Eva Demski: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Frühling“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Frühling“ aus Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. 

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Frühling

Wir wollen wie der Mondenschein
Die stille Frühlingsnacht durchwachen,
Wir wollen wie zwei Kinder sein,
Du hüllst mich in Dein Leben ein
Und lehrst mich so, wie Du, zu lachen.

Ich sehnte mich nach Mutterlieb’
Und Vaterwort und Fsuhlingsspielen,
Den Fluch, der mich durch’s Leben trieb,
Begann ich, da er bei mir blieb,
Wie einen treuen Feind zu lieben.

Nun blühn die Bäume seidenfein
Und Liebe duftet von den Zweigen.
Du mußt mir Mutter und Vater sein
Und Frühlingsspiel und Schätzelein!

– – Und ganz mein Eigen…

 

Sonnenblume und Peitsche

Das neue, das zwanzigste Jahrhundert hatte gerade angefangen, und es schien tausend Hoffnungen auf eine neue Menschheit mitzubringen. Else Lasker-Schüler legt im November 1900 das Gedicht „Frühling“ einem Brief an den Anarchisten Albert Weidner bei. Knapp zwei Jahre später wird sie es in ihren ersten Gedichtband Styx aufnehmen. Von Zukunftshoffnung ist in dem Gedicht aber nichts zu spüren.
Das Gedicht „Frühling“ klingt in seiner ersten Strophe sanft, romantisch und konventionell – und voller Sehnsucht nach einem idealisierten Kindsein. Stünde das erste Komma in der fünften Zeile nach dem Wort „mich“, würde das Gedicht in seinem schmerzlosen Pastell verharren – aber es steht nach dem „so“, und das ändert alles, Verzweiflung verdunkelt den Text: Wenn das geliebte Gegenüber die Dichtende nicht ganz und gar umhüllt, wird es kein Lachen für sie geben.
Es kommt noch bitterer: In der Mitte der zweiten Strophe ändert sich die Tonart ein weiteres Mal, nicht mehr insgeheim, sondern unüberhörbar. „Der Fluch, der mich durch’s Leben trieb“ – welchen Fluch meint sie? Es ist zu einfach, ihr Judentum allein verantwortlich zu machen für ihr Empfinden, einen „treuen Feind“ zu haben, dem sie nicht entrinnen kann. Das Fremdsein, das sie kultiviert und zelebriert, hat viele Wurzeln, das Judentum ist eine der wichtigsten, aber vielleicht nicht einmal die stärkste.
Zu der Zeit, als sie das Gedicht „Frühling“ schreibt, ist sie eine Frau von über dreißig Jahren, verheiratet und schon fast wieder getrennt, Mutter eines Sohnes, dem sie den Namen ihres jung gestorbenen Bruders Paul gegeben hat, und sie lebt im bunten Berlin. So vielfältig wie ihre Kostümierungen sind ihre Liebesgeschichten, immer golden überhaucht, bestirnt, glitzernd und exaltiert. Sterne spielen in ihrem dichterischen Werk eine große Rolle, den Verlust der Unschuld dieses schönen Worts wird sie noch erleben und überleben, im wahren Jerusalem, das ihrem gedichteten überhaupt nicht ähnlich sieht.
Die seit zehn Jahren tote Mutter lebt in ihren Gedichten wie eine Art orientalischer Liebesgeist weiter. Auch Mutterlosigkeit, verlorene Kindheit, Ausgesetztsein sind ein „Fluch, der sie durch’s Leben treibt“. Sie erfindet sich eine Gegenwelt, eine Mischung aus Tausendundeiner Nacht und talmudischem Glanz, ihren Großvater nennt sie „Rabbuni“ und zum Vater ihres Sohnes Paul, der zur Zeit des Frühlingsgedichts noch ein Baby ist, erklärt sie einen spanischen Prinzen. Selbst unter den zahlreichen schrägen Vögeln des Jahrhundertanfangs fiel sie auf, der „Prinz“, mit ihren Phantasiekleidern und falschen Klunkern und ihren riesigen, untröstlichen schwarzen Augen.
„Ich weiß nicht“, schreibt sie 1901 in einem Brief an Julius Hart, „daß meine Hände so verschiedene Dinge tragen, in der rechten halte ich Sonnenblumen in der linken eine Peitsche“; und so ist auch die dritte Strophe dieses Gedichts – trügerisch blühend, sanft, romantisch und kindheitssehnsüchtig, ja, fast süßlich mit dem „Frühlingsspiel“ und dem „Schätzelein“ –, bis dann in der letzten Zeile ganz unschuldsvoll die Peitsche ausgepackt wird:

– – Und ganz mein Eigen…

Psychologen sagen, es gebe eine magische Phase bei Kindern, das ist die, in der die ganze Welt, ob Teppich, Schuh oder Stein, belebt ist. Die müsse mit sechs, sieben Jahren ausgestanden sein. Sonst ist man Dichter oder verrückt. Oder beides. Else Lasker-Schüler behielt die magische Phase ihr Leben lang, und den Fluch der Fremdheit dazu. Sie wollte aber mit aller Gewalt immer wieder eine Heimat haben: die Liebe. Und wurde auch aus ihr immer wieder vertrieben.

Eva Demskiaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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