Angefangen mit Joyce

Bei Umfragen unter Sachverständigen nach dem „bedeutendsten“ Romanwerk des 20. Jahrhunderts wird in aller Regel, meist ohne Zögern und ohne Vorbehalt, der Joyce’sche Ulysses genannt. Doch was an diesem Text, den ausser spezialisierten Anglisten kaum jemand vollumfänglich gelesen und auch unter diesen wohl niemand vollumfänglich verstanden hat, soll oder kann denn eigentlich seine singuläre „Bedeutung“ begründen? Woraus erwächst sie? Und inwieweit wiederum ist diese „Bedeutung“ für den gewöhnlichen Romanleser von Bedeutung?
Ich habe mir das Buch unlängst (als in der Presse von einer kollektiven deutschsprachigen Neuübersetzung die Rede war, die aus rechtlichen Gründen nicht im Druck wird erscheinen können) erneut zur Lektüre vorgenommen. Schon als Gymnasiast hatte ich Ulysses in der Goyertschen Erstübersetzung kennengelernt, den Roman dann, viel später, in der einst weithin belobigten, heute philologisch allerdings umstrittenen Fassung Hans Wollschlägers wiedergelesen, bis ich anhand der russischen Übersetzung von Sergej Chorushij einen weitern Durchgang unternahm. Stets behielt ich dabei meinen Oxford Dictionary in Reichweite, ohne den mir zahlreiche Passagen sowohl des Originaltexts wie auch der Übersetzungen unverständlich geblieben wären.
Da ich nun noch einmal mit Wollschlägers deutschem Ulysses und einer revidierten Neuausgabe der englischen Textfassung zugang bin, stellt sich für mich auch wieder die Frage nach der weltliterarischen Bedeutung des Werks.
Ich kann beim aktuellen Nachlesen meine einstige Begeisterung und vorbehaltslose Bewunderung nicht mehr aufleben lassen, empfinde den Joyce’schen Sprachwitz und Zitationsfuror als forciert, oft als selbstgefällig und entsprechend unergiebig.
Die unüberschaubar gewordene einschlägige Sekundärliteratur mit ihren bisweilen ingeniösen Lesarten, Dechiffrierungen, Quellen- und Rezeptionsstudien vermag daran nichts zu ändern, zumal sie auf kritische Interventionen gegenüber dem quasisakralen Text weitgehend verzichtet und den Autor im Status eines unfehlbaren Grossmeisters belässt.
Doch nicht um meine persönlichen Lektüreeinstellungen und -erfahrungen geht es hier, vielmehr darum, wie ein derart komplexes Werk, das über weite Passagen nur mit Expertenwissen zu erschliessen ist, zu literarischem Allgemeingut, wenn nicht gar zu populärem Lesestoff hat werden können.
Auch wenn ich dazu neige, eben dies für einen einzigartigen Triumph künstlerischer (d.h. primär als Kunst intendierter) Literatur zu halten, bin ich diesbezüglich skeptisch geworden. Dass der Ulysses-Roman immer wieder nachgedruckt, unablässig kommentiert, in unterschiedlichste Sprachen übersetzt und tatsächlich auch erfolgreich vermarktet wird, mag in seiner „Bedeutung“ begründet sein, ist aber natürlich für eben diese Bedeutung keine Erklärung.
Ich würde in diesem Fall, ausgehend von der Rezeption des Ulysses und absehend von dessen künstlerischen Qualitäten, Bedeutung durch Wirkung ersetzen und also sagen, dass der anhaltende Nachruhm des Werks wie des Autors vorab mit dessen Aufnahme und Fortentwicklung durch andere Autoren, in andern Werken, auch in andern Künsten, letztlich auch in der Werbung und in der Unterhaltungsindustrie zu tun hat.
Denn nicht nur hat Joyce mit seinem Ulysses bei herausragenden Schriftstellern wie Beckett, Borges, Jahnn, Burgess, Rushdie oder Arno Schmidt und bei Komponisten (Boulez, Berio, Cage u.a.) grossen Widerhall gefunden, er ist auch von der internationalen Folk- und Rockszene vereinnahmt worden, vom Kabarett, vom Kino, in Comics usf. Diese intermediale Präsenz auf unterschiedlichen Ebenen der Hoch- und Alltagskultur dürfte ausschlaggebend gewesen und geblieben sein dafür, dass Ulysses, weit über den verhältnismässig engen Zirkel seiner kompetenten Leser und Interpreten hinaus, zu einem Referenzwerk geworden ist, das für Qualitäten wie „originell“, „witzig“, „dreist“, „frivol“, „provokant“, „gescheit“, „bekloppt“ usf. stehen kann, Qualitäten, die dem Roman auch von denen zuerkannt werden, die ihn weder gelesen noch verstanden haben.
Den stets minderheitlichen Experten steht die Mehrheit der Fans gegenüber, denen es keineswegs darum geht, dem Buch inhaltlich wie formal gerecht zu werden − was im Übrigen für jedes Buch Geltung hat, das wie Ulysses zum Kultbuch mutiert. Denn auf dieser Ebene geht es bloss noch darum, sich von ihm irgendwie involvieren und interessieren zu lassen, sei’s auch bloss bei einer Lesung in der Strassenbahn oder bei einer Strassenaktion zum Bloomsday − ein Wort, ein Name, ein Objekt, eine Szene aus dem Roman wird für solche Rezipienten Anlass genug sein für ein pauschales „Like“ zu Gunsten des Romans und des Autors.
Zumindest teilweise erklärt sich daraus das unverändert hohe Rating, das ihm als dem „bedeutendsten“ Erzählwerk der europäischen Moderne nach wie vor von Kennern und Laien gleichermassen zuerkannt wird. Zu bedenken bleibt aber auch, dass einzig ein „dunkler“ Text, der sich eindeutigem Verständnis entzieht, so zahlreiche und so unterschiedliche Lesarten zu eröffnen vermag, wie es beim Joyce’schen Ulysses offenkundig der Fall ist. − Man kommt mit dem Buch zu keinem Ende, aber was lässt sich nicht alles anfangen damit.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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