„Dieses Wort sagt ich“

Dieser Herr da, ja der mit dem Hut, der sich hier im Schaufenster spiegelt, der als diffuse Gestalt vor mir steht, in seinen Regenmantel gehüllt, Kragen hochgeschlagen, Gesicht verwischt − der soll ich sein?
E. M. Cioran evoziert diesen Augenschein in seinen Eingeständnissen und Verwünschungen, um sein prekäres Selbstgefühl demonstrativ zu vergegenwärtigen.
Selbstgefühl?
Das Gefühl … die Gefühle scheinen vom Selbst abgetrennt zu sein, es − das Subjekt − sieht auf sie hinab und in sie hinein, als umschwebten sie’s, als lägen sie irgendwo ausserhalb in der Luft: „Ich bin von all meinen Empfindungen geschieden. Ich kann’s nicht begreifen. Ich begreife nicht einmal, wer meine Empfindungen hat. Und wer ist im Übrigen dieses ich am Anfang der drei Sätze?“
Nicht nur Ciorans Eingeständnisse und Verwünschungen, auch seine Tagebücher (Hefte) und sein Denken insgesamt sind allerdings von seinem ungeliebten, angeblich unfruchtbaren Ich stark geprägt, das sich verhältnismässig konstant − über Jahrzehnte hin − in seiner tiefen Skepsis und Melancholie, seiner Aggressivität und Weltverachtung zu erkennen gibt, sich selbst freilich von massivem Tadel nicht ausnimmt.
Cioran mag sich weder als „ich“ noch als „ein anderer“ zu begreifen, er ist nach eigenem Bekunden nichts anderes als nichts. Die eingestandene Nichtigkeit des eigenen, durchaus befremdlichen Ich hindert den Autor nicht daran, immer wieder selbstgewiss über Gott und die Welt sich zu erheben, höchst subjektive Verdikte, Präferenzen, Forderungen auszusprechen.
„Meine Bücher, mein Werk … Der groteske Aspekt dieser Possessiva … Alles ist in Verderbnis geraten, seitdem die Literatur aufgehört hat, anonym zu sein“, schreibt Cioran anderweitig in den Eingeständnissen und Verwünschungen: „Der Niedergang geht zurück auf den ersten Autor.“ − Gemeint ist damit der erste Autor, der das Ich im Text durch seinen Eigennamen beglaubigt, sich mit ihm identifiziert und damit auch seine Werkherrschaft behauptet hat.
Obsolete Autorschaft! Obsoletes Selbstgefühl!
Denn wer Autorität und Position des Subjekts in Frage stellt, zieht das Bewusstsein generell und zieht auch die Sprache als Identitätsstiftung in Zweifel. Wer in Zweifel zieht, Kritik übt, in Abrede stellt, ist allerdings auf eine robuste Ichposition angewiesen, müsste eigentlich an sich selbst glauben, auf sich vertrauen können. Cioran verschränkt, der Logik wie der Psychologie widersprechend, das eine mit dem andern: Er beschwört (oder ironisiert gelegentlich auch) seinen menschlichen Unwert und beharrt gleichzeitig auf seiner selbstbestimmten Position als Aussenseiter, Besserwisser, Schmerzensmann, Weltverächter.
In subtilem Wortspiel hat Cioran einst von seinem „Ich“ als ce maudit moi gesprochen, mithin von „diesem verfluchten Ich“; doch der Wortlaut könnte auch homophon gelesen werden als ce mot dit moi, „dieses Wort, genannt Ich“ − das Ich wäre demnach eine bloss sprachliche Gegebenheit, wäre zumindest als Wort in seiner Integrität gerettet und stünde dem wirklichen, dem geworfenen, abgewrackten, sinnleeren und machtlosen Ich erhaben gegenüber. Was Cioran diesbezüglich bei Paul Valéry beobachtet und streng kritisiert hat, gilt letztlich auch für ihn selbst: Flucht vorm eigenen „verfluchten“ Ich in eine abstrakte, ein reine Ichheit ohne Realitätsbezug.
Das Ich nun denn als „universales Pronomen“, als „Benennung von diesem da, das keinen Bezug auf ein Gesicht hat“, das „ohne Namen und ohne Geschichte“ ist, etwas Fiktives, „bar jeden bestimmten Inhalts und ohne irgendeine Beziehung zum psychologischen Subjekt“, „dieses Ich, letzte Etappe der Klarsicht, abgeklärte Luzidität, die von jeder Komplizenschaft mit den Dingen oder Ereignissen gesäubert ist, bestimmt sich als absolutes Gegenteil des Selbst …“
Vielleicht waren Valéry und Cioran gleichermassen fasziniert von der Vorstellung einer Welt ohne Menschen, die unberührt bliebe von ebenso schäbigen wie verheerenden Egoismen; die nicht von macht- und besitzgierigen Ichsagern ausgepowert, sondern lediglich von einem abgehobenen, über den Dingen schwebenden Super-Ich, das man sich wohl als „Gott“ zu denken hätte.
Von einer solchen Welt hatte schon im 19. Jahrhundert die grosse russische Mathematikerin Sofja Kowalewskaja geträumt, die von Cioran zustimmend mit der Aussage zitiert wird: „Es gibt keine Worte, um die Süsse des Gefühls auszudrücken, dass eine ganze Welt existiert, von der das Ich vollständig abwesend ist.“ − Das ist, bei aller Zurückhaltung in der Wortwahl, die wohl radikalste, zugleich die sublimste Ausformulierung dessen, was der damals in Russland grassierende, zum gewalthaften Anarchismus tendierende Nihilismus als paradiesische Endlösung für alle Probleme hienieden im Sinn hatte.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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