Herausgebervorbild geworden ist. Seit Mitte der 1980er Jahre hat Kutsch zahlreiche lyrische Sammelbände herausgegeben, von denen ich Blitzlicht, Der Mond ist aufgegangen, Orte. Ansichten und Städte. Verse (alle Landpresse, Weilerswist) hervorheben möchte. Ohne ihn wäre der Bekanntheitsgrad vieler Dichterinnen und Dichter (auch der meine) in deutschsprachigen Landen erheblich geringer. Kutsch vereint in seinen oft umfangreichen Anthologien nicht nur bekannte, sondern auch zahlreiche weniger bekannte Stimmen, die in ihrer Gesamtheit exemplarisch jeweils das repräsentieren, was im deutschsprachigen Raum an zeitgenössischen Versen geschmiedet wird. Mein Interesse an Kutschs Gedichten ist gerade in den letzten Jahren noch einmal gestiegen, und eine Reihe der hier von Verleger und Buchkünstler Karl-Friedrich Hacker in Blei gesetzten und von Hand gedruckten Gedichte gehört zum festen Bestandteil meiner liebsten Verse. Diese in den letzten 20 Jahren entstandenen Gedichte haben ja nicht nur einen Vorteil: U.a. kann ich diese originell gereimte Poesie auch wunderbar auswendig lernen, was wir von den wenigsten Gedichten heutzutage sagen können. Für all das – und mehr – möchte (sicherlich nicht nur) ich dir, lieber Axel Kutsch, zum Anlaß deines 60. Geburtstags am 16. Mai 2005 sehr herzlich danken!

Theo Breuer (Hg.), In ein anderes Blau (2005)
Sechste handgeschriebene Anthologie – in memoriam Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) und Thomas Kling (1957-2005) – mit Gedichten von Theo Breuer, Gerhard Butke, Richard Dove, Margot Ehrich, Gerburg Garmann, Harald Grill, Markus Haupt, Dieter Hoffmann, Klara Hůrková, Peter Ludewig, Michael Mäde, Andreas Rumler, Christian Saalberg, Cordula Scheel, Christiane Schulz, Iris Schröder, Thomas Schweisthal, Ingrid van Biesen und Martina Weber, originale Graphiken von Karl-Friedrich Hacker und Beate Bündgen, 68 Blätter, Bleisatz und Bindung von Karl-Friedrich Hacker.

„Schreiben, eine Art sich zu verhalten, etwas zu tun.“ Jürgen Beckers Satz aus „Sätze zum Gedichteschreiben“ (gelesen in: Sabine Küchler und Denis Scheck (Hg.), Vom schwierigen Vergnügen der Poesie, Verlag Straelener Manuskripte, Straelen 1997) trifft auf Menschen, die Gedichte nicht nur schreiben, sondern sie zusätzlich – und das 37mal – abschreiben, in doppeltem Sinne zu. Zum sechsten Mal haben wir für ein handgeschriebenes Buch in der edition bauwagen lyrische Handschriften gesammelt. Nunmehr sind es bereits 120 verschiedene Autographen, die wir in dieser Reihe zusammengebracht haben. Leben wir in erneut schwierigeren Zeiten? Mir wohlbekannte Untergrundbahnhöfe einer Weltstadt, in der ich mich heimisch fühle, werden zur Todesfalle. Fernsehen nach der Jahrtausendwende bedeutet in erster Linie: Sport und Mord. Der Druck am Arbeitsplatz nimmt ständig zu, wird phasenweise unerträglich. Wohin? „In ein anderes Blau.“ Es werden wahrscheinlich mehr Bücher gedruckt denn je. Ein Verbrechen an den Bäumen. „Müßte man jedes Wort kaufen und teuer bezahlen, es würde sorgfältiger geschrieben.“ (Jürgen Becker) Ein Versuch in der Zeit nach 2000, Menschen wieder zum Lesen von Gedichten zu verleiten, heißt: „Poesie in die Stadt“. Was in London mit „Poems on the Underground“ seit vielen Jahren mit großem Erfolg gelingt, scheint hierzulande eher zu versanden.

LONDON AIRPORT

Last night in London Airport
I saw a wooden bin
labelled UNWANTED LITERATURE
IS TO BE PLACED HEREIN.
So I wrote a poem
and popped it in.
CHRISTOPHER LOGUE

„Letzten Endes ist das Gedicht eine Sache zwischen zwei Personen und nicht zwischen zwei Seiten.“ (Frank O’Hara)

UND SCHON IST ES ABEND

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.
SALVATORE QUASIMODO

Ich fühle mich heimatlos und denke: Das Gedicht ist meine Heimat.

Erschienen in: Theo Breuer – Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

 

Fakten und Vermutungen zum Autor und Buch + Würdigung
Homepage der edition bauwagen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00