2017-04-22

Staunenswert und dennoch plausibel, dass die Natur – nicht anders als „Gott“ – für Individualität keinerlei Interesse, nur Verachtung zeigt; alles Individuelle, all meine Besonderheiten, Fähigkeiten, Schwächen usf. erweisen sich im Ernstfall – bei Katastrophen, im Krieg, bei Seuchen, beim Sterben und im Tod allemal – als unerheblich; es wird ausgelöscht, während doch das Gattungsmässige, Generative, über alle Gefährdungen hinweg, mit Rettung rechnen kann.
Tatsache bleibt anderseits, dass jedes Einzelwesen hienieden mit einmaligen, unverwechselbaren Eigenschaften ausgestattet ist – keine Pupille, keine Innenhand, keine Stimme, kein Blattwerk an irgendeinem Baum, kein Stein, nichts ist doppelt vorhanden, und trotzdem hat es letztlich, über die Zeit seiner Existenz hinaus, nichts zu bedeuten, nicht einmal als Spur seiner unbegreiflichen, womöglich ganz und gar sinnlosen Einzigartigkeit.

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Der Mensch – die Menschheit – entwertet sich täglich, stündlich durch unaufhaltsames quantitatives Überhandnehmen, das jede Individualität beziehungsweise den Wert individueller Selbstbehauptung zunichte macht.
Ah, der Mensch sollte zu den raren, vom Aussterben bedrohten Tierarten gehören; nur das könnte seine Rettung sein − Rettung vor sich selbst.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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