Ein Jahr ohne Gedicht

Kein Tag ohne Zeile – diesen Anspruch, dieses Maximalprogramm kann ich vorerst noch problemlos erfüllen. Aber ein Jahr ohne Gedicht?
Kein Gedicht seit Jahresfrist!
Das ist mir nun, erstmals in meinem Literatenleben, tatsächlich passiert; oder es hat sich so ergeben. Oder hab ich’s einfach verpatzt, vielleicht vergessen? Die Lücke müsste mich nachdenklich machen, mich sogar beunruhigen.
Doch keine Spur davon. Es handelt sich ja nicht um eine Schreibblockade.
In der Zwischenzeit hab ich manch anderes abgefasst, ein paar grössere Essays, einen kleinen Roman und … aber indirekt doch auch ein Gedicht. Ich habe das Gedicht, so wie es vorliegt, zwar nicht geschrieben, und doch ist es, buchstaben- und wortgetreu, von mir.
Th. L., der Typograph, mit dem zusammen ich meine Privatdrucke herstelle, hatte die Idee, aus einem meiner publizierten Langgedichte (Fortschrift, 2016) in eigener Regie ein gutes Dutzend verstreuter Einzelverse zu einem „neuen“, von ihm selbst arrangierten Gedicht zu bündeln. − Fragt sich nun also: Ist das so entstandene, aus meinen Versen gefügte Gedicht sein Gedicht oder doch eher meins?
Die Autorschaft in diesem besonderen Fall zu klären und eindeutig zu bestimmen, ist gar nicht so einfach. Doch statt es nun gleich an dieser Stelle zu versuchen, führe ich erst einmal den Text an, der sich mir (obwohl all seine Versatzstücke punktgenau aus meiner Vorlage übernommen wurden) als Fremdtext präsentiert; hier ist er – ohne Kommentar: 

und Sehnot. Droht
bald für die Sonne. Straff und aber weich
ertappt. Unheimlich oder.
ist das was ist. Die Wellen
nur als Wurf. Gewinnt nur im Schwinden. Doch
sobald der Hunger seinen Hals vollkriegt. Als ob
zur Quelle. Jedes Wort in der dortigen Weisse
aus Stuck. Die ganze Zeit wäre nie
Schatten. Doch macht er klar
diskreditiert man sie als Zufallsresultat. Existatil?
was schön ist verjährt. Kommt
wird Lied. Bis gleich wieder das Rumpeln
als ihr Himmel oder ihre Nacht. Klar –
zum grössten Teil aus Leere. Und
ist nur zu raten. Zu fragen nicht.

Ja, genau so hab ich die Verse geschrieben, aber als Strophe, als Gedicht hätte ich sie sicherlich anders zusammengefügt. Syntaktische Brüche und daraus entstehende Lücken hätte ich ebenso vermeiden wollen wie, auf formaler Ebene, den spannungslosen Zeilenfall. In einem Text mit freien Versen würde ich die Länge der einzelnen Zeilen bewusst so bemessen, dass sich insgesamt eine unregelmässige offene Optik ergäbe. Aufeinander folgende Verse von gleicher oder ähnlicher Länge würde ich deshalb nicht zulassen, ich würde vielmehr darauf achten, Zeilen von klar unterschiedlicher Länge so aufzureihen, dass daraus für den Augenschein eine möglichst spannungsreiche Abfolge entsteht. Die Druckgestalt des Gedichts − jedes Gedichts − erzeugt vom Text ein ungegenständliches Bild, gleichsam ein optisches Echo, das der Lektüre vorangeht, sie einspurt. Dieses Erscheinungsbild − also nur einfach das, was Schwarz auf Weiss dasteht und visuell wahrzunehmen ist − versuche ich genau so streng zu komponieren wie die Klang- und Bedeutungselemente, die sich zum Gedicht fügen sollen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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