Erich Fried: Zu Paul Celans Gedicht „DAS FREMDE“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Erich Fried: Zu Paul Celans Gedicht „DAS FREMDE“ aus dem Nachlaßband Paul Celan: Zeitgehöft. −

 

 

 

 

PAUL CELAN

DAS FREMDE
hat uns im Netz,
die Vergänglichkeit greift
ratlos durch uns hindurch,

zähl meinen Puls, auch ihn,
in dich hinein,

dann kommen wir auf,
gegen dich, gegen mich,

etwas kleidet uns ein,
in Taghaut, in Nachthaut,
fürs Spiel mit dem obersten, fall-
süchtigen Ernst.

 

Auch ein Liebesgedicht

Oft wird behauptet, Paul Celans Gedichte, namentlich die späteren, seien unverständlich, und sein Ansehen stütze sich auf den schönen Klang, auf die Dunkelheit seiner Verse und auf die Eindringlichkeit der wenigen verständlichen Stellen. In diesem Gedicht hier – aus dem Nachlaßband Zeitgehöft – sind Sprache, Inhalt, Lebens- und Sterbensgefühl unverkennbar Celans Eigenart. Das Gedicht ist auch auf den ersten Blick als einheitlich zu erkennen. Es fordert die Frage, wieviel verstanden werden kann, geradezu heraus.
Die ersten zwei Zeilen geben die Grundsituation an. Ein Schicksal hat uns im Netz. Ein Schicksal, das anscheinend von außen kommt, mit dem der Dichter sich nicht identifizieren und das er nicht ganz enträtseln kann. Daher „Das Fremde“.
Eine Macht, die auch in diesem Netz waltet, ist die Vergänglichkeit. Sie ist unser Los und macht uns zuletzt zunichte, gleichviel wie wir uns zu unserem Dasein im Netz stellen, ob es uns fremd ist, ob wir mitspielen wollen. Die Vergänglichkeit greift durch uns hindurch und beweist so, daß unsere Körper, und nicht nur sie, nicht so fest sind, wie wir manchmal meinen. Dieses Durch-uns-Hindurchgreifen der Vergänglichkeit hat aber auch etwas vom rücksichtslosen, gnadenlosen Durchgreifen einer Tyrannei oder ihrer Behörde, der der Dichter sich im Leben ausgesetzt fühlt. Aber auch diese mächtige Vergänglichkeit (deren Macht freilich nur im Vergehen und Vergehenmachen besteht) hat nicht Sinn und Zweck. Sie greift „ratlos“ durch uns hindurch.
Durch uns. Es ist ein Gedicht vom Ausgesetztsein, aber es ist kein Einsamkeitsgedicht. Das „uns“ steht nicht für ein Kollektiv, nicht für viele, sondern offenbar für Zwei. Für zwei durch eine innige Beziehung verbundene Menschen.
„… zähl meinen Puls, auch ihn, / in dich hinein“ – das ist die engste Vereinigung, die Menschen möglich ist; sie wurde noch nie zuvor so in Worte gefaßt. Auch ein Liebesgedicht also, wenn man es in der Verdüsterung im Netz so nennen darf. Diese innige Vereinigung, in der das Du neben anderem auch den Puls des Ich in sich hineinzählt, hat außerdem auch Bündnischarakter. Nur ist es ein sonderbares Bündnis: „dann kommen wir auf, gegen dich, gegen mich“.
Ein Liebesbündnis gegen das Schicksal („auch gegen die Vergänglichkeit?“), das dann aber zuweilen wie ein Abkommen zwischen dem Schicksal und jeweils einem der Partner gegen das Aufkommen des anderen wirken kann? Vielleicht ist die Partnerin, die den Puls, auch ihn, in sich hineinzählen soll, auch die Vergänglichkeit selbst; oder seine Gefährtin im Netz erscheint ihm als die Vergänglichkeit, weil die Vergänglichkeit so oder so immer mit im Spiel ist.
Die letzte Strophe macht die Situation der Ausgesetztheit wieder deutlich: „etwas kleidet uns ein“. Offen bleibt, ob dieses etwas das Fremde ist, das uns im Netz hat. Die Einkleidung ist Einkleidung für ein Auftreten, für ein Spiel, aber für ein Spiel mit einem ungleich stärkeren Partner, „fürs Spiel mit dem obersten, fall- / süchtigen Ernst“.
Wer das ist, das schimmert durch die Umschreibung durch. Die Silben- und Zeilentrennung „fall-süchtigen“ betont noch stärker das schließliche Fallen, und wie krankhaft der oberste Ernst auf dieses Fallen versessen ist. Taghaut und Nachthaut sind die beiden Hüllen, in die wir für dieses Spiel mir vorbestimmtem Ausgang eingekleidet sind.
Also eigentlich ein sehr verständliches Gedicht. Verständlich auch dort, wo es mehrdeutig wird oder einen fast schon unverhüllten Gegensinn enthält, etwa wenn wir aufkommen, wenn aber einschränkend dazugesagt wird „gegen dich, gegen mich“ (abwechselnd wie Taghaut und Nachthaut). Das ist natürlich ein sehr fragwürdiges Aufkommen, durch das auch gleich der Sinn des Liebesbündnisses in Frage gestellt wird: Ist der Pulsschlag der innigen Vereinigung nicht zugleich Zeitmaß der ratlosen Vergänglichkeit? Mir bedeutet dieses Gedicht unter anderem deshalb soviel, weil es das alles ungleich kürzer und einfacher und vielfacher sagt, als diese meine Erklärung es kann.

Erich Fried, 1976, aus: Erich Fried: Die Muse hat Kanten, Verlag Klaus Wagenbach, 1995

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